Im Fluss des Lebens

Im Fluss des Lebens

Eine ganze Forschungsdisziplin hat sich inzwischen dieser Frage angenommen, die Psychoneuroimmunologie, mit bahnbrechenden Erkenntnissen. Aber auch hinter den Ursachen, die diese Forscher herausgefunden haben, werden andere Wissenschaftler früher oder später noch grundlegendere Ursachen entdecken, eine offenbar endlose Kette[3] , die im genetischen Code verankert zu sein scheint, genetische Prädisposition gilt derzeit als letzter Grund für die individuellen Unterschiede.


Aber so, wie die Physiker einst an das Atom als kleinsten, unteilbaren Baustein der Materie glaubten,[4] bis sie die Welt der Quanten entdeckten, noch kleinerer Bausteine, eine Reise immer tiefer ins Nichts, haben Forscher längst herausgefunden, dass die Gene keineswegs eine feste Größe sind, keine unveränderbare Grundlage des Menschen, sondern eher eine Summe von Möglichkeiten.


In einem kreativen Bild vergleichen manche Wissenschaftler die Gene mit einem Konzertflügel, der von selbst keine Musik entstehen lassen kann – er bleibt stumm, wenn niemand darauf spielt. Erst äußere Einflüsse, die sich in der Seele auswirken, bringen den Flügel zum Klingen, ein Steuerungsmechanismus, der wenig materiell erscheint.[5] Die ganze Wahrheit von Krankheit und Gesundheit ist deshalb wohl nur zu erfassen, wenn Ärzte und Patienten in größeren Zusammenhängen denken.


Die medizinische Richtung der Naturheilverfahren erhebt den Anspruch, den Menschen anders, »ganzheitlicher« zu sehen und zu behandeln als die konventionelle Medizin. Manchmal aber ersetzen Ärzte lediglich chemische Medikamente durch biologischen Substanzen, Pflanzen und Mineralien.  Dann bleibt ihre Sichtweise eindimensional und erweitert nicht den Horizont. Wie in der konventionellen Medizin bekämpfen sie eine Kette von Symptomen, ohne den dahinterliegenden Zusammenhang zu erfassen, wobei sie lediglich künstliche Substanzen durch natürliche ersetzen, was oft, aber durchaus nicht immer, schonender ist.


Oft allerdings scheinen natürliche Substanzen umfassender zu wirken als synthetische, auch grundlegender als jene Stoffe, die findige Chemiker der Natur abgeschaut haben und die sie deshalb »naturidentisch« nennen. Offenbar spielt die Pflanze als vollständiges Lebewesen eine Rolle. Der
zentrale Wirkstoff, den die Schöpfer neuer Mittel in den Labors der Pharmaindustrie analysieren, um ihn zur Basis eines neuen schulmedizinischen Präparates zu machen, mag zwar entscheidend sein –
aber oft entfaltet er seine ganze Wirkung erst mit Hilfe anderer Bestandteile der Pflanze. Wird richtig dosiert, lassen sich in der Naturheilkunde Nebenwirkungen geringer halten, aber auch natürliche Heilmittel sind nicht immer ungefährlich, wenn auch meist schonender als ihre chemischen
Konkurrenten.


Im Wortsinn ganzheitlich wird eine Behandlung erst dann, wenn sie tatsächlich den Menschen insgesamt betrachtet, also nicht nur den Körper, sondern auch Geist und Seele einbezieht. Viele naturheilkundlich orientierte Mediziner und auch manche Ärzte in den Allgemeinpraxen folgen diesem
Gedanken. Indem sie so arbeiten, können sie in viel umfassenderem Sinne heilen als ihre hoch spezialisierten Kollegen, die ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf körperliche Symptome richten.
Der wissenschaftliche Reduktionismus hat den Ärzten ein früher unvorstellbares Fachwissen über die Funktion einzelner Organe gebracht. Immer mehr Mediziner beschäftigen sich den größten Teil ihres Lebens mit immer kleineren Ausschnitten der Wirklichkeit. So werden Genesungen möglich, die früher undenkbar schienen. Aber gleichzeitig geht der Überblick verloren, und Zusammenhänge bleiben unsichtbar. In dieser hoch differenzierten Medizin erscheint die Seele als eine mögliche Verursacherin von Erkrankungen unter vielen, denen nur in einem ausgewählten Feld von Symptomen Beachtung geschenkt werden sollte. Es ist das Feld der psychosomatischen Medizin. Dem gegenüber, so glauben sehr viele Ärzte, gebe es aber das größere Feld der somatischen Erkrankungen, in denen die Seele keine oder eine zu vernachlässigende Rolle spiele.


