Borderline Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.
Borderline
In der Nähe des Mulholland Drive, auf dem Weg zum Haus meines Vaters in Beverly Hills, steht ein Cottage. Im Gegensatz zu den vielen Villen, die diese sagenumwobene Durchgangsstraße säumen, ist dieses Haus klein und alt. Auf dem Weg zu Dad bremste ich immer ab, um einen Blick auf die kleine alte Dame zu erhaschen, die sich fast immer draußen um den Rosengarten kümmerte. Sie war selten allein. Meist saß ein alter Mann, bei dem ich davon ausging, dass es ihr Ehemann war, in einem Gartenstuhl in der Nähe und beobachtete sie beim Arbeiten, während er etwas las. Eine Tasse Kaffee balancierte auf einem Stapel Bücher in der Wiese neben seinem Stuhl. »Irgendwann werde ich dieses Haus kaufen«, murmelte ich.
Mehrere Monate später saß ich in einem Büro am San Vincente Boulevard. Die Nachmittagssonne hatte gerade begonnen, hinter dem Horizont zu verschwinden, und wenn ich meinen Kopf im genau richtigen Winkel neigte, konnte ich gerade so das Meer durchs Fenster sehen. »Sie wechseln schon wieder das Thema, Patric«, sagte Dr. Carlin. Dank der nachdrücklichen Forderung meines Vaters hatte ich endlich eine Therapie begonnen. Dr. Carlin war mir als Psychologin sehr empfohlen worden. Nachdem ich ihr von meiner Geschichte und meinen Erfahrungen mit der Apathie und dem destruktiven Verhalten erzählt hatte, ging sie auch davon aus, dass ich unter der soziopathischen Persönlichkeitsstörung litt. Also fragte sie mich, ob sie die Psychopathie-Checkliste, den PCL-Test an mir durchführen dürfte.
Ich spähte aus dem Fenster. »Weil Ihre Themen so nervig sind«, sagte ich. »Ich glaube, das wäre eine gute Idee«, beharrte sie sanft. Ich ließ meinen Blick in den Himmel und meine Gedanken wieder zu dem Cottage schweifen. Wir saßen eine Weile schweigend da, bevor ich mich ihr zuwandte. »Ich verstehe es nur nicht«, sagte ich kopfschüttelnd. »Warum wollen Sie mir einen PCL verpassen? Ich bin keine Psychopathin.« »Aus diagnostischer Sicht würde ich Ihnen zustimmen«, erwiderte Dr. Carlin und verlagerte ihr Gewicht auf ihrem Stuhl. »Aber auch wenn der PCL als Test für Psychopathie erstellt wurde, so nutzen doch viele in der Forschung ihn auch für die Soziopathie – ohne Zulassung, sozusagen.« Sie fügte noch hinzu: »Es gibt keine offizielle eigene Diagnose für die Soziopathie.«
»Okay«, sagte ich vorsichtig. »Wie läuft das dann ab?« »Na ja, auch wenn es sich letztlich um die gleiche Störung handelt, so glauben doch viele Ärzte – und ich eben auch –, dass die Soziopathie eine mildere Form der Psychopathie sei. Der maximal zu erreichende Score beim PCL ist vierzig, und Psychopathie ist bei dreißig oder höher indiziert«, erklärte die Therapeutin. »Aber die Soziopathie zeigt sich wohl meist bei zweiundzwanzig oder darüber.« »›Wohl meist‹?«
»Na ja, noch mal, der Test ist eigentlich für die Einschätzung der Psychopathie gedacht. Und es gibt viele Diskussionen darüber, wie man jene diagnostiziert, die am unteren Ende oder direkt unterhalb der Psychopathiegrenze abschneiden.« »Welchen Score erreichen denn normale Menschen?«, frage ich weiter. »Das hängt davon ab«, sagte Dr. Carlin. »Aber man ist sich ziemlich einig darüber: bei ungefähr vier.«
Mir blieb der Mund offen stehen. »VIER?« Ich lehnte mich in meinem Stuhl nach hinten. »Damit ich das richtig verstehe. Als Psychopathin würde ich einen Score von dreißig oder darüber erreichen, aber als ›normale‹ Person nur eine Vier?« Dr. Carlins Augen weiteten sich ein wenig, was mich zum Lachen brachte. »Es tut mir leid«, fuhr ich fort. »Das ist doch verrückt. Sie wollen mir weismachen, dass es keine klinische Diagnose für die Menschen gibt, die zwischen vier und dreißig liegen? Was passiert mit jemandem, der eine Fünfzehn erreicht? Oder eine Einundzwanzig? Sie wollen damit sagen, dass der PCL absolut gar nichts über diese Leute aussagt?« »Na ja, wie ich bereits sagte, wir glauben, dass Soziopathen zwischen zweiundzwanzig und neunundzwanzig landen«, stellte die Therapeutin klar. »Und fairerweise würde wohl eine ›normale‹ Person niemals den PCL machen müssen. Der ist für Straftäter gedacht, denn Vorstrafen sind eine Voraussetzung.« »Wieso können Sie dann den Test an mir durchführen?«, fragte ich.
