Teil I: 1963–1971: 1 Ein Economic Hit Man wird geboren
Bekenntnisse eines Economic Hitman
- Siehe auch FT: John Perkins: Bekenntnisse eines Economic Hit Man
Teil I: 1963–1971
Alles begann ganz harmlos.
Ich war ein Einzelkind und wurde 1945 in eine Familie der Mittelschicht hineingeboren. Meine Eltern stammten beide aus Yankee-Familien, die seit drei Jahrhunderten in Neuengland lebten; ihre strenge Moral und aufrecht republikanische Haltung war seit Generationen durch die puritanischen Vorfahren geprägt. Sie waren die Ersten in ihrer Familie, die aufs College gingen – mit Hilfe von Stipendien. Meine Mutter wurde Lateinlehrerin an der High School. Mein Vater ging im Zweiten Weltkrieg zur Marine und führte als Leutnant die bewaffnete Mannschaft an Bord eines Tankers der Handelsmarine im Atlantik, die das Schiff vor deutschen Angriffen schützen sollte.
Als ich in Hanover, New Hampshire geboren wurde, kurierte er gerade seine gebrochene Hüfte in einem Militärkrankenhaus in Texas. Er sah mich das erste Mal, als ich ein Jahr alt war. Er bekam eine Stelle als Sprachenlehrer an der Tilton School, einem Jungeninternat im ländlichen New Hampshire. Der Campus lag hoch auf einer Anhöhe, stolz (manche würden sagen arrogant) überragte das Schulgebäude die Stadt gleichen Namens. Die exklusive Schule beschränkte die Schülerzahl auf 50 Schüler in jeder Klassenstufe, von der 9. bis zur 12. Klasse. Die Schüler waren meist die Abkömmlinge reicher Familien aus Buenos Aires, Caracas, Boston und New York.
In meiner Familie war Geld knapp, dennoch betrachteten wir uns keineswegs als arm. Die Lehrer verdienten sehr wenig, aber alles, was wir zum Leben brauchten, wurde kostenlos gestellt: Lebensmittel, Unterkunft, Heizung, Wasser und die Arbeiter, die unseren Rasen mähten und den Schnee schippten. Ab meinem vierten Geburtstag aß ich im Speisesaal der Schule, sammelte die übers Feld hinausgeschossenen Bälle für die Fußballmannschaft wieder ein, die mein Vater trainierte, und verteilte im Umkleideraum die Handtücher. Daß die Lehrer und ihre Frauen sich den Einheimischen bloß überlegen fühlten, wäre eine Untertreibung. Meine Eltern scherzten gerne, sie seien die Gutsherren im Herrenhaus und würden über die niedrigen Landarbeiter – die Bewohner im Städtchen – herr-schen. Ich wußte, daß dies nicht nur scherzhaft gemeint war.
Meine Freunde in der Grund- und Mittelschule gehörten zu diesen »niederen Arbeitern«, sie waren sehr arm. Ihre Eltern waren Kleinbauern, Holzfäller oder arbeiteten im Sägewerk. Sie verabscheuten die »Snobs auf dem Hügel«. Umgekehrt versuchten meine Eltern zu verhindern, daß ich allzu viel Kontakt mit den Mädchen aus der Stadt hatte, die sie als »Flittchen« und »Schlampen« bezeichneten. Ich hatte mit diesen Mädchen seit der ersten Klasse Buntstifte und Schulbücher geteilt und verliebte mich im Lauf der Jahre in drei von ihnen: Ann, Priscilla und Judy. Es war schwer für mich, die Haltung meiner Eltern zu verstehen, trotzdem fügte ich mich ihren Wünschen.
