Wws-T1: Die frühe Prägung von Annäherungs- und Vermeidungsverhalten Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Die frühe Prägung von Annäherungs- und Vermeidungsverhalten
Vereinfacht würde man sagen: Ob ich etwas gerne mache, hängt damit zusammen, ob ich es mag. Und ob ich etwas mag, hängt wiederum davon ab, ob ich aufgrund meiner Erfahrung Zugang dazu habe. Die fachliche Sicht darauf lautet: Es hängt von meiner emotionalen Bewertung ab, ob ich mich einem Ziel annähern möchte oder ob ich es lieber vermeide. Meine emotionale Bewertung ist dabei eng verknüpft mit meinen früheren Erfahrungen.
Wenn ich als Kind viele negative Erfahrungen gemacht habe und häufig auf Zurückweisung gestoßen bin, dann rechne ich auch in der Zukunft eher mit einer Zurückweisung als mit einem Zuspruch. Das hat auch Einfluss auf unseren Umgang mit gänzlich unbekannten Situationen:
Selbst wenn ich keine negative Erfahrung in einem bestimmten Umfeld
gemacht habe, bin ich als Erwachsener dann skeptischer gegenüber Neuem
als ein positiv geprägter Mensch. Kurz: Positive Emotionen lösen Annäherungsverhalten aus, negative Emotionen Vermeidungsverhalten. Wenn ich also erwarte, dass mein Bedürfnis nach Nähe und Zugehörigkeit frustriert wird, dann möchte ich die damit verbundene Emotion der Enttäuschung vermeiden. Rechne ich mir hingegen gute Chancen aus, auf Zustimmung zu stoßen, dann löst die damit einhergehende antizipierte Freude ein Annäherungsverhalten aus.
Kleiner Exkurs: Positive und negative Emotionen
Im allgemeinen Sprachgebrauch unterscheiden wir häufig zwischen »positiven« und »negativen« Emotionen. Unter den positiven Emotionen versteht man – logischerweise – alle Gefühlszustände, die uns Spaß machen: Freude, Hoffnung, Stolz oder Liebe gehören zum Beispiel dazu. Die »negativen« Emotionen sind das Gegenteil davon: Dazu gehören zum Beispiel Angst, Wut, Trauer oder Neid. Es gibt inzwischen einige Entwicklungspsychologen und Pädagogen, die diese Unterscheidung für nicht sinnvoll halten. Der bekannte Erziehungsberater und Bestsellerautor Jan-Uwe Rogge (018) beispielsweise begründet das damit, dass durch die Unterteilung in erwünschte und unerwünschte Gefühlszustände kein konstruktiver Umgang mit den negativen Emotionen stattfände. Unsere Tendenz sei dann nämlich, die negativ besetzten Gefühle möglichst schnell stillzulegen. Dadurch lernen Kinder aber nicht, wie sie mit ihrer Wut oder Angst umgehen können.
Auch manchem Erwachsenen fällt es dadurch schwer, sich diesen Emotionen zu stellen: Sie werden unterdrückt oder man verleugnet einfach, dass man wütend oder traurig ist. Das ist selbstverständlich auch nicht in meinem Sinn. Ich halte es für extrem wichtig, die gesamte Bandbreite der eigenen Gefühle wahrzunehmen, zu akzeptieren und bewusst damit umzugehen. Trotzdem werde ich im Folgenden die bewertende Formulierung »negativ und positiv« verwenden. Das bezieht sich nicht auf das Negieren bestimmter Emotionen, sondern darauf, dass wir bestimmte Gefühlszustände nun einmal unterschiedlich mögen. Wer ist schon gerne traurig oder ängstlich?
Wenn ein Mensch in seiner Kindheit vorwiegend Vermeidungsziele entwickelt hat, dann ist ihm das meistens nicht bewusst. Durch die lebenslang trainierte Vermeidungshaltung verspürt der betreffende Mensch kaum noch den Wunsch, einen positiven Zustand herzustellen. Es fehlt ihm die notwendige positive Annäherungs-Emotion wie beispielsweise der Wunsch nach Nähe oder Vorfreude. Zum besseren Verständnis möchte ich noch einmal einen Blick in die Kindheit werfen, in der sich normalerweise entscheidet, ob jemand vorwiegend Annäherungs- oder Vermeidungsziele entwickelt. Wenn ein Säugling und späteres Kleinkind wiederholt die Erfahrung macht, dass seine Mutter oder sein Vater nicht oder sogar negativ auf sein Annäherungsverhalten reagieren, dann wird es irgendwann die Annäherungsversuche einstellen. Hierdurch erspart es sich den Schmerz der Zurückweisung.
