Historisches Braucht die Psychoanalyse eine direktbeobachtende Entwicklungs-psychologie?
Probleme einer rekonstruktiven Entwicklungspsychologie
Die schon angedeutete Besonderheit eines Teils psychoanalytisch-entwicklungspsychologischer Aussagen – ihre rekonstruktive, vom Erwachsenenalter auf die Kindheit schlußfolgernde Vorgehensweise – verdient besondere Beachtung. Eine ihrer großen Chancen ist, daß so die Entwicklungspsychologie für die klinische Arbeit mit Erwachsenen fruchtbar gemacht werden kann. Sie birgt aber auch Gefahren. Peterfreund (1978) hat mit Nachdruck auf einige aufmerksam gemacht.
Neben dem schon erwähnten theoretikomorphen Mythos nennt er als zentrale Probleme der rekonstruktiven Methode den Adultomorphismus und den Pathomorphismus. Adultomorphismus meint, daß der Säugling in Kategorien
des Erwachsenen beschrieben wird. So etwa, wenn gesagt wird, er habe eine undifferenzierte Wahrnehmung. Die hat er vielleicht im Vergleich zum Erwachsenen, aber es darf bezweifelt werden, ob man der Realität der Säuglingswahrnehmung gerecht wird, wenn man sie an Erwachsenenmaßstäben mißt. Genauere Untersuchungen haben neuerdings eine erstaunliche Präzision der Wahrnehmungsfähigkeit des Säuglings nachgewiesen (s. Kap. 2).
Der adultomorphe Mythos birgt weiter die Gefahr, die Phantasien älterer Kinder oder die von Erwachsenen zurückzuprojizieren und zu behaupten, so oder so ähnlich seien die Phantasien kleiner und kleinster Kinder. Die Vorstellung einer infantilen Omnipotenz und einer halluzinatorischen Wunscherfüllung bei Säuglingen ist ein typisches Produkt des Adultomorphismus (s. Kap. 8).
Theoretikomorpher und adultomorpher Mythos gehen oft Hand in Hand mit einem dritten, dem pathomorphen Mythos. Der normale Säugling wird dabei in Begriffen aus der Erwachsenenpathologie beschrieben, etwa wenn man die erste normale Entwicklungsphase des Säuglings autistisch nennt. Als Vorbild dient hier der erwachsene Autist. Er schließt sich von
seiner Reizumwelt ab. Beim Neugeborenen soll es wegen der Reizschranke genauso sein. Also spricht man von einer Phase des normalen Autismus.
Mit gleichem Recht könnte man folgende Behauptung aufstellen: Die Motorik des Erwachsenen mit einer cerebralen Paralyse ist unsicher. Die Motorik des Säuglings in einer bestimmten Entwicklungsphase auch. Deshalb bezeichnen wir diese Phase als die »normal cerebralparalytische Entwicklungsphase« des Kleinkindes (Mi. Klein 1981, S. 73). Diese nur wenig übertriebene Analogie macht deutlich, wie beliebig und unergiebig ein solches Verfahren ist.
Impressum