Jedes Jahr verbrachten wir die dreimonatigen Sommerferien meines Vaters in einem Häuschen am See, das mein Großvater 1921 gebaut hatte. Es lag mitten in den Wäldern, nachts hörten wir die Rufe von Eulen und das Gebrüll von Berglöwen. Wir hatten keine Nachbarn, ich war das einzige Kind weit und breit. In den ersten Jahren stellte ich mir immer vor, daß die Bäume die Ritter der Tafelrunde waren, und die Burgfräulein in Gefahr nannte ich (je nach Jahr) Ann, Priscilla oder Judy. Meine Leidenschaft war, da hatte ich keine Zweifel, so groß wie die von Lancelot für Guinevere – und ich mußte sie sogar noch sorgfältiger geheim halten. Mit vierzehn erhielt ich kostenlos Unterricht an der Tilton School. Unter dem Einfluß meiner Eltern lehnte ich alles ab, was mit der Stadt zu tun hatte, und sah meine alten Freunde nie wieder.
Wenn meine neuen Klassenkameraden in den Ferien nach Hause zu ihren Villen und Penthäusern fuhren, blieb ich allein auf dem Hügel zurück. Ihre Freundinnen waren Debütantinnen, ich hatte keine Freundinnen. Alle Mädchen, die ich kannte, waren »Schlampen«; ich hatte sie fallen gelassen, und sie hatten mich verges-
sen. Ich war allein – und schrecklich frustriert.
Meine Eltern waren Meister der Manipulation; sie versicherten mir immer wieder, was für ein Privileg es sei, eine solche Chance zu bekommen. Eines Tages würde ich dafür dankbar sein. Ich würde die perfekte Frau finden, eine, die unseren hohen moralischen Ansprüchen genügte.
Innerlich schäumte ich vor Wut. Ich sehnte mich nach einer Freundin – nach Sex. Der Gedanke an eine Schlampe war sehr verführerisch. Aber anstatt zu rebellieren, unterdrückte ich meine Wut. Meiner Frustration machte ich mit hervorragenden Leistungen Luft. Ich war ein Musterschüler, Kapitän von zwei Schulmannschaften und Chefredakteur der Schulzeitung. Ich war entschlossen, meine reichen Klassenkameraden weit in den Schatten zu stellen und Tilton für immer hinter mir zu lassen.
In meinem letzten Jahr erhielt ich ein Sportstipendium für die Brown University und ein akademisches Stipendium für Middlebury. Ich wollte auf die Brown University, vor allem, weil ich gern Sport trieb und weil die Universität in einer Stadt lag. – Meine Mutter hatte in Middlebury ihren Abschluß gemacht, und mein Vater hatte dort seinen Master gemacht, daher bevorzugten sie Middlebury, obwohl Brown zu den Ivy-League-Universitäten zählte. »Was ist, wenn du dir ein Bein brichst?«, fragte mein Vater. »Nimm lieber das akademische Stipendium.« Ich fügte mich. Middlebury war meiner Meinung nach nur ein aufgeblähter Abklatsch von Tilton – wenn auch im ländlichen Vermont anstatt im ländlichen New Hampshire gelegen. Gut, dort studierten Jungen und Mädchen, aber ich war arm, und fast alle anderen waren reich, außerdem war ich seit vier Jahren nicht mehr mit Mädchen zur Schule gegangen. Mir fehlte das Selbstvertrauen, ich fühlte mich als Außenseiter und war unglücklich.
Ich bat meinen Vater, die Schule verlassen oder ein Jahr aussetzen zu dürfen. Ich wollte nach Boston ziehen, das Leben und die Frauen kennen lernen. Er wollte nichts davon hören. »Kann ich die Kinder anderer Leute fürs College vorbereiten, und dann will mein eigener Sohn nicht studieren?« fragte er.
Mittlerweile weiß ich, daß im Leben eine Reihe von Zufällen entscheidend ist. Entscheidend ist, wie wir darauf reagieren (was manche als Akte des freien Willens bezeichnen); die Entscheidungen, die wir innerhalb der Grenzen von Schicksalswendungen treffen, bestimmen auch, wer wir sind. In Middlebury kam ich an zwei Wende-punkte meines Lebens.