Dr. Carlin erklärte es mir: »Weil ich den PCL:SV nutzen werde. Der ist ähnlich, ist aber für ein therapeutisches Setting gedacht.« »Es gibt also zwei verschiedene Versionen des gleichen Tests?«, fragte ich. »Eine für Kriminelle und eine für alle anderen?« Dr. Carlin nickte. »Beide nutzen dieselben Kriterien. Sie suchen nach Symptomen in vier Kategorien: zwischenmenschlicher Stil, mangelndes emotionales Erleben, impulsives sowie antisoziales Verhalten. Der einzige Unterschied ist, dass der PCL:SV keine Vorstrafen benötigt, er also bei jeder oder jedem angewendet werden kann.«
»Halleluja«, murmelte ich. »Warum ist das alles so kompliziert?« Ich schüttelte den Kopf. »Und wo liegt der Sinn in diesen Tests, wenn man Soziopathen doch o ziell gar nicht diagnostizieren kann?« »Was meinen Sie damit?« »Es gibt keine Behandlungsmöglichkeiten für Soziopathen, richtig?« »Momentan noch nicht, nein.« Ich warf die Hände nach oben. »Was sollen Soziopathen also mit dieser Diagnose anfangen? Sie rauchen?« Die Therapeutin rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. »Na ja, psychopathische und soziopathische Diagnosen werden primär von Ärzten benutzt«, sie hielt kurz inne, »um die Neigung hin zur Kriminalität zu beurteilen.« Ich lachte. »Mit anderen Worten: Dieser Test wird nur dafür genutzt, um herauszufinden, ob jemand vielleicht mal ein Verbrechen verüben könnte?« »Mehr oder weniger.«
»Dann lassen Sie mich uns beiden doch etwas Zeit sparen, weil ich Ihnen eins verraten kann: Meine ›Neigung hin zur Kriminalität‹ liegt bei starken einhundert Prozent.« Dr. Carlin sagte schlicht: »Dann lassen Sie uns das doch mal herausfinden.«
Das Interview für den PCL:SV war kräftezehrend. Ich saß meiner Therapeutin stundenlang gegenüber, und wir sprachen über alles Mögliche, von meinen kriminellen Impulsen über meine Schlafgewohnheiten bis hin zu meiner sexuellen Vergangenheit. Danach musste ich eine ganze Woche auf die Ergebnisse warten – bis zu unserem nächsten Termin. Am darauffolgenden Dienstag war ich zu früh dran für unsere Session. »Wie habe ich abgeschnitten?«, platzte es aus mir heraus. Dr. Carlin schloss die Tür und setzte sich in Ruhe auf ihren Platz. »Na ja«, erwiderte sie. »Ich dachte mir, wir reden erst einmal über den Test an sich. Sie wirkten ziemlich müde danach. Wie war die Erfahrung für Sie?« »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst«, antwortete ich. »Was hat der Test verraten?« Statt darauf zu antworten, stellte sie eine Gegenfrage: »Warum ist Ihnen das so wichtig?« Ich neigte den Kopf nach vorn. »Warum die Ergebnisse des Tests, die meine soziopathische Diagnose bestätigen werden, mir so wichtig sind?«, fragte ich ungläubig. »Ja.«
Ich atmete aus. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich, während ich das erste Mal darüber nachdachte. »Ich glaube, es wäre einfach schön, endlich eine Antwort darauf zu haben. Zumindest glaube ich, dass es einfacher wäre, wenn ich den Menschen schlicht erklären könnte, dass ich eine Soziopathin bin. Dann gäbe es weniger Verwirrung, da bin ich mir sicher.« Dr. Carlin war fasziniert. »Sie würden anderen Menschen von Ihrer Diagnose erzählen? Warum?« Ich zuckte mit den Schultern. »Weil ich dann nicht mehr die ganze Zeit so tun müsste, als sei ich ›normal‹. Menschen merken schon einiges. Das haben sie, seit ich klein bin. Ich glaube, wenn ich gleich von Anfang an ehrlich darüber bin, dann erspart mir das später einige Fragen. Es würde definitiv mein Leben erleichtern, da bin ich mir sicher.«
»Das klingt seltsam, dass Sie sich Gedanken über die Meinungen anderer machen«, stellte Dr. Carlin fest. »Das ist ja das Ding«, sagte ich zu ihr. »Ich mache mir keine Gedanken. Habe ich mir nie. Das ist für mich eher wie ein Selbsterhaltungstrieb. Das Bedürfnis, im Verborgenen zu bleiben, sodass niemand herausfindet, was für eine Art Mensch ich bin, sollte nur meinem destruktiven Verhalten dienen, damit ich nicht auffliegen würde. Aber jetzt mache ich mir keine Sorgen mehr, dass ich auffliegen könnte. Ich bin, wer ich bin. Das habe ich inzwischen akzeptiert.« Ich hielt inne und fügte hinzu: »Das habe ich zumindest versucht.« Dr. Carlin sah positiv überrascht aus. »Hmmm.«
