8 Jesus, einmal anders gesehen
Bekenntnisse eines Economic Hitman
- Siehe auch FT: John Perkins: Bekenntnisse eines Economic Hit Man
Die Erinnerung an diesen Dalang und an die Worte der hübschen Englischstudentin verfolgte mich. Dieser Abend in Bandung hob mich auf eine neue Ebene des Denkens und Fühlens. Zwar war ich auch bisher nicht gleichgültig gewesen gegenüber den Folgen unseres Tuns, aber meine Reaktionen waren emotional gesteuert worden, und meist war es mir gelungen, meine Gefühle zu unterdrücken, indem ich die Vernunft ins Spiel brachte, die Geschichte und den biologischen Imperativ. Ich hatte unser Handeln als etwas grundlegend Menschliches gerechtfertigt und mir eingeredet, daß Einar, Charlie und der Rest unseres Teams einfach nur das taten, was Männer immer tun: für sich selbst und für ihre Familien zu sorgen.
Das Gespräch mit diesen jungen Indonesiern zwang mich jedoch, die Dinge auch von einer anderen Seite zu sehen, sie gewissermaßen mit ihren Augen zu betrachten. Eine eigennützige, egoistische Außenpolitik, erkannte ich, trägt nichts bei zur Sicherung künftiger Generationen. Sie ist kurzsichtig, ebenso wie die Jahresberichte der Konzerne
und die Wahlkampfstrategien der Politiker, die diese Außenpolitik bestimmen. Es stellte sich heraus, daß ich häufiger nach Jakarta mußte, um jene Daten zu beschaffen, die ich für meine Wirtschaftsprognosen benötigte. Ich nutzte die Zeit, die ich für mich allein hatte, um über diese Fragen nachzudenken und meine Gedanken dazu in einem Tagebuch festzuhalten. Ich streifte durch die Straßen dieser Stadt, schenkte Bettlern Geld und versuchte, mit Aussätzigen, Prostituierten und Obdachlosen ins Gespräch zu kommen.
Die ganze Zeit dachte ich über das Wesen der Auslandshilfe nach und darüber, wie die entwickelten Länder zur Linderung von Armut und Elend in den Entwicklungsländern beitragen könnten. Ich grübelte darüber nach, wann Auslandshilfe ernst gemeint und echt ist und wann eigennützig und selbstsüchtig. Ich begann mich sogar zu fragen, ob derartige Hilfe überhaupt je altruistisch sein könne, und wenn nicht, wie sich dies ändern ließe. Ich war überzeugt, daß Länder wie mein eigenes eine Verpflichtung besaßen, den Armen und Kranken der Welt zu helfen, aber mir war genauso klar, daß dies nur selten – wenn überhaupt – das eigentliche Motiv für unser Eingreifen war.
Immer wieder kam ich auf die Hauptfrage zurück: Wenn die Auslandshilfe imperialistischen Zwecken dient, ist das wirklich so falsch? Häufig ertappte ich mich dabei, daß ich Leute wie Charlie beneidete, die so unerschütterlich an unser System glaubten, daß sie es dem Rest der Welt aufzwingen wollten. Ich bezweifelte, ob die begrenzten Ressourcen es der gesamten Welt ermöglichen würden, einen ähnlich verschwenderischen Lebensstil wie die Vereinigten Staaten zu pflegen, denn schließlich lebten sogar in den USA Millionen Menschen in Armut. Außerdem war ich nicht völlig überzeugt davon, daß die Menschen in anderen Ländern wirklich so leben wollten wie wir. Unsere Statistiken über Gewalt, Depressionen, Drogenmißbrauch, Scheidungen und Verbrechen wiesen darauf hin, daß wir zwar eine sehr wohlhabende, aber auch eine sehr unglückliche Gesellschaft waren. Weshalb sollten andere Völker ausgerechnet uns nacheifern?