Die eine Wendung trat in Gestalt eines Iraners auf, der Sohn eines Generals, der persönlicher Berater des Schahs war, die andere war eine schöne junge Frau, und sie hieß Ann wie der Schwarm meiner Kindheit. Der Iraner, den ich hier Farhad nenne, war in Rom Profifußballer gewesen. Er hatte einen athletischen Körper, lockige schwarze Haare und sanfte, walnußbraune Augen. Seine Herkunft und sein Charisma machten ihn für Frauen unwiderstehlich. In vieler Hinsicht war er das genaue Gegenteil von mir. Ich bemühte mich sehr, seine Freundschaft zu erringen, und er brachte mir Dinge bei, die mir in den kommenden Jahren noch von Nutzen sein sollten.
Außerdem kamen Ann und ich uns näher. Obwohl sie mit einem jungen Mann ernsthaft liiert war, der ein anderes College besuchte, nahm sie mich unter ihre Fittiche. Unsere platonische Beziehung war die erste wirklich liebevolle Beziehung meines jungen Lebens. Farhad ermunterte mich zum Trinken und Feiern. Er bestärkte mich darin, mich von meinen Eltern zu lösen. Ich entschied mich bewußt dafür, nicht mehr zu studieren. Ich wollte mir mein akademisches Bein brechen und es so meinem Vater heimzahlen. Meine Noten sackten in den Keller; ich verlor mein Stipendium. Nachdem mein zweites Jahr am College zur Hälfte vorüber war, beschloß ich, das Studium zu schmeißen. Mein Vater drohte, mich zu verstoßen; Farhad stachelte mich weiter an. Ich stürmte in das Büro des Dekans und verließ die Schule. Das war ein entscheidender Wendepunkt in meinem Leben.
Farhad und ich feierten meinen letzten Abend in der Stadt zusammen in einer Kneipe. Ein betrunkener Farmer, ein wahrer Riese, beschuldigte mich, mit seiner Frau zu flirten, packte mich am Kragen und schleuderte mich gegen die Wand. Farhad ging dazwischen, zog ein Messer und schlitzte dem Farmer die Wange auf. Dann schleppte er mich durch den Raum und schob mich durchs Fenster, auf ein Fensterbrett hoch über dem Otter Creek. Wir sprangen hinaus und gingen am Fluß entlang zurück zu unserem Wohnheim. Am nächsten Morgen wurde ich von der Campus-Polizei verhört. Ich log und behauptete, ich wisse nichts von dem Vorfall. Trotzdem wurde Farhad vom College verwiesen. Wir zogen nach Boston und teilten uns ein Apartment. Ich bekam einen Job bei einer Zeitung und arbeitete für den Record American und Sunday Advertiser, die beide zum Hearst-Imperium gehörten. Ich war persönlicher Assistent des Chefredakteurs vom Sunday Advertiser.
Später im Jahr 1965 wurden einige meiner Freunde aus der Redaktion zum Militär eingezogen. Um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen, schrieb ich mich am College of Business Administration der Boston University als Student ein. Zu der Zeit hatte Ann mit ihrem alten Freund Schluß gemacht und besuchte mich oft in Boston. Ich genoß ihre Zuwendung sehr. Sie machte 1967 ihren Abschluß, ich dagegen hatte noch ein Jahr Studium vor mir. Sie weigerte sich hartnäckig, mit mir zusammenzuziehen, solange wir nicht verheiratet waren. Ich scherzte, das sei Erpressung, ich bezichtigte Ann der archaischen und prüden Moralvorstellungen meiner Eltern, doch ich genoß unsere gemeinsame Zeit und wollte mehr. Wir heirateten.
