Das rekonstruierte und das reale Kind

Die Bemühungen um Integration oder zumindest  wechselseitige Befruchtung beider Disziplinen sind unter Psychoanalytikern nicht überall auf Zustimmung gestoßen. Es ist geltend gemacht worden, daß die psychoanalytische Entwicklungspsychologie nicht darstellt, wie die Kindheitsentwicklung tatsächlich verläuft, sondern nur die Berichte und Erzählungen von Patienten über ihre Kindheit wiedergibt. Nicht wie es damals wirklich gewesen ist, sondern wie das damals Gewesene dem Patienten heute erscheint – mit allen Erinnerungstäuschungen, Verzerrungen und Lücken – ist der eigentliche Gegenstand der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, die also eine »transformierte Entwicklungspsychologie« ist (Herzog 1986, S. 381). Als solche ist sie eine Sammlung subjektiv wahrer Geschichten, und eine Überprüfung oder Objektivierung ihres Wahrheitsgehalts ist entbehrlich.


Psychoanalytische Entwicklungspsychologie ist, so könnte man pointiert sagen, keine Theorie, die entwicklungspsychologisch richtige Aussagen anstrebt, sondern eine Mythologie oder, wie ein Vertreter dieser Richtung es ausdrückt, eine »Theorie der Kindheit als konstruierter Mythen« (Tress 1985, S. 407). Das reale und das rekonstruierte Kind fallen damit vollständig auseinander. Einzig mit dem rekonstruierten Kind soll es die Psychoanalyse zu tun haben.


Sie kann dann keinesfalls »aufgrund ihrer Erfahrungen aus Behandlungen Erwachsener den rechtmäßigen Anspruch erheben, sie habe überprüfbare Befunde zur kindlichen Entwicklung vorzuweisen« (Tress 1987, S. 144). Das will sie auch gar nicht, und das ist auch kein Nachteil, sondern ein Vorteil, denn dadurch werden die Berichte der Patienten über ihre Kindheitserlebnisse in ihrer psychischen Realität erst richtig ernst genommen und nicht mit einer möglicherweise davon abweichenden tatsächlichen Realität äußerlich verglichen oder konfrontiert. Eine solche Konfrontation ist entbehrlich, weil die Wahrheit einer Rekonstruktion nicht in ihrer Übereinstimmung mit vergangenen, vielleicht gar nicht mehr erinnerbaren oder sonstwie zugänglichen Tatsachen
besteht, sondern darin, daß sie zu klinischer Besserung führt.


Deutung und Rekonstruktion [*] sind wahr, wenn sie therapeutisch effektiv sind, und mehr sollte von ihnen nicht verlangt werden. Gelegentlich wird hinzugefügt, daß auch noch andere Kriterien relevant sind, z.B. Konsistenz, Kohärenz und Ästhetik einer Deutung, und zur Abwehr des Suggestionsvorwurfs wird auf die intersubjektive (konsensuelle) Validierungsmöglichkeit von Deutungen verwiesen (Loch 1976; Spence 1982; Schafer 1983, Kap. 11–15).


Aber zentral bleibt die Auffassung, daß es keine relevante Hinsicht geben kann, in der eine Deutung falsch ist, wenn sie, vom Patienten angeeignet, diesem ein kreatives und symptomfreies Leben ermöglicht (Tress 1985, S. 392). Ja, man kann sogar sagen, daß die Deutung erst den Sinn und die
Realität schafft, auf die sie sich dann bezieht (Loch/Jappe 1974).