Ich verlor langsam die Geduld. »Großartig«, sagte ich. »Jetzt, wo wir das geklärt haben, können wir ja endlich über das Ergebnis reden, oder?« Die Therapeutin hielt in widerwilliger Zustimmung die Hände nach oben. »Okay«, sagte sie mit einem Blick auf ihre Notizen. »Wie Sie sich vielleicht noch erinnern, deckt der Test vier Kategorien ab. Ihre Scores indizieren in allen vieren eine überdurchschnittliche Spanne an psychopathischen Symptomen.« Dr. Carlin runzelte die Stirn. »Es ist jedoch interessant, dass Ihr zwischenmenschlicher Stil nicht durchgängig mit den PCL-Kriterien übereinstimmt.«
In Anbetracht meines verdatterten Gesichtsausdrucks erklärte Dr. Carlin: »Laut dem PCL legen alle Psychopathen und Soziopathen eine bestimmte Art der sozialen Aggression an den Tag. Ich beschreibe das immer gern als Aufdringlicher-Verkäufer-Symptom. Da spielt offenkundige Arroganz und Feindseligkeit eine große Rolle.« Sie fuhr fort: »Damit etablieren Soziopathen primär ihre soziale Dominanz. So stellen sie ihre Kontrolle sicher.« »Und Sie wollen mir sagen, ich bin nicht so?«, hakte ich nach. »Doch, sind Sie, aber sie etablieren Ihre Dominanz eher über Manipulation und Charme. Was Sinn ergibt, weil Sie eine Frau sind. Denn eine Soziopathin nutzt nicht unbedingt dieselben zwischenmenschlichen Techniken wie ein Soziopath. Das ist tatsächlich eins meiner Probleme mit dem PCL. Ich habe das Gefühl, darin herrscht noch eine Menge Gender Bias.« »Was heißt das aber jetzt für mich?«
»Das heißt, dass Sie vor allem in diesem zwischenmenschlichen Stil den niedrigsten Score für sich verbuchen können, relativ gesehen«, erwiderte sie. »Dennoch ist er erhöht. Tatsächlich zeigt sich überall ein erhöhter Wert. Wie ich mir vorher schon gedacht hatte, ist keiner der Scores so hoch, dass man Sie in der extrem psychopathischen Rubrik einordnen würde, aber sie deuten definitiv auf eine soziopathische Persönlichkeitsstörung hin.« Im ersten Augenblick sagte ich gar nichts, schaute nur wieder durchs Fenster nach draußen. Auf der anderen Seite des San Vincente lag ein Park. Einige Menschen liefen gerade durch den Eingang und gingen entspannt über den Rasen spazieren. Ein Yogakurs oder eine Exkursion oder so etwas Ähnliches. Sie waren ein gutes Dutzend. »Einer von fünfundzwanzig«, grübelte ich vor mich hin.
»Patric, reden Sie mit mir«, sagte Dr. Carlin. Ich drehte mich wieder zu ihr um und tippte mit dem Finger gegen das Fensterglas. »Wussten Sie das?«, fragte ich. »Ungefähr einer von fünfundzwanzig Menschen ist ein Soziopath. Das besagt zumindest die Forschung.« Ich betrachtete wieder die Menschen im Park. »Glauben Sie also, da ist noch ein weiterer Soziopath in dem Park oder bin ich in dieser Stichprobe allein?« Ich musterte Dr. Carlin, die eine Augenbraue nach oben gezogen hatte. »Ich meine das ernst«, sagte ich. Sie dachte kurz darüber nach und antwortete: »Das wirkt auf mich, als würden Sie sich fragen, ob Sie allein seien.« Sie hielt inne. »Wie fühlt sich das für Sie an?«
Ich schaute nach unten, schüttelte langsam den Kopf, während ich über meine Antwort nachdachte. »Es fühlt sich wie etwas an, was ich kenne«, erwiderte ich schließlich. »Nicht wie etwas, was ich fühle.« »Und ist das Ihre normale Reaktion?«, bohrte sie weiter. »Wenn Sie so über Ihre Beziehung zu anderen nachdenken?« Ich zuckte mit den Schultern. »Joah.« Sie zog die Stirn in Falten, als sie wieder einen Blick auf ihre Notizen warf. »Was ist mit dem Typen in Florida. Sie meinten, Sie hätten Gefühle für ihn entwickelt?« »David?«, fragte ich erstaunt. »Ja, ich liebe David. Oder eher: liebte ihn.« Ich biss mir auf die Lippe. »Ich weiß es nicht wirklich.« »Wie meinen Sie das?«
Ich dachte darüber nach. »Na ja, es wirkt jetzt irgendwie albern. Wir waren zusammen, da war ich vierzehn. Und seither habe ich nie wieder etwas Ähnliches bei jemand anderem gefühlt? Das klingt unglaubwürdig. Ich habe schon ein paar Mal gedacht, dass ich mir das vielleicht alles nur eingebildet habe.« Ich schüttelte traurig den Kopf. »Als hätte ich … unbedingt Liebe fühlen wollen, aber konnte es eigentlich gar nicht.« Dr. Carlin nickte bedächtig. »Und was macht das mit Ihnen?« »Es macht mich traurig«, sagte ich und dachte über meine Exfreunde nach. Der fünfzehnte Eintrag auf Cleckleys Checkliste fiel mir ein: »Sexualverhalten eher unpersönlich, belanglos und schlecht integriert.« »Aber das würde schon Sinn ergeben, oder?«, fuhr ich fort. »Ich kann nicht gut Verbindungen zu anderen aufbauen, oder zu mir selbst. Ich bin eine Soziopathin.« Ich hielt kurz inne, hörte mir selbst bei dieser Aussage zu. Sie klang jetzt irgendwie anders.