Womöglich hatte Claudine mich vor all dem gewarnt. Ich war mir nicht mehr sicher, was sie mir eigentlich hatte sagen wollen. Mittlerweile war mir klar geworden, daß ich meine Unschuld verloren hatte. Ich schrieb in mein Tagebuch: Ist irgendjemand in den USA unschuldig? Zwar profitieren jene am meisten, die an der Spitze der wirtschaftlichen Pyramide stehen, aber der Lebensstandard von Millionen von Menschen in den reichen Ländern hängt direkt oder indirekt von der Ausbeutung der Entwicklungsländer ab. Die Rohstoffe und die billigen Arbeitskräfte, die nahezu unsere gesamte Wirtschaft am Laufen halten, kommen aus Ländern wie Indonesien, und nur ein sehr geringer Anteil der Wertschöpfung fließt zurück in diese Länder. Die Kredite der Auslandshilfe sorgen dafür, daß heute die Kinder und künftig deren Kindeskinder als Geiseln gehalten werden. Sie müssen hilflos zusehen, wie unsere Konzerne die Rohstoffe ihrer Länder plündern, und werden auf Bildung, Gesundheit und andere soziale Dienste verzichten müssen, nur um uns Zinsen und Tilgung zu zahlen. Die Tatsache, daß unsere Konzerne bereits den Großteil dieses Geldes erhalten haben, um Kraftwerke, Flughäfen und Industrieparks zu bauen, wird in dieser Rechnung nicht berücksichtigt. Den meisten Amerikanern muß man zugute halten, daß sie sich dieser Tatsachen nicht bewußt sind, aber bedeutet das auch, daß sie unschuldig sind? Sie sind nicht informiert oder wurden bewußt falsch informiert, das stimmt – aber sind sie deshalb auch unschuldig?
Natürlich konnte ich mich nicht mehr darüber täuschen, daß ich ebenfalls zu jenen gehörte, die andere gezielt falsch informierten. Die Vorstellung eines weltweiten »heiligen Krieges« war für mich äußerst beunruhigend, aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr kam ich zu der Überzeugung, daß er stattfinden könnte. Doch meiner Meinung nach würde dieser Dschihad weniger zwischen den Muslimen und den Christen als zwischen den unterentwickelten und den entwickelten Ländern ausgetragen werden, vielleicht mit Muslimen an der vordersten Front. Wir, die Bewohner der entwickelten Länder, verbrauchten die Rohstoffe; die Menschen in den unterentwickelten Ländern lieferten sie uns. Die kolonialistischen Handelsstrukturen waren noch immer in Kraft; Sie ermöglichten es jenen, die über Macht, aber nicht über Rohstoffe verfügten, jene anderen auszubeuten, die Rohstoffe besaßen, aber keine Macht.
Ich mußte nicht erst das Buch von TTooyynnbbeeee lesen, denn ich verstand genug von Geschichte, um zu wissen, daß Lieferanten, wenn sie lange genug ausgebeutet werden, eines Tages rebellieren. Dazu brauchte ich nur an die Amerikanische Revolution und an TThhoommaass PPaaiinnee denken. Ich erinnerte mich daran, daß Großbritannien seine Steuerforderungen an die Kolonien in Neuengland damit begründet hatte, daß es die Siedler militärisch vor den Franzosen und den Indianern schütze. Die Kolonisten aber sahen das ganz anders.
Mit seiner brillanten Schrift COMMON SENSE lieferte PPaaiinnee seinen Landsleuten jene Seele, auf die sich auch meine jungen indonesischen Freunde bezogen hatten – eine Idee, einen Glauben an die Gerechtigkeit einer höheren Macht und eine Religion der Freiheit und Gleichheit, die der britischen Monarchie und ihrer elitären Klassengesellschaft diametral entgegengesetzt waren. Die Muslime legten ein ähnliches Gedankengebäude vor: den Glauben an eine höhere Macht und die Überzeugung, daß die entwikkelten Länder nicht das Recht haben, den Rest der Welt zu unterwerfen und auszubeuten. Ähnlich wie die Freiwilligen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg drohten die Moslems, den Kampf für ihre Rechte aufzunehmen, und ähnlich wie die Briten des 18. Jahrhunderts bezeichnen wir diese Handlungen als Terrorismus. Die Geschichte schien sich zu wiederholen.