Deutung und Rekonstruktion/Konstruktion stellen eine Verbindung von gegenwärtigen Assoziationen und Symptomen mit Erlebnissen oder Ereignissen der Vergangenheit her, die subjektiv sinnvoll ist, ohne daß damit der Anspruch erhoben würde, einen kausal wirksamen Zusammenhang zwischen
beiden gefunden zu haben. Retrospektiv sind alle möglichen Zusammenhänge sinnvoll, ohne daß der hergestellte Zusammenhang einen damals vorhandenen kausalen oder realen Zusammenhang der jetzt miteinander verknüpften Elemente abbilden muß. Ein imaginärer Direktbeobachter der
Vergangenheit würde eventuell zu ganz anderen Ergebnissen hinsichtlich der krankheitsrelevanten Ursachen gelangen als der Rekonstrukteur. »Indem wir unsere Übertragungsdeutungen formulieren, konstruieren wir die genetische Geschichte, aber wir rekonstruieren nicht die Entwicklungsgeschichte im engeren Sinn« (Loch 1976, S. 886).


Deshalb ist es für diese Konzeption »von nachgeordneter Bedeutung« ob der »entwicklungspsychologische Entwurf der Psychoanalyse von der empirischen Entwicklungspsychologie bestätigt wird oder nicht …« (Tress 1986 b, S. 126). Die Empfehlung, psychoanalytische Konzepte sollten »nicht gegen unser sonstiges Wissen vom Menschen und der Welt verstoßen« und die Psychoanalyse sei deshalb »gehalten, sich mit den übrigen Disziplinen abzustimmen« (Tress 1987, S. 145), ist begrüßenswert, aber aus der Logik dieser Argumentation
meines Erachtens nicht mehr recht begründbar.


Die geschilderte Auffassung, von der es viele Nuancen gibt, hat durchaus ihre Stärken und ich bin beeindruckt von der intellektuellen Brillanz ihrer Vertreter. Sie hat aber auch Schwächen. Eine ihrer entscheidendsten ist die, daß die psychoanalytische Entwicklungspsychologie damit vollständig
»klinifiziert« wird. Ihre Aussagen werden nur noch an ihrer klinischen Nützlichkeit gemessen, nicht aber an ihrer inhaltlichen Richtigkeit, wobei unterstellt, aber nicht bewiesen wird, daß Nützlichkeit und entwicklungspsychologische Richtigkeit vollständig auseinanderfallen können. Dies bedeutet, daß die psychoanalytische Entwicklungspsychologie auf die Geltendmachung eines entwicklungspsychologischen Wahrheitsanspruchs verzichtet, daß sie also keine entwicklungspsychologisch richtigen Aussagen mehr machen will, sondern nur noch klinisch nützliche. 


Die Konsequenz ist, daß die Psychoanalyse konkurrierende entwicklungspsychologische Theorien gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen muß und daß auch über die diversen, miteinander konkurrierenden psychoanalytischen Entwicklungspsychologien nicht mehr entschieden werden
kann. Sofern sie alle therapeutisch effektiv sind, sind sie alle wahr.


Ich kann mich dieser partiellen Selbstkastration der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie nicht anschließen. Sie hätte beträchtliche – wie ich glaube fatale – wissenschaftspolitische Konsequenzen, weil sie die Psychoanalyse von den Nachbardisziplinen weiter isolieren würde, statt den dringend notwendigen Dialog mit ihnen zu fördern. Fast habe ich den Verdacht, solche Auffassungen gedeihen hauptsächlich in den Köpfen von männlichen Erwachsenenanalytikern, die aus vielfältigen Gründen den Kontakt mit dem realen Kind scheuen und sich statt dessen lieber mit dem rekonstruierten Kind beschäftigen (A. Freud 1970, S. 2560; Wallerstein 1976, S. 204f.).