»Stimmt«, sagte Dr. Carlin und schaute mir in die Augen. »Aber wissen Sie, was ich daran so interessant finde?« Ich schüttelte den Kopf. Sie legte ihre Notizen zur Seite und lehnte sich nach vorn. »Trotz all dieser Schwierigkeiten, die Sie haben, mit anderen Verbindungen einzugehen, war doch Ihr erster Impuls, nachdem ich Ihnen Ihre Diagnose offenbart hatte, der Blick nach draußen, auf der Suche nach jemand wie Ihnen.« Sie ließ ihre Worte kurz sacken. »Warum glauben Sie, ist das so?« Ich schaute wieder aus dem Fenster. Inzwischen hatte die Gruppe Menschen den Park durchquert und war nicht mehr zu sehen. Ich war enttäuscht, dass sie aus meinem Sichtfeld verschwunden waren. »Ich weiß es nicht«, sagte ich leise. »Ich glaube, es wäre schön, jemanden wie mich kennenzulernen. Nicht erklären zu müssen, warum ich etwas fühle oder eben nicht. Meine Handlungen nicht andauernd rechtfertigen zu müssen oder nicht eine emotionale Sprache sprechen zu müssen, die ich nicht verstehe. Ich glaube, es wäre schön, mich mit jemand anderem einfach normal fühlen zu können. Ich kann das nicht erklären. Ich habe das Gefühl, dass ich, wenn ich jemanden wie mich treffen würde, ich …« Meine Stimme wurde immer leiser. »Ich weiß es nicht.« »Nein«, drängelte mich Dr. Carlin sanft. »Beenden Sie den Satz. Was wäre dann?« »Hoffnung«, sagte ich entnervt. »Dann würde ich Hoffnung verspüren. Auch wenn das keinen Sinn ergibt.«
Dr. Carlin lehnte sich nach hinten. »Da bin ich anderer Meinung. Ich finde, das ergibt eine ganze Menge Sinn. Das heißt, Sie suchen nach jemandem, mit dem Sie sich identifizieren können. Und das ist gut. Aufgrund Ihrer Neugier auf andere Soziopathen und Ihre Bereitschaft, Ihre eigenen Erfahrungen zu teilen, würde ich sogar sagen, dass da eine ganze Menge Hoffnung für Sie ist.« Unwillkürlich schnaubte ich auf, wandte mich vom Fenster weg und grinste sie sarkastisch an. »Hoffnung auf was? Einen soziopathischen Freund?« Ich rollte mit den Augen. »Ich Glückliche!« »Sie suchen aber nicht nach einem Freund«, erwiderte sie. »Was suche ich denn dann bitte?« Dr. Carlin lehnte den Kopf zur Seite, mit einem leichten, aber selbstbewussten Lächeln auf den Lippen. »Empathie«, sagte sie.
Die Beobachtungen meiner Therapeutin, dass ich eine empathiesuchende Soziopathin war, waren aufschlussreich, wenn auch nicht gänzlich überraschend. Denn ich war auf viele Arten wie das verlorene Entlein aus P. D. Eastmans Kinderbuch Are You My Mother?, nur dass ich eben kein mutiges gutherziges kleines Vöglein mit Identitätsproblemen auf der Suche nach seiner Mutter war, sondern eine antisoziale Außenseiterin mit begrenzter Gefühlspalette und einem Hang zum Lügen auf der Suche nach einem Freund oder einer Freundin. Trotz meiner Diagnose war ich nicht näher an einer Erklärung dran, warum ich so war, wie ich war.
Es war jedoch nicht so, dass ich viel Zeit hatte, um darüber nachzudenken, denn nach einer kurzen Post-Abschluss-Verschnaufpause nahm ich das Angebot meines Vaters an und begann meinen Job in seinem neuen Unternehmen. Da ich wirklich absolut alles über das Musikmanagement lernen wollte, folgte ich ihm und mehreren seiner Mitarbeiter die ersten paar Monate dort wie eine Klette. Die Musikindustrie war, wie ich schnell begriff, ein Makrokosmos der Taschenspielertricks, für den ich nicht hätte besser geschaffen sein können. Abgelenkt von der Anziehungskraft der Musik und der sorgsam gezauberten geheimnisvollen Aura der Künstler achteten nur wenige auf die Figuren im Schatten hinter der Bühne. Jedoch fand genau dort die eigentliche Magie statt. Die dunkle Magie. Von Bestechungsgeldern in Hinterzimmern und nebentätigen A&R-Scouts bis hin zu zwielichtigen Produzentenverträgen und doppelt abkassierenden Managementfirmen war das Musikgeschäft »ein grausamer und flacher Geldgraben, ein langer Plastikgang, in dem Diebe und Zuhälter frei herumlaufen«. Letzteres dachte zumindest anscheinend Hunter S. Thompson. Dem konnte ich wirklich nicht widersprechen.
Mein psychologischer Horizont erweiterte sich ab dem Augenblick, in dem ich als Talentmanagerin begann. Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr wie die einzige Soziopathin der Welt. Es war nicht nur so, dass die meisten Menschen, denen ich begegnete, meinen Persönlichkeitstypus akzeptierten, sondern viele schienen ihn auch für sich zu vereinnahmen. Tatsächlich war ich wirklich geschockt über die Anzahl an Menschen, auf die ich in der Unterhaltungsindustrie traf und die, nachdem sie von meiner Diagnose erfahren hatten, mir eine ähnliche Disposition ihrerseits gestanden.