Anns Vater war ein hervorragender Ingenieur und hatte das Navigationssystem für einen wichtigen Raketentyp entwickelt. Für seine Arbeit wurde er mit einer hohen Position im Marineministerium belohnt. Sein bester Freund, ein Mann, den Ann Onkel Frank nannte (nicht sein richtiger Name), arbeitete in den höchsten Rängen der National Security Agency (NSA), dem am wenigsten bekannten (nach den meisten Darstellungen aber
größten) US-Geheimdienst. Kurz nach unserer Heirat mußte ich zur Musterung. Ich war tauglich und mußte nun damit rechnen, daß ich nach meinem Studium nach Vietnam kam. Die Vorstellung, in Südostasien zu kämpfen, zerriß mich innerlich. Krieg hat mich immer fasziniert. Ich wuchs mit Geschichten über meine Vorfahren in der Kolonialzeit auf (zu denen unter anderem auch der Publizist TThhoommaass PPaaiinnee und der Kriegsheld Ethan Allen gehörten) und hatte alle Schlachtfelder des Britisch-Französischen Kolonialkriegs und des Unabhängigkeitskriegs in Neuengland und im nördlichen Staat New York besucht.
Ich las jeden historischen Roman, den ich in die Finger bekam. Als die ersten Spezialeinheiten in Südostasien landeten, wollte ich mich sogar freiwillig melden. Aber dann wurden in den Medien die Greueltaten und Widersprüche der amerikanischen Politik offengelegt, und ich änderte meine Meinung. Ich fragte mich, auf welcher Seite TToomm PPaaiinnee gestanden hätte. Ich war überzeugt, er hätte sich unseren Feinden, den Vietkong, angeschlossen.
Onkel Frank rettete mich. Er sagte mir, daß man mit einer Stelle bei der NSA nicht zum Militär eingezogen würde, und arrangierte für mich eine Reihe von Vorstellungsgesprächen, darunter eine eintägige zermürbende Befragung, bei der ich an einen Lügendetektor angeschlossen war. Mir wurde gesagt, mit diesen Tests werde untersucht, ob ich für eine Rekrutierung und Ausbildung durch die NSA geeignet sei. Man erhalte damit ein Profil meiner Stärken und Schwächen und könne meine weitere Laufbahn planen. In Anbetracht meiner Einstellung zum Vietnamkrieg war ich überzeugt, daß ich bei den Tests durchfallen würde.
Beim Verhör gestand ich, daß ich zwar Amerika gegenüber loyal sei, den Krieg jedoch ablehne. Ich war überrascht, daß meine Gesprächspartner das Thema nicht weiter verfolgten. Stattdessen konzentrierten sie sich auf meine Erziehung, meine Einstellung zu meinen Eltern, auf die Emotionen, die durch die Tatsache hervorgerufen wurden, daß ich als armer Puritaner unter vielen reichen, hedonistischen Snobs aufgewachsen war. Auch meine Frustration darüber, daß ich nicht genug Frauen, Sex und Geld in meinem Leben gehabt hatte, wurde unter die Lupe genommen.
Ich war erstaunt, wie viel Aufmerksamkeit man meiner Freundschaft zu Farhad widmete und welches Interesse meine Bereitschaft hervorrief, die Campus-Polizei anzulügen, um meinen Freund zu schützen. Zuerst nahm ich an, daß ich aufgrund dieser Biographie und dieser Taten, die mir so negativ erschienen, für die NSA nicht in Frage käme. Doch die Befragungen und Gespräche wurden fortgesetzt, und allmählich zeichnete sich ein anderes Ergebnis ab. Erst viele Jahre später erkannte ich, daß diese negativen Eigenschaften aus Sicht der NSA positiv waren. Ihr Urteil hatte weniger mit meiner Loyalität zu meinem Land zu tun als mit den Enttäuschungen in meinem Leben. Die Wut auf meine Eltern, meine Besessenheit, was Frauen anging, und mein Ehrgeiz, eines Tages ein Leben in Wohlstand zu führen, machten mich verführbar.
