Historisches Braucht die Psychoanalyse eine direktbeobachtende Entwicklungspsychologie?
Eine neue Sicht des Säuglings
Trotz dieser beeindruckenden Tradition ist der Säugling in der psychoanalytischen Theorie bis in die jüngste Zeit hinein nicht gut genug verstanden worden. Überwiegend wurde von ihm das Bild eines passiven, undifferenzierten und seinen Trieben ausgelieferten Wesens gezeichnet, das in einem langen und dramatischen Kampf die Schrecken dieser Zeit der Hilflosigkeit und Abhängigkeit bewältigen muß. Obwohl diese Sichtweise
ihre Berechtigung hat, ist sie einseitig und gibt einen Teil der Säuglingserfahrung als ihr Ganzes aus.
Deshalb ist es angebracht, einen neuen Blick auf den Säugling zu werfen. Das
Ergebnis dieses Perspektivenwechsels ist eine veränderte Sicht der ersten 1 / Lebensjahre mit beträchtlichen Konsequenzen für die psychoanalytische Theorie.
Der Säugling erscheint nun als aktiv, differenziert und beziehungsfähig, als Wesen mit Fähigkeiten und Gefühlen, die weit über das hinausgehen, was die Psychoanalyse bis vor kurzem für möglich und wichtig gehalten hat.
Als Kurzcharakterisierung für diese neue Sicht hat sich die Rede vom »kompetenten Säugling« (Stone et al. 1973)
eingebürgert. In ihr kommt die Überzeugung zum Ausdruck, daß der Säugling nicht in einer »blooming buzzing confusion« (William James) lebt, sondern daß er, vermöge seiner noch zu schildernden Fähigkeiten, die Welt und sich selbst von Anfang an eher als geordnet denn als Chaos empfindet.
Ab Anfang der 80er Jahre haben Psychoanalytiker mit einer systematischen Rezeption dieser Ergebnisse begonnen (Emde/Robinson 1979; Sander 1980; Dowling 1981; Lichtenberg 1981, 1982, 1983; Esman 1983).
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