Ich überlegte mir, wie die Welt wohl beschaffen sein würde, wenn die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten all das Geld, das sie für Kolonialkriege – wie beispielsweise für den Vietnamkrieg – ausgegeben hatten, dafür eingesetzt hätten, den Hunger auf der Welt auszurotten oder allen Menschen, auch der Bevölkerung der USA, eine
elementare Schulbildung und Gesundheitsversorgung zu bieten. Ich dachte darüber nach, was es für künftige Generationen bedeuten würde, wenn wir uns der Aufgabe verschreiben würden, die Ursachen von Not und Elend zu beseitigen und die Wasserreservoirs, die Wälder und andere Naturräume zu schützen, die uns sauberes Wasser, frische Luft und all jene Dinge liefern, mit denen wir unseren Geist und unseren Körper stärken. Ich konnte nicht glauben, daß die Gründerväter das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück nur für Amerikaner gefordert hatten, und ich fragte mich, weshalb wir jetzt Strategien verfolgten, die gerade jenen imperialistischen Zielen verpflichtet waren, gegen die jene Pioniere einst in Amerika gekämpft hatten. In meiner letzten Nacht in Indonesien erwachte ich aus einem Traum, setzte mich im Bett auf und machte das Licht an. Ich hatte das Gefühl, daß noch jemand in meinem Zimmer sei. Ich ließ meine Blicke über das vertraute Mobiliar des Hotels InterContinental wandern, die Batik-Bildteppiche und die gerahmten Schattenpuppen, die an den Wänden hingen. Dann kehrte der Traum zurück.
Ich hatte Jesus gesehen, er stand dicht vor mir und sah aus wie jener Jesus, mit dem ich als kleiner Junge jeden Abend geredet hatte, nachdem ich meine Gebete gesprochen hatte. Der Unterschied bestand darin, daß der Jesus meiner Kindheit hellhäutig und blond gewesen war, während dieser Jesus hier gelockte dunkle Haare und eine dunkle Hautfarbe hatte. Er kniete sich auf den Boden und wuchtete sich etwas auf die Schulter. Ich nahm an, es sei ein Kreuz. Doch dann sah ich, daß es eine Autoachse war, an der noch eine Felge hing, die über seinen Kopf hinausragte und einen metallischen Heiligenschein bildete. Er richtete sich auf, sah mir in die Augen und sagte: »Wenn ich jetzt in die Welt kommen würde, würdet ihr mich anders sehen.« Ich fragte ihn, weshalb. »Weil sich die Welt verändert hat«, erwiderte er.
Ich warf einen Blick auf die Uhr und sah, daß es kurz vor Tagesanbruch war. Ich wußte, ich würde nicht wieder einschlafen können, daher zog ich mich an, fuhr mit dem Aufzug in die leere Hotelhalle hinab, ging in den Garten hinaus und wanderte um den Swimmingpool. Der Mond schien hell; der süße Duft von Orchideen lag in der Luft. Ich setzte mich in einen Stuhl und überlegte, was ich hier eigentlich tat, weshalb mich das Schicksal hierher verschlagen hatte, warum gerade nach Indonesien. Ich wußte, mein Leben hatte sich verändert, aber ich ahnte nicht, wie einschneidend die Veränderung noch werden würde.
Ann und ich trafen uns auf meiner Heimreise in Paris und unternahmen noch einmal einen Versöhnungsversuch. Aber auch während dieses Urlaubs in Frankreich stritten wir unablässig. Obwohl es auch schöne und wundervolle Augenblicke gab, kamen wir, wie ich glaube, gemeinsam zu der Erkenntnis, daß die vielen Verletzungen und Spannungen unserer letzten Jahre eine zu hohe Barriere für unsere Ehe waren. Außerdem gab es vieles, was ich nicht mit Ann besprechen konnte. Der einzige Mensch, mit dem ich über meine Gedanken hätte sprechen können, war Claudine, und ich dachte ständig an sie. Ann und ich landeten auf dem Logan Airport in Boston und fuhren mit einem Taxi zu unseren getrennten Wohnungen an der Back Bay.
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