»Ah, ich bin auch voll der Soziopath«, sagte der Musikproduzent Nathan zu mir, nachdem wir uns gerade erst kennengelernt hatten. »Mich juckt alles einfach mal ’nen Scheißdreck.« Ein einziger Blick in seinen Produzentenvertrag suggerierte aber, dass dies nicht ganz der Fall war. Nathan schien es dann schon sehr zu jucken, wenn es um seine Tantiemen ging – so sehr, dass alle Künstler, die bei seiner Produktionsfirma gezeichnet waren, fast ihr gesamtes kreatives Eigentum an ihn abtreten mussten. »Aber das erklärt wahrscheinlich, warum ich so gut in dem bin, was ich mache. Ich mache gern schlimme Dinge«, fügte er mit einem durchtriebenen Grinsen hinzu. »Ich bin gern ein Soziopath.«
Vor meinem Eintritt in die Musikindustrie hatte ich immer meine Probleme damit gehabt, Menschen zu finden, die mich als Person so annahmen, wie ich war – geschweige denn solche, die jemals zugegeben hätten, dass sie einen ähnlichen Persönlichkeitstypus hätten. Jetzt aber war ich von ihnen umgeben! Das hatte einen hypnotisierenden (und anfangs auch blendenden) Effekt. Ich war so begeistert von der Aussicht auf Gleichgesinnte, dass ich mir keinerlei Gedanken über die Glaubwürdigkeit der soziopathischen Selbstdiagnosen meiner sogenannten Mitstreiter machte. Ich schlürfte wie eine verdurstende Reisende jeden einzelnen Tropfen weg. Zumindest am Anfang. Bis ich Jennifer traf.
Jennifer war die Managerin eines Plattenlabels und sollte sich um die Veröffentlichung des zweiten Albums eines der lukrativsten Klienten meines Vaters kümmern. Weil Dad sicherstellen wollte, dass diese neue Platte wirklich erfolgreich werden würde, regte er ein Treffen zwischen uns an. »Die Welt des Rocks ist ganz anders als die des Pops«, erklärte sie mir eines Abends. Ich arbeitete zu dem Zeitpunkt seit einem Jahr als Managerin und wir tranken ein paar Drinks im Casa Vega, meinem Lieblingsmexikaner im Valley. »Da musste echt tough sein, um hier zu überleben«, fügte sie hinzu. »Vor allem als Frau.« Ich lächelte und nutzte die Einleitung, die sie unwissentlich abgeliefert hatte.
»Na ja, das passt perfekt, denn ich bin eine Soziopathin.« Sie grinste, dachte, ich hätte einen Witz gemacht, aber hörte dann genauer hin, als ich ihr eine Kurzzusammenfassung meines Lebens und meiner Diagnose gab. »Wow«, sagte sie, als ich fertig war. »Das ist großartig.« Sie senkte ihre Stimme und lehnte sich verschwörerisch zu mir. »Um ehrlich zu sein, habe ich mich immer irgendwie gefragt, ob ich eine Soziopathin bin.« »Aha«, erwiderte ich. Das hatte ich in letzter Zeit sehr oft gehört. »Nee, aber weißt du, was ich meine?«, drängte Jennifer. »So Kram, der andere zum Heulen bringt, lässt mich völlig kalt. Wie so True-Crime-Kram. Ich bin da besessen von!« Sie schaute sich
erneut um. »Und ich habe schon voll oft fantasiert, wie es wäre, andere umzubringen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Na ja, das ist … Wenn man jemanden umbringen will, macht einen das nicht gleich zum Soziopathen. Das ist so eine Art Irrglaube. Soziopathie wird tatsächlich voll stark missverstanden …« »Nee, aber weißt du, was ich meine?«, unterbrach mich Jennifer. »Ich liebe so düsteren Kram, Vampire und so.« Sie lächelte. »Das ist sicher auch der Grund, weshalb ich im Marketing für Rockbands arbeiten wollte!« Ich fing an, meine Strategie zu überdenken, meinen Persönlichkeitstypus zu enthüllen. Aber ich hatte kaum Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn plötzlich legte sie eine Hand auf meinen Unterarm. »Ich versteh dich, meine Liebe«, sagte sie und nickte. Ich warf einen Blick auf Jennifers Hand und mir fiel eine Bandage um ihren kleinen Finger auf. »Was ist denn da passiert?«, fragte ich, froh über den Themenwechsel. Jennifer zog die Hand zurück. »Ooooooh«, sagte sie. »Ich habe so eine Pit-Bull-Hündin gerettet. Die ist echt super süß, aber letzten Monat hat sie einen Kampf mit meinem anderen Hund angefangen. Als ich die beiden trennen wollte, hat sie meinen Finger abgebissen.« Ich verschluckte mich bei diesem grausigen Eingeständnis an meinem Cocktail. Ich musste husten und nahm einen großen Schluck. »Das tut mir leid«, sagte ich. »Sie hat deinen Finger abgebissen?« Jennifer nickte. »Joah. Meine Nachbarin musste mich zur Notaufnahme fahren. Zum Glück konnte man ihn dort wieder annähen.« Sie lächelte. »Hast du auch Hundis?« Ich war sprachlos. »Ähm, nee, ich habe keine – warte mal einen Augenblick«, sagte ich, während ich um meine Fassung rang. »Was ist mit … deinem anderen Hund passiert?« Jennifer zog eine Grimasse. »Ja, na ja, das ist ein laufendes Problem. Lady ist nur bei anderen Hunden aggressiv, ich muss sie also die ganze Zeit getrennt halten.« Sie hielt inne, um beim Kellner mit einem Handzeichen ein weiteres Getränk zu bestellen. »Hundis sind die besten. Vor allem seit ich geschieden bin. Wusstest du, dass ich geschieden bin?«
