Vorwort In diesem Buch werden wir die tief verwurzelte Verbindung zwischen Narzissmus, Selbstsabotage und persönlicher Veränderung erkunden. Wir werden uns mit den Mechanismen und Mustern befassen, die uns daranhindern, unsere wahren Fähigkeiten zu erkennen und auszuleben, und damit, wie wir diese Muster durchbrechen können, um eine positive Transformation zu erreichen.
Einleitende Gedanken – Das Unbewusste in der Selbstsabotage
»Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.«
Wir kennen sie alle, die Freundin, die wie ferngesteuert und als wäre sie überhaupt nicht beteiligt, von einer Katastrophe in die nächste gleitet, so als wäre sie die Königin der »Opferolympiaden«, eine Artistin, die Medaillen für kleine und große Katastrophen sammelt, die sie völlig unverschuldet einfährt. Eine Freundin, die wir sehr lieb gewonnen haben, die aber aus dem Marathon der Tragödien zumindest von uns nicht zu retten ist.
Der Ersttermin
Sie sei etwas zu spät, sagte sie, als sie in der Tür meines Praxiszimmers stand, und entschuldigte sich dafür. Sie war ähnlich groß wie ich, vermutlich eins achtzig, und ihre braunen Rehaugen fixierten mich. Ich sah ihr ins Gesicht. Sie hatte langes, wallendes Haar. War dezent, aber gekonnt geschminkt. Markantes Gesicht, kontrolliertes Mienenspiel. Leichtes Lächeln. Ihr Outfit war makellos, elegant. Ich bat sie in meinen Praxisraum. Sie trug ein kräftiges Parfum, dezent und leicht süßlich. Vermutlich nur ein Sprühstoß. Sie sei halbe Amerikanerin, sagte sie, setzte sich und breitete sich auf dem Sofa aus. Mantel, Tasche, Schal. Käme gerade aus Alaska zurück und müsse gleich weiter nach Berlin. Wegen der Modemesse. Ihr Deutsch hatte nur eine sehr dezente Note von Amerikanisch.
Jennifer Miles war der letzte Termin, den ich vor der Sommerpause hatte. Wir würden übermorgen nach Spanien starten – die ganze Familie in ein Urlaubsresort. Das hatte Carlota, meine Frau, ausgesucht und gleich gebucht. Mit dem roten VW-Bulli würde ich uns alle runterfahren. Carlota, mich, die fast erwachsenen Kinder und Luki, den Hund.
Ich unterlag im Bruchteil von Sekunden der zwanghaften normalen Einstellung, ihren Eros wahrzunehmen. Freundin: ja, nein? Feindin: ja, nein? Status: höher? Geringer? Sexualpartnerin: ja, nein? Das sind die ersten Millisekunden jeder menschlichen Begegnung. (2) Wie sieht sie aus? Wie bewegt sie sich? Wie angemessen ist sie gekleidet?
Vor den poppig bunten Acrylgemälden saß sie auf der Couch. Dort sah sie sehr gut aus. Sie besitzt all das Vordergründige, das man als Frau so braucht, dachte ich. Mich begann das Hintergründige zu interessieren. Ich sagte ihr, sie sei eine beeindruckende Erscheinung. Ja, winkte Jennifer Miles ab, Modebranche. Da achte man schon von Berufs wegen aufs Äußere. Sie war charmant, aber auch kühl. Ich ließ das mal so stehen.
Mein Einfall in dieser Sekunde war, dass ich dem statistisch erhöhten Risiko ausgesetzt war, ein einvernehmliches erotisches Verhältnis mit einer Klientin anzufangen. Die Übertragung und die Gegenübertragung waren meiner Wahrnehmung nach unbewusst schon da. Psychotherapeuten über
fünfzig und in einer Lebenskrise beginnen überdurchschnittlich häufig ein sexuelles Verhältnis mit ihren Patientinnen, so die wissenschaftliche Studienlage. (3) Fast 30 Prozent der Fälle einer Erfassung über
Missbrauchsanzeigen in der Psychotherapie waren sexueller Natur. Ein erhöhtes Risiko! Ein Tabu. Ich schob diesen Gedanken, der in der Psychoszene Realität ist, etwas beiseite. Das wäre selbstzerstörerisch. Das wäre Selbstsabotage. Das wäre idiotisch. Meine Gedanken flippten hin und her. Nein.
