Historisches Braucht die Psychoanalyse eine direktbeobachtende Entwicklungspsychologie?
Rekonstruktion versus Direktbeobachtung
Warum hat die psychoanalytische Theorie so lange am Bild des passiven, hilflosen und undifferenzierten Säuglings festgehalten? Dafür gibt es verschiedene Gründe.
Eine Besonderheit der entwicklungspsychologischen Dimension vieler psychoanalytischer Begriffe ist es, daß sie vorwiegend auf rekonstruktivem Wege gewonnen wurden. Freud hat nach Begründung der Psychoanalyse keine kleinen Kinder mehr beobachtet, jedenfalls nicht systematisch, sondern eher zufällig. [*] Die prominenteste seiner Kinderbeobachtungen findet sich in »Jenseits des Lustprinzips« (Freud 1920 b), wo er das Garnrollenspiel seines
eineinhalbjährigen Neffen Ernst schildert, mit dessen Hilfe dieser das Verlassenwerden durch die Mutter bewältigt. Dieser Neffe hat übrigens später selbst einige bedeutende Beiträge zur psychoanalytischen Säuglingsforschung geleistet (W. E. Freud 1967, 1971, 1975).
In erster Linie hat Freud jedoch erwachsene Patienten behandelt und in ihren und seinen eigenen Assoziationen,
Träumen und Symptomen Spuren kindlicher Sexualwünsche entdeckt. Die Entdeckung der infantilen Sexualität war im wesentlichen ein Resultat seiner Selbstanalyse, auch wenn eingeräumt werden muß, daß die Sexualforschung seiner Zeit sich dieses Themas ebenfalls annahm und Freud, was die Entdeckung der infantilen Sexualität angeht, nicht ganz so einsam dastand, wie die psychoanalytische Geschichtsschreibung behauptet (Sulloway 1979).
Die Aufdeckung infantiler Wünsche durch die Analyse von Symptomen, Träumen und Assoziationen gerät indessen an eine Grenze, wenn man die ersten 1 / Lebensjahre zum Gegenstand der Aufmerksamkeit macht. Diese präverbale und präsymbolische Zeit ist auf der Couch über den Prozeß der verbalen Assoziation und symbolischen Kommunikation nur beschränkt zugänglich.
»Ein nicht unbeträchtlicher Teil psychoanalytischer Theoreme bezieht sich auf einen Zeitraum, auf den die
psychoanalytische Methode der freien Assoziation nicht angewendet werden kann, da es noch keine verbale
Kommunikation gibt und Erinnerungen an die präverbale Zeit nicht auftauchen oder unzuverlässig sind« (Spitz 1950, S. 66f.; s.a. Hartmann, 1950, S. 109). [*]
Die relative Unzugänglichkeit der ersten 1 / Lebensjahre gegenüber rekonstruktiven Bemühungen war ein Grund für die Einbeziehung von Direktbeobachtungsmethoden und ein Grund für Freud, seinen Schülern und Freunden dazu zu raten (Freud 1909 a, S. 13f.).
Trotz dieser Einbeziehung, besonders deutlich bei Spitz und Mahler, haben diese Theoretiker, so wertvoll ihre Beiträge waren, im wesentlichen die Sicht des passiven, undifferenzierten Säuglings beibehalten. Spitz (1955, 1965 a) spricht von einer Phase der Nicht-Differenziertheit des Säuglings und bezweifelt, daß der Säugling in den ersten drei Monaten zu bedeutsamen visuellen Sinneswahrnehmungen fähig ist. Er behauptet, die Distanzwahrnehmung beginne erst mit drei Monaten. Vor dieser Zeit sei der Säugling hauptsächlich mit der Wahrnehmung innerer Zustände beschäftigt. Das affektive Spektrum beschränke sich auf die Erfahrung von Unlust und Ruhe, später Unlust und Lust.
Mahler (1974) und Mahler et al. (1975) bezeichnen das Neugeborene als autistisch, ab vier bis sechs Wochen als
symbiotisch. Es könne innere von äußeren Reizen nicht unterscheiden, interessiere sich auch zunächst nicht für
äußere, verfüge über keine getrennte Wahrnehmung von sich und seiner Mutter u.ä.m.
Die Analyse von Mahlers Theorie des ersten Lebenshalbjahres, die ich im dritten Kapitel vornehme, zeigt, daß solche Beschreibungen weniger aus genauer Beobachtung des Säuglings resultieren, sondern eher Schlußfolgerungen sind, die aus der psychoanalytischen Theorie, insbesondere der Metapsychologie, extrapoliert werden. Die Theorie der Reizschranke, der halluzinatorischen Wunscherfüllung, des Lust-Unlust-Prinzips und des primären Narzißmus etwa sind die Hauptinformationsquellen, die festlegen, wie die Wahrnehmungs- und Erlebniswelt des Säuglings diesen Theorien zufolge beschaffen sein muß. Thomä/Kächele (1985, S. 48) haben das als »theoretikomorphen Mythos« bezeichnet. Der Säugling ist so, wie die Theorie über ihn es vorschreibt. Mahler et al. (1975, S. 57) haben übrigens eingeräumt, die ersten fünf Monate weniger beobachtet als erschlossen zu haben.
Was Spitz angeht, so kann man zu seinen Gunsten geltend machen, daß zu seiner Zeit das differenzierte
Beobachtungsinstrumentarium unserer Tage noch nicht zur Verfügung stand und sein Hauptwerk (1965 a) publiziert wurde, als die Säuglingsforschung gerade begann. Auch bei ihm ist aber eine Neigung unverkennbar, der Theorie widersprechende Beobachtungsdaten mit Hilfe metapsychologischer oder semantischer Bemühungen zu
neutralisieren, wie seine Diskussion der Untersuchungen von Fantz über die visuelle Wahrnehmung von Neugeborenen, die damals (1961) revolutionär waren, zeigt (s. Spitz 1965 a, S. 75ff.).
Zusammenfassend kann man festhalten, daß die Schwerzugänglichkeit der Säuglingserfahrung auf rekonstruktivem Weg, die Voreingenommenheit durch metapsychologische Konstrukte und die unzureichenden
Beobachtungsmethoden wesentliche Gründe für das Festhalten am traditionellen Bild des Säuglings waren.
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