Meine Entschlossenheit, in der Schule und beim Sport hervorragende Leistungen zu bringen, meine Rebellion gegen den Vater, meine Fähigkeit, mit Ausländern gut auszukommen, und meine Bereitschaft, die Polizei anzulügen, waren genau die Eigenschaften, die die NSA suchte. Ich entdeckte später auch, daß Farhads Vater für den amerikanischen Geheimdienst im Iran arbeitete; meine Freundschaft mit Farhad erwies sich als wichtiger Pluspunkt.
Einige Wochen nach den Tests der NSA wurde mir eine Ausbildung in der Kunst der Spionage angeboten, die ich einige Monate nach meinem Abschluß an der Universität beginnen konnte. Bevor ich offiziell zusagte, besuchte ich aus einer Laune heraus ein Seminar an der Boston University, bei dem Freiwillige für das Peace Corps rekrutiert
wurden. Für das Peace Corps sprach, daß man wie bei der NSA vom Militärdienst befreit war. Die Entscheidung, das Seminar zu besuchen, war einer dieser Zufälle, die im ersten Moment unbedeutend erscheinen, aber das Leben für immer verändern. Der Seminarleiter beschrieb verschiedene Regionen auf der Welt, für die Freiwillige besonders dringend gebraucht wurden. Eine davon war der tropische Regenwald im Amazonasgebiet, wo, wie er erzählte, die Indios ganz ähnlich wie die Ureinwohner Nordamerikas bis zur Ankunft der Europäer lebten.
Ich hatte schon immer davon geträumt, wie die Abnakis zu leben, die New Hampshire bewohnten, als meine Vorfahren sich dort als Siedler niederließen. Ich wußte, daß Abnaki-Blut in meinen Adern floß, und wollte das jahrhundertealte überlieferte Wissen der Indianer kennenlernen. Nach dem Seminar wandte ich mich an den Leiter und fragte ihn, ob es möglich sei, mit dem Peace Corps ins Amazonasgebiet zu gehen. Er antwortete, in der Region herrsche großer Bedarf an Freiwilligen, meine Chancen seien daher hervorragend. Ich rief Onkel Frank an.
Zu meiner Überraschung ermutigte mich Onkel Frank, zum Peace Corps zu gehen. Er vertraute mir an, daß nach dem Sieg in Vietnam (der damals von Männern in seiner Position als Gewißheit betrachtet wurde) das Amazonasgebiet der nächste Krisenherd sein werde.
»Massenhaft Öl«, sagte er. »Wir werden dort gute Agenten brauchen – Leute, die die Einheimischen verstehen.« Er versicherte mir, das Peace Corps sei ein ausgezeichnetes Übungsfeld, und drängte mich, Spanisch und die Sprachen der Indios zu lernen. »Vielleicht«, kicherte er, »arbeitest du zu guter Letzt für ein privates Unternehmen anstatt für die Regierung.« Ich verstand damals nicht, was er meinte. Ich wurde vom Spion zum EHM befördert, obwohl ich die Bezeichnung noch nie gehört hatte und sie in den nächsten Jahren auch nicht hören sollte. Ich hatte keine Ahnung, daß Hunderte von Männern und Frauen auf der ganzen Welt für Unternehmensberatungen und andere private Unternehmen arbeiteten, Leute, die nie einen Cent von einer Regierungsorganisation bekamen und trotzdem den imperialen Ambitionen der USA dienten. Ebenso wenig konnte ich ahnen, daß ein neuer Typ mit eher euphemistischen Titeln gegen Ende des Jahrtausends zu Tausenden aktiv sein und ich eine wichtige Rolle bei der Ausbildung dieser neuen Armee spielen würde.
