Visuelle Wahrnehmung Der kompetente Säugling: Untersuchungsergebnisse
Visuelle Wahrnehmung
Neugeborene folgen einem sich bewegenden Objekt in ihrem Gesichtsfeld mit den Augen. Maximale Sehschärfe besteht auf eine Distanz von 20 cm. Diese Entfernung wird von Eltern intuitiv eingenommen, wenn sie Blickkontakt mit ihrem Neugeborenen aufnehmen wollen. Die Akkomodationsfähigkeit des Auges ist bereits mit einem Monat so gut entwickelt, daß Objekte in verschiedenen Entfernungen recht gut gesehen werden können (Banks/Salapatek 1983).
Von Geburt an werden verschiedene Farben unterschieden.
Interessanterweise ist die Farbwahrnehmung wahrscheinlich von Anfang an kategorial. Spätestens mit ein bis zwei Monaten werden rot und rosa als ähnlicher wahrgenommen als rot und grün, obwohl der Unterschied zwischen rot und rosa, gemessen in Wellenlängen, genauso groß ist wie der zwischen rosa und grün. Ähnliches gilt für andere Farben (Lamb/Bornstein 1987).
Ebenfalls von Geburt an werden verschiedene Muster unterschieden, etwa schwarz-weiße Kreise von schwarz-weißen Streifen. Gemusterte Tafeln werden länger angesehen als einfarbige, und es gibt bereits Präferenzen für bestimmte Aspekte eines Reizes. Bevorzugt werden Hell-Dunkel-Kontraste und die Ecken und Kanten eines Reizes, z.B. eines Dreiecks.
Haith et al. (1977) und Haith (1978) zufolge exploriert der Säugling in den ersten Lebensmonaten einen visuellen Reiz in einer charakteristischen Reihenfolge. Dieses Abtastmuster gilt auch für die Wahrnehmung des menschlichen Gesichts. In den ersten vier Wochen werden vor allem die kontrastreichen Übergänge zwischen Haarlinie und Stirn sowie der Übergang zwischen Kopfumriß und Hintergrund erforscht. Im zweiten und dritten Monat verlagert sich die Aufmerksamkeit sukzessive auf das Gesichtsinnere, besonders Auge, Nase und Mund.
Ab zwei bis vier Monaten werden richtige Gesichter von solchen unterschieden, in denen Mund, Auge und Nase falsch angeordnet sind (Maurer/Barrera 1981; Maurer 1985). Zu diesem Zeitpunkt scheint der Säugling die einzelnen Teile des Gesichts zu einer Gestalt zusammenzufassen.
Ab drei bis fünf Monaten können verschiedene Gesichtsausdrücke wie Überraschung, Freude und Traurigkeit unterschieden werden (Barrera/Maurer 1981 a) und ebenso verschieden starke Ausprägungen ein und desselben Ausdrucks (Kuchuk et al. 1986). Einige wenige Forscher haben die Fähigkeit zur Unterscheidung verschiedener Gesichtsausdrücke schon im ersten Monat gefunden (Field 1985).
Ab drei Monaten kann die Mutter visuell von Fremden unterschieden werden (Barrera/Maurer 1981 b). Gelegentlich ist berichtet worden, das sei bereits mit vier bis fünf Wochen möglich. In diesen Fällen wird die Unterscheidung wahrscheinlich anhand der unterschiedlichen Haarfarbe oder unterschiedlicher Kontrastlinien zwischen Haaren und Stirn vorgenommen und nicht anhand des Gesichtsinneren (Bushnell 1982 b).
Zeigt man Kindern im Alter von fünf bis sieben Monaten ein Gesicht frontal und danach von der Seite, so behandeln sie beide Darbietungen richtig als Transformationen eines Gesichts und nicht als zwei verschiedene Gesichter. Ebenso verhält es sich, wenn sie ein freudiges Gesicht sehen und danach dasselbe
mit ärgerlichem Ausdruck. Obwohl beide Gesichter ziemlich verschieden aussehen, bemerken die Säuglinge, daß es sich nicht um verschiedene Gesichter handelt, sondern um den Ausdruckswandel eines Gesichts (Fagan 1976; Stern 1985, S. 97f.; C. Nelson 1985, 1987). Dieser Befund ist für die
Psychoanalyse besonders interessant, denn in ihrer Theorie der Teilobjekte behauptet sie, daß der Säugling anfänglich die Mutter als verschiedene »Teilmütter« wahrnimmt (»gute« und »böse«) und die verschiedenen Aspekte der Mutter nicht als zwei Ausprägungsformen ein und derselben Mutter erfährt. Ich komme in Kapitel 4 darauf zurück.
Neugeborene suchen bereits aktiv nach Reizen und können verschiedene Reize voneinander unterscheiden. Ihre Reizverarbeitung ist ein aktiver und selektiver Prozeß, der bestimmten Regeln und Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Der Reizhunger ist so groß, daß sie sogar Fütterungs- und Trinkaktivitäten unterbrechen, wenn ein attraktiver Reiz im Gesichtsfeld erscheint (Stern 1977; Emde/Robinson 1979).
Visuelle Exploration kann auch zur Selbstberuhigung eingesetzt werden.
Mit fünf Wochen kann man regelmäßig beobachten, wie Kinder, die unruhig und nervös sind, sich einem Objekt in ihrem Gesichtsfeld zuwenden und im Verlauf seiner Betrachtung ruhiger werden (Demos/Kaplan 1986).
Alle diese Befunde stehen im Gegensatz zu psychoanalytischen Hypothesen über den Autismus (s. Kap. 3) oder primären Narzißmus des Neugeborenen, seinen beständigen Versuch, Reize loszuwerden (Freud 1915 a, S. 83f.), seine primär feindselige Einstellung zur Außenwelt (ebd., S. 101) und seine undifferenzierte oder überwiegend coenästhetische, d.h. nach innen gerichtete Wahrnehmung
Fußnote
Der folgende Abriß ist hoch selektiv und soll nur einen ersten Eindruck vom kompetenten Säugling vermitteln. Weitere Ergebnisse stelle ich in den einzelnen Kapiteln dar. Sie sind dort eingewoben in die Diskussion psychoanalytischer Theoreme.
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