Das Präferenzparadigma

Man kann einen drei Monate alten Säugling nicht fragen, ob er einen Unterschied zwischen zwei Gesichtern sieht. Aber man kann folgendes Experiment machen: Man zeigt ihm nebeneinander zwei verschiedene Gesichter und mißt die Zeitdauer der visuellen Fixierung. Dabei stellt sich heraus, daß der Säugling eines der beiden Gesichter länger anblickt als das andere. Er zeigt eine visuelle Präferenz für eines der beiden Gesichter, beispielsweise für das seiner Mutter.

 

Daraus kann man schließen, daß er einen Unterschied zwischen beiden Gesichtern wahrnimmt, denn sonst müßte die Fixierungsdauer für beide Gesichter ungefähr gleich sein. Die Antwort des Säuglings – abgelesen an seinem visuellen Verhalten – lautet also: Ja, ich sehe einen Unterschied!


Dieser Typus von Experiment hat weite Verbreitung gefunden. Man nennt ihn das Präferenzparadigma. Im obigen Beispiel wurde eine spezifische Variante dieses Paradigmas geschildert, das sogenannte paarweise Präferenzparadigma. In ihm werden zwei Reize gleichzeitig präsentiert, und der Säugling kann dann wählen. Ein Beispiel für ein einfaches Präferenzparadigma ist folgendes: Man präsentiert einen Reiz und mißt die Fixierungsdauer. Nach einer angemessenen Pause präsentiert man einen zweiten Reiz und mißt ebenfalls die Fixierungsdauer. Signifikant unterschiedliche Fixierungszeiten sind Indikatoren für unterschiedliche Präferenzen und zeigen eine differenzierte Wahrnehmungsaktivität und Wahrnehmungsfähigkeit an. Dabei sollte sich der Säugling bei beiden Durchgängen in etwa dem gleichen Zustand von Wachheit, Aufmerksamkeit und Sättigung befinden.

 

Mit Hilfe solcher und ähnlicher Experimente hat man eine ganze Menge über die Sehfähigkeit von Säuglingen herausgefunden.


Das Präferenzparadigma ist nicht ohne Probleme. Unterschiedliche Fixierungszeiten sollen ein Maß der Präferenzbekundung sein. In den verschiedenen Studien werden aber oft verschiedene Maße für die Fixierungsdauer gewählt. Die eine Studie wertet die Länge des ersten Blicks, die andere die Zahl der in einem bestimmten Zeitraum erfolgten Fixierungen. Dadurch kommt es gelegentlich zu widersprüchlichen Befunden (Sherrod 1981)

Etwas Ähnliches gilt für Hörpräferenzen. Verschiedene »respondente Maße« sind im Gebrauch: die differentielle Veränderung evozierter Potentiale je nach Ton, die verschieden ausgeprägten Orientierungsreaktionen, wie Kopf- oder Augenwende nach der Schallquelle usw. Jede Methode hat ihre eigenen Vor- und Nachteile (Diskussion bei Aslin et al. 1983), und es muß immer darauf geachtet werden, daß die Ergebnisse hinsichtlich der verwendeten Antwortmaße vergleichbar sind.


Ein zweites Problem ist grundsätzlicher: Die Bekundung einer Präferenz besagt noch nicht viel darüber, wie der Säugling den wahrgenommenen Unterschied erlebt und was er ihm bedeutet. Damit zusammen hängt ein drittes Problem: Wenn der Säugling im Experiment keine Präferenz bekundet, geht man davon aus, daß er keinen Unterschied bemerkt. Aber diese Schlußfolgerung ist problematisch, denn es könnte ja sein, daß er zwar einen Unterschied wahrnimmt, ihm aber keine Bedeutung zumißt.

 

Hierzu eine Analogie: Ein Erwachsener geht durch den Wald und bemerkt sehr wohl den Unterschied zwischen den verschiedenen Bäumen, schaut aber keinen Baum länger an als einen anderen, weil er daran z.B. gar nicht interessiert ist oder aber ganz andere Sorgen hat. Aus der Nichtbekundung einer Präferenz läßt sich nicht mit Sicherheit schließen, daß kein Unterschied wahrgenommen wird, und in der Tat kann man auch experimentell demonstrieren, daß Säuglinge Unterschiede bemerken, ohne notwendigerweise eine Präferenz zu bekunden (Bower 1977, S. 10f.; Kagan 1984 a, S. 37ff.). 

 

Das ist jedoch kein gravierender Mangel, weil dadurch die Wahrnehmungsfähigkeit des Säuglings nur unterschätzt, nicht überschätzt werden kann. Man kann deshalb sagen, daß sie mindestens so gut ist, wie in Präferenzexperimenten festgestellt, möglicherweise aber noch besser.