Ann und ich bewarben uns beim Peace Corps und baten um einen Einsatz im Amazonasgebiet. Als die Zusage kam, war ich zuerst enttäuscht. Im Brief stand, daß wir nach Ecuador geschickt werden würden. Oh nein, dachte ich. Ich wollte doch ins Amazonasgebiet, nicht nach Afrika. Ich holte mir einen Atlas und suchte Ecuador. Zu meiner Bestürzung konnte ich es nirgends auf dem afrikanischen Kontinent finden. Im Index stellte ich fest, daß Ecuador in Lateinamerika liegt. Auf der Karte sah ich, daß das Flußsystem, das von den Andengletschern gespeist wird, die Quellflüsse für den mächtigen Amazonas bildet. Bei der weiteren Lektüre erfuhr ich, daß der Regenwald von Ecuador zu den artenreichsten und eindrucksvollsten der Welt gehört und die Eingeborenen größtenteils noch so lebten, wie sie es seit Jahrtausenden getan hatten. Wir sagten zu.
Ann und ich absolvierten die Ausbildung für das Peace Corps in Südkalifornien und brachen im September 1968 nach Ecuador auf. Wir lebten im Amazonasgebiet mit Menschen, deren Lebensstil tatsächlich dem der nordamerikanischen Ureinwohner vor der Kolonialzeit ähnelte. In den Anden arbeiteten wir auch mit Nachfahren der Inka zusammen. Wir lernten eine Welt kennen, deren Existenz ich nicht in meinen kühnsten Träumen für möglich gehalten hätte. Die einzigen Südamerikaner, die ich bis dahin kennengelernt hatte, waren die reichen Snobs, die mein Vater unterrichtet hatte. Ich empfand große Sympathie für die Indios, die von der Jagd und der Landwirtschaft lebten. Ich fühlte mich ihnen merkwürdig verbunden. Irgendwie erinnerten sie mich an die Leute in meiner Heimatstadt, die ich stets gemieden hatte. Eines Tages landete ein Mann im Anzug auf der Flugpiste unseres Dorfes. Er hieß Einar Greve und war Vizepräsident bei Chas. T. Main, Inc. (MAIN), einer internationalen Unternehmensberatung, die sich gern im Hintergrund hielt, aber großen Einfluß ausübte. MAIN führte Wirtschaftsanalysen durch, mit denen entschieden wurde, ob die Weltbank Ecuador und seinen Nachbarländern Milliarden Dollar zum Bau von Staudämmen und anderen Infrastrukturprojekten lieh. Einar war außerdem Oberst der Reserve der US Army.
Er sprach mit mir über die Vorteile, wenn man für ein Unternehmen wie MAIN arbeitete. Als ich erwähnte, daß ich vor meiner Anstellung beim Peace Corps von der NSA angenommen worden sei und mit dem Gedanken spiele, für diesen Geheimdienst zu arbeiten, sagte er mir, daß er manchmal als Verbindungsmann der NSA tätig sei. Der
Blick, den er mir dabei zuwarf, weckte bei mir den Verdacht, daß er den Auftrag hatte, meine Fähigkeiten einzuschätzen. Heute glaube ich, daß er mein Profil aktualisierte und vor allem meine Fähigkeiten bewertete, in einer Umgebung zu überleben, in der die meisten Nordamerikaner sich nicht zurechtfinden würden.
Wir verbrachten einige Tage zusammen in Ecuador und hielten danach Briefkontakt. Er bat mich, ihm Berichte zu schicken, in denen ich die wirtschaftlichen Aussichten Ecuadors bewertete. Ich hatte eine kleine Reiseschreibmaschine, schrieb gerne und freute mich, seiner Bitte nachzukommen. Im Lauf von etwa einem Jahr schickte ich Einar mindestens fünfzehn lange Briefe. In diesen Briefen spekulierte ich über die wirtschaftliche und politische Zukunft Ecuadors. Ich berichtete über die wachsende Unzufriedenheit der Indiogemeinschaften und über ihren Kampf gegen Ölgesellschaften, internationale Entwicklungsagenturen und andere Versuche, sie gegen ihren Willen in die moderne Welt zu holen.