Ich schüttelte den Kopf, was Jennifer nicht aufzufallen schien. »Ich war zehn Jahre lang verheiratet und geblieben ist mir davon nur mein beschissenes kleines Haus im Valley. Beim nächsten Mal will ich jemanden, der sich mal um mich sorgt, verstehst du? Wie ein reicher Typ oder so.« Jennifer exte den Rest ihrer Margarita. »Genau das habe ich jetzt – einen reichen Typen. Der heißt Joel und er ist so reich.« Sie riss die Augen auf. »Der kennt auch andere reiche Typen, weißte? Wir könnten dich verkuppeln und dann könnten wir zu viert um die Häuser ziehen!«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht wirklich …« »Er hat diese riesige Hütte in den Flats in Beverly Hills«, unterbrach sie mich sehnsüchtig. »Ich hab’ das Gefühl, ähm, als müsste ich da auch leben, weißte, was ich meine?« Ihr Gesichtsausdruck verdunkelte sich kurz, während sie ins Leere starrte, dann fügte sie hinzu: »Ich habe das verdient.«
Ich war verwirrt. Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, spiegelte ich ihr Verhalten. Ich setzte meinen sympathisierendsten Gesichtsausdruck auf und legte die Hand gegen ihren Unterarm, darauf bedacht, ihren wieder angenähten Finger nicht zu berühren. »Ich verstehe dich, meine Liebe«, sagte ich. Aber ich verstand sie nicht. Und je mehr ich sie kennenlernte, desto verwirrter wurde ich. Wie bei so vielen anderen selbstdiagnostizierten »Beichten«, die ich in der Unterhaltungsindustrie zu hören bekommen hatte, ergab Jennifers Mutmaßung, sie sei eine Soziopathin, fast einen Sinn. Sie beschwerte sich regelmäßig über ein Gefühl der »Leere«. Sie war oft impulsiv und ihr Verhalten war wie meins oft destruktiver Natur. Sie war zudem hochgradig unsensibel anderen Menschen gegenüber, übertrat entweder ungestraft oder gleichgültig deren Grenzen. Aber hier, wie ich schnell feststellte, hörten unsere Gemeinsamkeiten auch schon wieder auf.
Während ich unter einem Mangel an Gefühlen litt, schien Jennifer hingegen ein Übermaß davon zu besitzen. So hatte sie beispielsweise fürchterliche Stimmungsschwankungen. Sie wechselte dann ohne ersichtlichen Grund von völliger Euphorie zu einer Unruhe. Sie war zudem schnell furchtbar gereizt und hatte nur eine begrenzte Selbstkontrolle, stürmte also oft aus Meetings oder schrie Mitarbeiter an, wenn sie ihren Willen nicht bekam. Aber der größte Unterschied zu mir war wohl, dass Jennifer hochgradig launisch und unberechenbar wirkte. Das war vor allem bei ihren Liebesbeziehungen der Fall. Selbst die kleinste gefühlte Ablehnung beförderte sie in einen Nervenzusammenbruch kognitiver Dissonanz.
»Sie klingt nach einer Borderlinerin«, vermutete Dr. Carlin. Ich war für unsere wöchentliche Sitzung in der Praxis meiner Therapeutin. Weil mich Jennifers Persönlichkeitstyp (und dessen Ähnlichkeiten zu meinem) neugierig gemacht hatten, hatte ich um ihre Meinung gebeten. »Die Borderline-Persönlichkeitsstörung wird oft mit der Soziopathie verwechselt«, erklärte sie mir. »Viele der diagnostischen Verhaltensweisen ähneln sich, zumindest bei dem, was man beobachten kann. Instabile Beziehungen, Impulsivität, Selbstdestruktivität, generell gefühlte Leere, Wut, Feindseligkeit – viele dieser Charakterzüge überlappen sich. Ähnlich wie beim Narzissmus, tatsächlich.« »Aber warum ist das so, wenn wir gleichzeitig so unterschiedlich sind?«, fragte ich. »Weil das jeweilige Verhalten von verschiedenen Sachen motiviert ist. Borderliner handeln aufgrund eines Übermaßes an Gefühlen, Soziopathen aufgrund eines Defizits dessen … Das hat alles mit Bindungen zu tun«, fügte sie nach einer Pause hinzu. »Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sehnen sich nach Liebe. Deswegen tendieren sie zu einer Hyperemotionalität. Sie tun alles Erdenkliche, um keine Zuneigung zu verlieren, selbst wenn das bedeutet, dass sie Grenzen ignorieren oder sich destruktiv verhalten müssen. Sie interessieren sich nicht für Bedürfnisse oder Gefühle anderer, sondern nur für die eigenen Bedürfnisse, die eigenen Gefühle. Andere Menschen werden als Selbstobjekte wahrgenommen. In anderen Worten: Borderliner sehen andere nicht als separate Individuen, sondern als Erweiterung ihrer selbst. Ihre Wahrnehmung der Welt ist daher rein egozentrisch und eindimensional.
