Historisches

Seit einiger Zeit gibt es einen Trend in der Entwicklungspsychologie, der auch unter Psychoanalytikern zunehmend Beachtung findet: die direkte Säuglings- und Kleinkindbeobachtung. Für das Interesse der Psychoanalyse an diesem Gebiet gibt es gute Gründe. Einer davon ist, daß sich die Psychoanalyse schon immer für die Kindheit interessiert und ihr eine überragende Bedeutung zuerkannt hat. Psychoanalyse ist essentiell Entwicklungspsychologie, und es gibt kaum eine psychoanalytische Teiltheorie (Neurosenlehre, Theorie der Technik usw.), die nicht zumindest implizit entwicklungspsychologische Annahmen enthält.


Die genetische Betrachtungsweise, die seelische Erscheinungen unter dem Blickwinkel ihres Gewordenseins und ihrer späteren Transformationen im Lebenslauf betrachtet (Abrams 1977), wurde zwar erst von Rapaport und Gill (1959) in den metapsychologischen Korpus der psychoanalytischen Theorie aufgenommen; dennoch ist klar, daß auch Freud den genetischen Gesichtspunkt als für die Psychoanalyse wesentlich und unverzichtbar ansah. Er war stolz darauf, daß die Psychoanalyse als erste Psychologie mit der alten Weisheit, daß das Kind der Vater des Mannes sei, Ernst gemacht hat (Freud 1913 b, S. 411f.).


Konsequenterweise verfügt die Psychoanalyse über eine reiche entwicklungspsychologische Tradition, auch und gerade was die direkte Beobachtung von Säuglingen und Kleinkindern
angeht (Überblick bei Berna-Simons 1982; Tyson 1989). Diese war schon ziemlich früh, wenn auch nicht unumstritten, gewissermaßen das dritte Standbein der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, neben der Kinderanalyse und den Rekonstruktionen aus Erwachsenenanalysen. Besondere Hervorhebung verdient Bernfelds große Monographie über die
»Psychologie des Säuglings« (1925). Obwohl Bernfeld selbst keine kleinen Kinder beobachtet hat, hat er in einem wahrhaft enzyklopädischen Versuch das gesamte damalige Wissen über die Säuglings- und Kleinkindentwicklung gesammelt und mit psychoanalytischen Hypothesen zu diesem Thema verglichen.


In diesem Sinne ist er der Urvater einer systematischen psychoanalytischen Beschäftigung mit dem Säugling. Ab Anfang der 40er Jahre haben dann – auch mit eigenen Untersuchungen – Margaret Fries, René Spitz, Margaret Mahler, Ernst Kris u.a. das Feld der Direktbeobachtung bearbeitet, und
in Gestalt des viel zuwenig bekannten Peter Wolff (1959, 1966) verfügt die Psychoanalyse über einen großen Pionier der Beobachtung von Neugeborenen aus der Zeit, als der »Boom«
begann (Anfang der 60er Jahre).


Auf den »Schultern dieser Riesen« können die heutigen psychoanalytischen Säuglingsforscher aufbauen. Ein Vermächtnis dieser Tradition besteht darin, daß die Trennung zwischen psychoanalytischer und akademischer Entwicklungspsychologie nicht ganz so groß und der Grabennicht ganz so tief ist wie auf anderen Gebieten, z.B. der Gedächtnis- oder der Wahrnehmungspsychologie. Dadurch ist ein Minimum an interdisziplinärer Dialogfähigkeit geschaffen und bewahrt worden, das sich in Zukunft als ein Pfund erweisen wird, mit dem die Psychoanalyse kräftig wuchern kann – wenn sie will, und sie sollte wollen (s.a. Leichtman 1990).