Als meine Zeit beim Peace Corps vorüber war, lud mich Einar zu einem Bewerbungsgespräch in die MAIN-Zentrale nach Boston ein. Bei einer privaten Unterhaltung betonte Einar, das Hauptgeschäft von MAIN sei die Entwicklung und Planung von Bauprojekten, aber der größte Kunde, die Weltbank, bestehe seit kurzer Zeit darauf, daß er auch Wirtschaftswissenschaftler beschäftige. Sie sollten kritische Wirtschaftsprognosen erstellen, mit deren Hilfe man die Machbarkeit und den Umfang der Projekte einschätzen könne. Er vertraute mir an, er habe vor kurzem drei hochqualifizierte Wirtschaftswissenschaftler mit makellosen Zeugnissen eingestellt – zwei mit einem Master und einen mit einem Doktortitel. Sie waren kläglich gescheitert.
»Keiner von ihnen«, erklärte Einar, »war in der Lage, Wirtschaftsprognosen für Länder zu erstellen, in denen es keine verläßlichen Statistiken gibt.« Er fuhr fort, alle wären außerstande gewesen, die Konditionen ihres Arbeitsvertrags zu erfüllen, zu denen auch Reisen in ferne Länder wie Ecuador, Indonesien, Iran und Agypten gehörten. Dort sollten sie mit lokalen Politikern sprechen und die Aussichten für die wirtschaftliche Entwicklung der Region persönlich beurteilen. Einer hatte in einem abgelegenen Dorf in Panama einen Nervenzusammenbruch erlitten, er wurde von der panamesischen Polizei zum Flughafen eskortiert, in ein Flugzeug gesetzt und zurück in die USA geschickt. »Die Briefe, die Sie mir geschickt haben, zeigen, daß Sie sich vorwagen, selbst wenn es
keine harten Fakten gibt. Und in Anbetracht Ihrer Lebensumstände in Ecuador bin ich mir sicher, daß Sie fast überall überleben können.« Einar sagte mir, er habe bereits einen Wirtschaftsexperten entlassen und werde auch die beiden anderen feuern, wenn ich die Stelle annehmen sollte.
Im Januar 1971 wurde mir also eine Position als Wirtschaftswissenschaftler bei MAIN angeboten. Ich war gerade 26 geworden – das magische Alter, in dem mich die Einberufungsbehörde nicht mehr wollte. Ich beriet mich mit Anns Eltern, sie ermutigten mich, die Stelle anzunehmen. Ich nahm an, daß sie damit auch Onkel Franks Meinung zum Ausdruck brachten. Ich erinnerte mich, wie er gesagt hatte, daß ich womöglich eines Tages für ein privates Unternehmen arbeiten würde. Es wurde nie ausgesprochen, aber ich war mir sicher, daß meine Anstellung bei MAIN Teil jener Arrangements war, die Onkel Frank vor drei Jahren getroffen hatte. Dazu kamen natürlich noch meine Erfahrungen in Ecuador und meine Bereitschaft, über die politische und wirtschaftliche Situation des Landes zu berichten. Das Angebot stieg mir zu Kopf, und ein paar Wochen lang trug ich die Nase sehr hoch.
Ich hatte an der Boston University nur den Grad eines Bachelor erworben, was nicht gerade als Qualifikation für eine Stelle als Volkswirt bei einer renommierten Unternehmensberatung taugte. Ich wußte, daß viele meiner Kommilitonen an der BU, die untauglich gewesen waren und daher bis zum Master und anderen akademischen Graden weiterstudiert hatten, sich vor Neid verzehren würden. Ich sah mich selbst als schneidigen Geheimagenten, der in exotische Länder reiste und sich mit einem Martini in der Hand, umringt von schönen Bikinimädchen, lässig in einem Liegestuhl am hoteleigenen Swimmingpool herumlümmelte.
Das waren freilich Hirngespinste, doch ich sollte bald feststellen, daß meine tatsächlichen Aufgaben meine Phantasien weit übertrafen. Ich war James Bond näher, als ich es mir jemals hätte träumen lassen.
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