Auditive Wahrnehmung

Bis etwa 1970 ging man davon aus, daß Neugeborene nichts oder fast nichts hören, u.a. wegen der Verklebung der Gehörgänge mit Käseschmiere. Dies hat jedoch, wie man heute weiß, praktisch keinen Einfluß auf die Hörwahrnehmung.


Neuere Forschungen haben ergeben, daß es von Geburt an differentielle Reaktionen auf hoch- und niederfrequente Töne gibt. Hohe Töne sind beruhigender als niedrige und leise beruhigender als laute. Als Maße für die Beruhigung gelten je nach Untersuchung Veränderungen der Pulsfrequenz, der Atmung, des Muskeltonus oder des EEG.


Bereits intrauterin werden akustische Zeichen mit bemerkenswerter Genauigkeit wahrgenommen, und unmittelbar nach der Geburt besteht eine ausgeprägte Präferenz für die mütterliche Stimme. Dazu folgendes Experiment: Eine Gruppe von Müttern liest ihren Kindern im Mutterleib eine bestimmte Geschichte öfter vor. Nach der Entbindung haben die Neugeborenen die Möglichkeit, über einen speziell konstruierten Schnuller und das Saugen daran eine Tonbandwiedergabe der Geschichte abzurufen. Sie haben dabei je nach Saugrhythmus, den sie verwenden, die Wahl zwischen der Geschichte mit der mütterlichen Stimme und derselben Geschichte mit einer anderen Stimme. Sie bevorzugen signifikant die Geschichte mit der mütterlichen Stimme.



In einer Kontrollgruppe ohne intrauterine Vorlesungen ist das nicht der Fall. Ähnliche Experimente zeigen, daß eine Geschichte, die bereits intrauterin gehört wurde, einer neuen vorgezogen wird, wenn die Stimme gleich ist. Hier wird also der Text, nicht die Stimme erkannt (DeCasper/Fifer 1980; DeCasper/Spence 1986).



Schon Neugeborene bemerken einen Unterschied zwischen synthetisch erzeugten Geräuschen und der menschlichen Stimme. Condon/Sander (1974) und Condon (1975, 1977) konnten nachweisen, daß bestimmte Mikrokörperbewegungen des Neugeborenen mit bestimmten Phonemen der Erwachsenensprache synchronisiert sind. Das Baby bewegt Rumpf, Arme oder Beine in genau angebbarer Weise als Reaktion auf bestimmte menschliche Lautäußerungen. 



Diese berühmt gewordenen Ergebnisse zur interaktionellen Synchronie sind allerdings nicht immer repliziert worden (Dowd/Tronick 1983). Ein anderer (replizierter) Hinweis auf die
Unterscheidungsfähigkeit zwischen menschlicher Stimme und nicht menschlichen Geräuschen ist die differentielle Reaktion von Neugeborenen auf Babygeschrei. Ihre Antwort ist auch
Geschrei, aber signifikant mehr Geschrei bei echtem Säuglingslärm als bei synthetischem (Keller/Meyer 1982, S. 35f.).



Wieder andere Untersuchungen haben ergeben, daß ein Monat alte Säuglinge verschiedene Lautäußerungen, z.B. b und p oder ba und ga, voneinander unterscheiden können (Überblick bei Aslin et al. 1983).



Insgesamt gilt für die Gehörwahrnehmung,»daß Säuglinge schon früh in der Lage sind, eine breite Vielfalt phonetischer Kontraste der gesprochenen Sprache zu unterscheiden. Darüber hinaus scheint klar, daß die grundlegenden sensorischen Mechanismen, die dieser Unterscheidungsfähigkeit zugrunde liegen, innerhalb des ersten Monats – wenn nicht von Geburt an – vorhanden sind« (ebd., S. 634).