Schauen Sie, begann Jennifer Miles, ich bin erfolgreiche Unternehmerin. Aber ich habe diese Sehnsucht in mir. Unstillbare Sehnsucht. Innen ist es bei mir leer. Ich habe Ihre Bücher alle gelesen. Das sagen Sie doch auch.
Ich nickte.
Ich bin ein Leben lang so erzogen worden. Amerika ist ja wirklich viel narzisstischer als Europa, als Deutschland, sagte sie. Mein Vater war recht dominant, also habe ich da meinen grandiosen Narzissmus entwickelt, als Gegenwehr. Meine Mutter hat mich overprotectet. Gelobt für Kleinkram. Aber emotional hat sie mich nicht gesehen. Nicht bemerkt. Ich glaube, ich bin eine vulnerable Narzisstin. Ich bin viel mehr von meiner Mutter gemacht worden als von meinem Vater. Doktor, was meinen Sie? Kann das sein?,
schloss sie.
Möglich ist alles, sagte ich.Ich dachte, jemand müsse doch ihre innere Leere auffüllen. Hatte sie einen
Lebenspartner?
Welche Sehnsucht haben Sie?, fragte ich. Sehnsucht nach, sie dachte kurz nach, nach allem! Sie exklamierte es richtig. Ihre Hände gingen hoch. Griffen in die Luft. Alles, was mich innerlich fester macht. Sicherer. Ich bin innerlich so unsicher. So furchtbar unsicher. Sie machte eine Pause und schien plötzlich wie blockiert. Dann suchte sie etwas in ihrer Handtasche, sprach weiter. Ich weiß nicht, wer ich wirklich bin, Doktor Hagemeyer, sagte sie, ließ das erfolglose Suchen in der Tasche und wischte sich mit dem Handrücken eine Träne weg. Ich habe einen Freund, begann sie. Wir leben eine Fernbeziehung. Er ist,
sagen wir, sie lachte, ein echter Narzisst.
Ich kommentierte, es sei nicht hilfreich, Etiketten zu verteilen für eine normale menschliche Eigenschaft, und am Ende sei man es selbst mehr als der andere. Jennifer nickte. Sie sagte: Ich stigmatisiere, ich weiß. Das ist falsch. Ich habe Sehnsucht danach, dass er mich mehr liebt. Aber ich spüre diese Liebe nicht. Ich spüre mich nicht. Innerlich. Obschon er mir genug Liebe gibt, ist es zu wenig für mich.
Sie spüren sich nicht, innerlich, wiederholte ich.
Nein, sagte sie. Da ist nichts. Da ist nur mein Kritiker. Ich horchte auf. Wer?, fragte ich. Mein innerer Kritiker, sagte sie. Mein innerer Richter, mein Impostor und Kritiker. Der macht mich am meisten fertig. Das ist, wie sagt man, Sabotage von innen!
Ich nickte. Davon hatte ich gehört. Selbstsabotage, ergänzte ich.
Wissen Sie, sagte ich dann in dem Versuch, das bisschen Eis aus Alaska zu brechen, das noch da war: Ich habe gar keinen inneren Kritiker. Waaas?, exklamierte Jennifer Miles voller Unglauben. Nein, das glaube
ich nicht. Das stimmt nicht! JEDER hat einen inneren Kritiker, der einen fertigmacht.
Ich spürte ein paar Sekunden hin. Nein. Da war nichts.
Das kann nicht sein! Sie haben ihn verdrängt!!, stieß Jennifer Miles aus, beugte sich weit zu mir und lachte laut auf: Haha! Sie haben keinen, das ist ja unmöööglich!
Auch ich lachte etwas mit und suchte in mir. Nein. Nichts. Ich schüttelte den Kopf. Lächelte leicht triumphierend. Mein innerer Kritiker hatte Urlaub. Oder war tot. Oder nie da gewesen. In diesem Moment spürte ich meine eigene leichte narzisstische Selbstüberhöhung und versuchte sie gleich wieder mit einem tiefen Ausatmen abzugeben.
Erst Wochen später würde ich mich an dieses Erstgespräch mit Jennifer Miles wieder erinnern. In der Zwischenzeit würde ich viel darüber nachgedacht haben, was Selbstsabotage ist. Jennifer Miles hatte ich für Notfälle meine Handynummer gegeben. Sie brauchte Sicherheit. Diese Sicherheit konnte ich ihr geben.
Und in diesem Sommer lernte ich ihn selbst kennen. Meinen inneren Kritiker. Und meine Selbstsabotage. Es war viel komplexer, als so manch einer denken mag.
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