Soziopathen wiederum werden nicht durch Bindungen motiviert«, fuhr Dr. Carlin fort. »Wenn überhaupt wird ihre Weltansicht von einem Mangel an Bindungen geprägt. Dennoch ist diese Weltansicht ähnlich egozentrisch und eindimensional. Deshalb verwechselt man das auch so gern.«
Je mehr ich mich mit dem Ganzen befasste, desto mehr musste ich Dr. Carlin zustimmen. Jennifer war mir oberflächlich betrachtet sehr ähnlich. Ihre Gefühle – wenn auch deutlich bombastischer als meine – waren recht begrenzt. Sie wirkte unfähig zu jeglicher Empathie oder Scham, sie war regelmäßig unehrlich, ihr Verhalten schien zwischen den Extremen Gut und Böse zu schwanken und ihre Beziehungen zu anderen waren nicht symbiotischer Natur, sondern basierten auf Eigeninteresse.
Warum also war ich nicht erleichtert? In Anbetracht meiner psychologischen Isolation sollte ich doch happy darüber sein, jemand ansatzweise Ähnlichen gefunden zu haben, wenn auch unsere jeweiligen Diagnosen andere waren. Immerhin war Jennifer eindeutig glücklich darüber, dass wir uns kennengelernt hatten. Sie schrieb mir ein paar Tage nach unserem ersten Treffen im Casa Vega: »Ich bin so froh, dass wir uns kennen. Ich habe das Gefühl, du bist mein Seelenzwilling!«
Aber das beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Ich verachtete Jennifer. Ihre übermäßigen Gefühle waren mir unangenehm. Während mein Wahnsinn Methode hatte, wirkte sie völlig irre auf mich. Ihr stürmisches Verhalten wurde nur vom jeweiligen eigennützigen Sinneseindruck gelenkt, der gerade mal seine hässliche Fratze zeigte. Sie erinnert mich an Syd, dachte ich angewidert. Als hätten Soziopathen nicht eh schon einen schlechten Ruf, gibt es auch noch Leute wie Jennifer, die alles nur noch schlimmer machen.
Jennifer war keine Soziopathin. Sie war etwas Schlimmeres. Eine Fälschung. Ein Schaf im Wolfspelz. Es machte mich wütend, und je mehr ich darüber nachdachte, desto wütender wurde ich. Irgendwann dachte ich die ganze Zeit an sie, und nicht nur flüchtig, sondern in Form spezifischer Gewaltfantasien mit ihr in der Hauptrolle. Und das gefiel mir. Es war fast schon beruhigend, einen Fixpunkt zu haben, auf den ich mich konzentrieren konnte.
Auch wenn ich dank meiner Medikamente seit Jahren keinen Anstieg des »Drucks« mehr verspürt hatte, so war ich doch immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, wieder etwas zu fühlen. Als Managerin zu arbeiten, zu versuchen, »gut« zu sein, zur Therapie zu gehen, mich sogar mit »Freunden und Freundinnen« auf das ein oder andere Getränk zu treffen – all diese Punkte waren oberflächlich betrachtet normal, waren gesund, zumindest theoretisch. Allerdings war die Realität meiner Situation nach wie vor dieselbe: Völlig egal, was im Außen passierte, mein Inneres stand immer vor dem Risiko der Stagnation. Zum Glück musste ich mir, seit ich Jennifer kannte, darüber keine Sorgen mehr machen. Mein Hass auf sie half mir nicht nur dabei, meine Apathie in Schach zu halten, sondern auch mein Verhalten.
»Patric!«, rief Jennifer. »Ich muss mit dir reden!« Es war der Morgen der Veröffentlichung des Albums, ein Monat nach unserem ersten Treffen im Casa Vega, und ich war gerade bei dem Radiosender angekommen, mit dem sie ein Liveinterview mit der Band organisiert hatte. Ich sackte in mich zusammen, als ich sie beim Aussteigen aus dem Auto auf dem Parkplatz warten sah. Uff, dachte ich. Sie sah aufgeregt und derangiert aus. »Warum hast du mich nie zurückgerufen?«, fragte Jennifer hektisch, während sie nach Luft schnappend über den Parkplatz trabte. »Es ist etwas wirklich Schlimmes passiert und ich muss mit dir reden.« Ich schüttelte den Kopf. »Keine Chance«, erwiderte ich schnippisch. »Das Interview fängt in zehn Minuten an.« »Du verstehst nicht. Es ist wichtig!« Jennifer legte ihre Hand auf meinen Arm und zog mich behutsam zu sich. »Du kennst doch meine Hündin Lady?« Ich seufzte ungeduldig und sah den Frontsänger die Lobby des Senders betreten. »Ist das dein Ernst? Ich kann mir jetzt keine Hundegeschichte anhören.« »Sie hat den Hund meiner Nachbarin getötet!« Ich war schockiert. »Was?« »Du weißt doch, dass ich sie von meinem anderen Hund fernhalten muss, ja? Also hab ich sie in letzter Zeit im Garten hinten gehalten. Na ja, meine Nachbarn halten ihren Hund in ihrem Garten. Jedenfalls hat sich Lady unter dem Zaun durchgebuddelt, dann hat sie sich den anderen Hund schnappen können und hat ihn umgebracht! Ich hab’ das alles gesehen.«
Jetzt war es an mir, ihren Arm zu ergreifen. Jennifers Ellbogen gab ein zufriedenstellendes Knacksen von sich, als ich sie aus dem Sichtfeld meiner Klienten zog. »Du hast deiner Hündin dabei zugesehen, wie sie sich unter dem Zaun durchgebuddelt, einen anderen Hund angegriffen und dann getötet hat?«, fragte ich eindringlich nach. Sie nickte. »Warum?«, fragte ich weiter. »Warum hast du sie nicht aufgehalten? Warum hast du nichts unternommen?« Als Antwort hielt sie schwach ihren frisch wieder angebrachten Finger nach oben.