Würde man tatsächlich die Reichweite der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie auf rekonstruktiv gewonnene Aussagen einschränken, so wüßte man beschämend wenig über die frühe Kindheit, weil auf der Couch über den Prozeß der verbalen Assoziation die präverbale Zeit nur sehr eingeschränkt zugänglich ist. Aus der Analyse erwachsener Patienten könnte man nicht einmal so einfache, aber auch für die Psychoanalyse wichtige Fragen beantworten wie die, ob und was der Säugling sieht, riecht, hört, schmeckt, fühlt und empfindet, sondern nur schildern, was Patienten glauben, was sie als Säuglinge gesehen, gefühlt und erlebt haben. Auch das ist sicher wichtig, aber als alleinige oder Hauptinformationsquelle unzureichend. Auch Freud (1909 b, S. 293) war der Auffassung, es sei nicht der ideale Zustand, wenn die psychoanalytische Kinderforschung sich von den bei Erwachsenen gewonnenen Erfahrungen beherrschen lasse. Das nur rekonstruierte Kind wäre ein »mythisches Kind, das wir in jeder Sitzung unbekümmert um die lebensgeschichtliche Spur, die es geprägt hat, erschaffen – also eine Illusion eines Kindes, das, je nachdem, wie der Wind des Zufalls in der Kur weht, durch eine andere Illusion ersetzt werden kann« (Cramer 1984, S. 175).



Im Grunde wird ein Plädoyer für eine rein rekonstruktiv verfahrende psychoanalytische Entwicklungspsychologie auch deren Realität nicht gerecht. Keine ihrer großen Vertreter (Spitz, Mahler, Bowlby, Anna Freud, Winnicott, Klein) verfährt rein rekonstruktiv, sondern alle benützen, wenn auch in unterschiedlichem Maße, direkte Beobachtung an kleinen Kindern; und alle – auch die Kleinianer (z.B. Segal 1982, S. 206) – erheben mit ihren Formulierungen implizit oder explizit den Anspruch, zutreffende Aussagen über die tatsächliche kindliche Erlebniswelt und Entwicklung zu machen und nicht nur Berichte von Erwachsenen über ihre Kindheit – wenn auch in theoretisch abstrahierter Form – nachzuerzählen.



Es mag sein, daß es sich bei diesen Nacherzählungen um kreative Mythen oder Fiktionen über die Ursprünge menschlichen Lebens und Leidens handelt; daß auch der Mythos Wahrheiten birgt, soll gar nicht bestritten werden. Aber niemals sollte ausschließlich auf solche Mythen eine Theorie der kindlichen Entwicklung aufgebaut werden (s. Rubinfine 1981, S. 394). Eine solche Theorie ist indessen unerläßlich für die Psychoanalyse als Wissenschaft, auch wenn sie vielleicht entbehrlich ist für die Psychoanalyse als Behandlungsmethode.



[*] Als Wissenschaft und psychologische Theorie jedoch sollte sie sich keinesfalls auf das beschränken, was durch Verwendung der psychoanalytischen Methode zugänglich ist (s. Hartmann 1950; Eagle 1984 a, Kap. 14). Kernberg widerspricht mit Recht der unter Psychoanalytikern weitverbreiteten »Neigung, Einwände gegen Beobachtungen geltend zu machen, die aus anderen als dem traditionellen psychoanalytischen Setting stammen«. Er bekräftigt, »daß  äuglingsbeobachtungen Daten liefern, die genauso akzeptabel sind wie jene, die von der Couch stammen« (zit. nach Lester 1982, S. 210f.). Stoller (1985, S. 7) geht sogar noch einen Schritt weiter: »Obwohl die Analyse der Übertragung eine feine Datenquelle dafür ist, wie der Patient die Kindheit erlebte, sollte man das nicht mit dem verwechseln, was tatsächlich passierte. Um letzterem näherzukommen, müssen wir auch herausfinden, was die Eltern getan und gefühlt haben. Für mich ist die genaue und kontrollierte Beobachtung von Kindern ein großer Fortschritt, der die Psychoanalyse in Richtung auf die Wissenschaft, die sie zu sein beansprucht, voranbringen kann.«

Fußnoten

[*] Diese Begriffe sind zwar nicht deckungsgleich (s. Freud 1937 b, S. 398), aber eine genauere Differenzierung ist hier entbehrlich.
[*] In Kap. 10 werde ich zeigen, daß auch die klinische Psychoanalyse von einer Einbeziehung der Ergebnisse der Säuglingsforschung profitieren kann.