Dieses Denken ist angesichts der Erkenntnisse der Psychoneuroimmunologie nicht mehr wissenschaftlich haltbar. Es schließt einen Teil des Ganzen aus und bringt sich so um die Chance, den Patienten als individuellen Menschen zu sehen, in dem sich Erkrankungen stets als Folge größerer Zusammenhänge zeigen. Eine »ganzheitliche Medizin« ist dem gegenüber in der Lage, vom
einzelnen Symptom auf übergeordnete Zusammenhänge zu schließen, die je nach Patient durchaus unterschiedlich sein können, und aus dieser Position zu heilen. Vor allem aber kann sie vorbeugend handeln.

 

Die Homöopathie kommt diesem Gedanken nahe. Sie geht stets mit den Symptomen und nicht gegen sie, sie begrüßt jede Reaktion des Körpers als Zeichen eines Mangels oder einer Forderung, die im Körper ihren Ausdruck findet. Mit ihrer Methode versucht sie, den Menschen insgesamt in Harmonie zu bringen. Das Prinzip, versteckte Erreger zu bekämpfen, ist ihr fremd – ihre Methoden funktionieren auch ohne dieses Bild. Klassische Homöopathen wie einer der führenden Vertreter der wissenschaftlichen Homöopathie, der Grieche Georgos Vithoulkas, sehen einen Dreiklang von Köper, Emotionen und Geist, wobei der Geist aus ihrer Sicht die tiefste und wichtigste Ebene ist. Von fehlender Harmonie auf dieser Ebene, vermutet Vithoulkas, zum Beispiel durch extrem egoistische
Zielsetzungen und einen Mangel an Vertrauen in den Fluss des Lebens, letztlich durch das Fehlen einer spirituellen Dimension, entwickelt sich Krankheit über gehemmte, verdrängte oder selbstzerstörerische Gefühle bis hin zu Schmerz und Unwohlsein auf der körperlichen Ebene.[6]


Die Methode der Homöopathie kann möglicherweise gegen diese körperliche Manifestation der Erkrankung, die den Patienten eigentlich zum Arzt geführt hat, lange nichts ausrichten. Die Symptome können sich sogar im Sinne einer »Erstverschlimmerung« vordergründig verstärken – aber
Homöopathie wirkt im Idealfall als geistiges Prinzip gleichsam aus einer anderen, weniger materiellen Dimension und führt so am Ende, wenn die Behandlung gelingt, zu neuem, dauerhaftem Einklang des Patienten mit dem Leben und seinen Problemen, und damit letztlich auch zum Verschwinden der körperlichen Symptome.

 

Die von dem Psychologen Ruediger Dahlke entwickelte symbolische Denkweiser betrachtet Symptome nur als Warnsignale, Hinweise der Seele auf einen Mangel oder einen falschen Weg. Wer diesem Gedanken folgt, der lernt, seine Symptome als Helfer zu nutzen, die einen wichtigen Hinweis
geben wollen. Diese Sichtweise schließt nicht aus, quälende Symptome mit den Mitteln der konventionellen Medizin oder anderer Verfahren zu bekämpfen, denn auch wenn seelische Zusammenhänge erkennbar werden, bedeutet das noch keine unmittelbare Heilung. Aber allein schon die Idee, jedes Symptom als Hinweis zu begreifen, führt zu einer veränderten Wahrnehmung:
Erkrankungen sind dann nicht mehr einzelne zufällige Ereignisse, sondern erscheinen in einem größeren Zusammenhang, der mit aktuellen Konflikten oder insgesamt mit den Lebensumständen eines Menschen zu tun hat.