»Alter, du verarschst mich doch«, erwiderte ich schnippisch, wirklich angewidert. »Was hat deine Nachbarin gesagt?« »Das ist ja das Ding«, antwortete Jennifer mit wachsender Panik in der Stimme. »Nachdem Lady, na ja, du weißt schon, fertig war, hab ich Panik geschoben. Ich wusste, ich musste den Leichnam verstecken, also hab ich ihn auf die Straße getragen und dort liegen gelassen. Dann denken sie, es war ihr Fehler, dass sie ausgebüxt ist, weißte? Dann glauben sie, der und wurde von einem Auto überfahren?« »Was?!«, rief ich aus. »Was ist verdammt noch mal los mit dir?« »Ich hatte keine Wahl!«, schrie Jennifer auf und fing an zu weinen. »Sie hat mich doch beim letzten Mal ins Krankenhaus gefahren. Sie weiß, dass Lady aggressiv ist! Wenn sie das rausfindet, dann wird sie wollen, dass ich sie einschläfern lasse!«
»Herrgott«, sagte ich, als ich die Verbindung herstellte. »Das ist dieselbe Nachbarin, die dich zur Notaufnahme gefahren hat? Was ist verdammt noch mal los mit dir?«, fragte ich erneut. »Habe ich dir doch gesagt«, beharrte Jennifer. »Ich bin eine Soziopathin!« »Du bist keine Soziopathin«, erwiderte ich wütend. »Du bist eine verdammte Idiotin.«
Sie schluchzte und ihr Geheule zog die Aufmerksamkeit anderer Menschen auf dem Parkplatz auf uns. »Oh Gott, was ist, wenn ich erwischt werde?« Sie stöhnte wieder auf. »Ich fühle mich sooooo schlecht«, sprudelte es aus ihr zwischen all den Tränen heraus. Sie griff nach meinen Handgelenken und flehte mich an: »Patric! Du musst mir helfen! Du musst mir sagen, was ich tun soll!« Ich entriss mich ihrem Griff. »Du willst meinen Rat?«, zischte ich. »Geh nach Hause. Mach dich frisch, zieh dich um und bring dich wieder unter Kontrolle. Ich mach das verdammte Interview ohne dich.« Das schien sie aus ihrer Hysterie zu holen. »Ja«, sagte sie schnaufend. »Du hast recht. Ich sollte tief Luft holen und lieb zu mir sein.« Sie atmete übertrieben ein und aus, um dann zu sagen: »Aber nach Hause gehe ich nicht.« »Warum nicht?«, fragte ich und bereute es sofort. »Der Typ, mit dem ich mich gerade immer treffe, Joel«, erwiderte sie. »Ich werde einfach zu ihm gehen. Ich habe ein wenig Shopping-Therapie verdient nach dieser Woche.«
Ich widerstand aktiv dem Impuls, ihr meine Schlüssel ins Fleisch zu rammen. Meine Fingernägel waren lang und bohrten sich in meine Handflächen. »Gut«, sagte ich monoton. »Es ist mir egal. Reiß dich einfach zusammen.« Ich drehte mich in Richtung Sender, aber Jennifer war noch nicht fertig. »Patric? Darf ich dich was fragen?« Tränen und Hysterie waren jetzt weg. Ich wirbelte herum. »Was?« »Joel hat mir eins seiner Autos zum Fahren gegeben. Das ist echt geil, ist ein Porsche. Aber er hat mir nicht seine Kreditkarte gegeben oder so. Ich hab irgendwie das Gefühl, das ist arschig.« Sie hielt inne. »Das ist arschig, oder?«, fragte sie wieder. »Wir treffen uns immerhin jetzt seit geraumer Zeit und ich bin andauernd bei ihm zu Hause. Ich hab irgendwie das Gefühl, er hätte mir seine Karte zum Shoppen anbieten sollen.«
Ich würdigte einen Moment lang meinen Hass in all seiner Pracht. »Voll«, sagte ich dann und ging zum Sender. Ich kam gerade rechtzeitig für das Interview. Nachdem ich die Band in der DJ-Kabine zurückgelassen hatte, nahm ich in der Zuhörerlounge Platz. Zum Glück war außer mir niemand in dem Raum und, während ich in die Leere starrte, spürte ich die Apathie hochsteigen. Ich war selig. Lange hielt dieser Zustand jedoch nicht an, irgendwas störte mich, irgendein Unbehagen. Ich schaute nach unten, blickte auf meine Hände. Meine Handflächen bluteten.
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