Diese Sichtweise entspricht der Haltung eines Menschen, der sich nicht als biologische Maschine begreift, sondern als Geistwesen, das in ein Geflecht von Beziehungen eingebunden ist und mit der Welt insgesamt in Verbindung steht. Von dort ist es zu einer spirituellen Haltung nicht weit, wie sie in den archaischen Heilverfahren, vor allem im Schamanismus zum Ausdruck kommt, dem wohl ältesten Versuch der Menschheit, Erkrankungen zu verstehen und zu behandeln.


Auf den ersten Blick scheint die Denkweise dieser Kunst den Vorstellungen der modernen Medizin ähnlich: Auch Schamanen gehen stets von Symptomen aus, auch sie verfolgen »Eindringlinge« und entfernen sie aus dem Körper, auch sie versuchen, verlorene Kraft zurückzubringen und so dem Patienten wiederzugeben, was ihm fehlt. Aber diese Heiler bewegen sich nicht auf einer körperlichen Ebene, sondern sie reisen in »andere Bereiche der Wirklichkeit«, auf den Flügeln ihres Bewusstseins. In der Trance versuchen sie, verborgene Ursachen aufzudecken, die sich hinter den vordergründig sichtbaren Symptomen verbergen.


Jede einzelne Erkrankung mag ihre besondere Ursache haben, den Angriff eines Feindes zum Beispiel, wie das die Schamanen des Amazonas-Gebietes bei akuten Symptomen vermuten, aber Krankheit insgesamt ist aus ihrer Sicht eine Begegnung mit der Wirklichkeit hinter unserer sichtbaren
Welt, der sich jeder Mensch stellen muss. Gesundheit kann nur entstehen, wenn es dem Patienten mit Hilfe des Schamanen gelingt, mit allen Kräften des Himmels und der Erde in Einklang zu sein. Diese Balance muss immer wieder neu gefunden werden, deshalb ist es aus Sicht der Schamanen nicht
möglich, Krankheit insgesamt zu besiegen. Ganz ähnlich sehen das auch die Geistheiler des Westens, die sich als Kanal für eine unbekannte, vielleicht göttliche Energie begreifen. Wenn sie ihre Hände auflegen, um einen Patienten von seiner Erkrankung zu befreien, verbinden sie ihn nach alter Vorstellung mit einer umfassenden Wirklichkeit, ohne die Gesundheit und Entwicklung nicht möglich zu sein scheint.

 

Alle diese Methoden der Komplementärmedizin werden in vielen Teilen der Welt praktiziert. In den Gesellschaften der Industrienationen, die mehr und mehr unter der Angst leiden, nur noch Objekte einer Gesundheitsindustrie zu sein, die vor allem ökonomischen Gesetzen folgt, gewinnen sie als
Alternativen zum medizinischen Alltag eine immer größere Bedeutung. Die Patienten, so schreibt der Arzt Bernhard Lown, seien eben nicht mehr bereit, sich mit der »endgültigen Verfremdung« abzufinden: Niemand wird auf Dauer akzeptieren, ausschließlich aufgrund seiner Krankheitssymptome gekennzeichnet zu werden, als nichts anderes als eine Ansammlung entzwei gegangener biologischer Teile. Patienten erbitten eine Partnerschaft mit ihren Ärzten, die ein Gespür sowohl für ihre schmerzgepeinigten Seelen als auch für ihre schlecht funktionierende Anatomie haben.[7] Diese Partnerschaft suchen die Patienten mehr und mehr in den Praxen jener Ärzte und Heiler, die versprechen, den »ganzen« Menschen zu behandeln, also Körper, Geist und Seele wahrzunehmen.


Immer mehr Forschungsergebnisse zeigen, dass in der Verbindung dieser Ebenen tatsächlich der Schlüssel für einen Entwicklungssprung der Medizin liegen könnte. In dieser umfassenden Heilkunst, die jahrtausendealte Erfahrungen und neues Wissen miteinander in Beziehung bringt, gewinnen
Faktoren an Bedeutung, die im medizinischen Alltag bisher nur eine Nebenrolle spielen: persönliche Überzeugungen der Patienten, rationale wie irrationale, »vernünftige« wie mystische, vor allem aber die Hoffnung und manchmal sogar die Gewissheit, wieder gesund werden zu können.