Mit der Vermeidung wird aber nicht nur das Annäherungsverhalten gehemmt, sondern auch der Wunsch nach Nähe. Dieser wird im Gehirn des Kindes immer wieder gehemmt, damit die Vermeidung gelingen kann. Die Ausschüttung von Kuschelhormonen wie Oxytocin findet zu selten statt, ein richtiges Nähegefühl kann sich in diesem Kind nicht entwickeln. Das macht ihm allerdings auch die Vermeidung leichter: Wo kein starker Wunsch ist, kann man leichter auf Annäherung verzichten. Oder umgekehrt formuliert: Je stärker ich wünsche, desto motivierter bin ich, meine Ziele zu erreichen. Mit der erlernten Vermeidung geht also eine starke Hemmung von positiven Gefühlen einher beziehungsweise entwickeln sich diese Gefühle im Gehirn des Betroffenen nicht oder nur sehr schwach, weil sie hormonell nicht eingespurt werden.
Der spätere Erwachsene kennt das Gefühl »Ich fühle mich nähebedürftig« also in gewisser Weise nicht. Es ist bei ihm viel schwächer ausgeprägt und tritt viel seltener auf als bei einem Erwachsenen mit positiven Kindheitserfahrungen. Auch der Schmerz der Zurückweisung ist ihm nicht so vertraut, weil er so früh gelernt hat, diesen zu vermeiden. Die Sehnsucht nach Nähe und Verliebtheitsgefühle spürt er, wenn überhaupt, nur am Anfang einer Beziehung, solange er sich noch nicht in seinem Autonomiebedürfnis bedrängt fühlt (siehe auch »Verlustangst und Bindungsangst«).
Da die Vermeidungshaltung so früh im Gehirn der Betroffenen entstanden ist, ist sie ihrer bewussten Erinnerung nicht zugänglich. Das eigene Gehirn ist ja die einzige Referenz, und solange man mit seinen Gefühlen identifiziert ist, erscheinen sie einem als normal und angemessen.
Menschen, die eine frühe Schädigung in ihrem Bindungsverhalten erworben haben, stehen deswegen etwas hilflos jenen gegenüber, die sich mehr Zuwendung und Liebe von ihnen erhoffen. Im Grunde genommen wissen sie nicht so richtig, was der andere von ihnen will und was so verkehrt an ihrem Verhalten sein soll. Ihnen fehlt die Empathie, sich in einen Menschen hineinzuversetzen, dem Nähe und Verbindlichkeit wichtig sind, weil sie diese Gefühle kaum kennen. Wie ich bereits unter dem Abschnitt »Unsichere Bindungsstile« geschrieben habe, verspüren sie stattdessen vonseiten ihrer Beziehungspartner vorrangig einen starken Erwartungsdruck, der ihre Autonomie einengt und starke Fluchtimpulse in ihnen auslöst.
Anders verhält es sich bei Kindern, die einen anklammernden Bindungsstil entwickeln. Wie ich bereits erwähnt habe, machen diese Kinder sehr wechselhafte Erfahrungen mit ihrer Mutter. Während die Mütter von vermeidend-gebundenen Kindern zuverlässig unzuverlässig sind, gestalten die Mütter von anklammernd-gebundenen den Kontakt zu ihrem Kind nach ihrer persönlichen Laune. Mal sind sie liebevoll und zugewandt, dann wieder abweisend und kühl. Das Kind weiß nie, woran es mit seiner Mutter ist. Auch in diesem Fall ist das Bindungsbedürfnis des Kindes frustriert, schließlich erfährt es immer wieder Zurückweisungen und abrupte Stimmungswechsel. Aber mindestens ebenso stark ist sein Kontrollbedürfnis betroffen. Dieses Kind erfährt zwar immer wieder nahe und liebevolle Momente mit seiner Mutter, aber diese unterliegen in keiner Weise seiner Kontrolle. Die Mutter reagiert immer nur dann, wenn es ihr gerade passt. Das Kind bezieht das wechselhafte Verhalten seiner Mutter aber auf sich selbst. Es denkt also nicht »Mama ist total launenhaft und sollte vielleicht mal in eine Psychotherapie«. Es denkt und fühlt stattdessen: »Ich bin nicht gut genug!« Deswegen strengt es sich mächtig an, der Mutter zu gefallen und Kontrolle über die Situation herzustellen. Das anklammernd-gebundene Kind ist ständig damit beschäftigt, die Aufmerksamkeit der Mutter zu erhalten. Es testet immer wieder, wie die Mutter reagiert. Wenn die Mutter fortgeht, ist sofort seine Verlustangst und damit einhergehend sein Kontrollbedürfnis aktiviert. Das Kind entwickelt also ein starkes Annäherungsmotiv, die Zuwendung der Mutter zu sichern. Gleichzeitig hat es schlimme Angst, die Nähe der Mutter zu verlieren, und entwickelt deswegen auch ein starkes Vermeidungsmotiv: »Mama darf nicht weggehen.« Die mit dem Verlust einhergehende Angst und Enttäuschung müssen vermieden werden. Die Kinder stehen unter einer ständigen Anspannung. Auch als Erwachsene werden diese Kinder stark mit dem Thema Kontrolle beschäftigt sein. Der oder die Erwachsene sehnt sich nach engen Liebesbeziehungen, ist jedoch ständig besorgt, diese auch wieder zu verlieren. Menschen mit dieser Prägung geben sich selbst schnell die Schuld, wenn die Beziehung nicht gut läuft. Wie ich es bereits unter dem Abschnitt »Unsichere Bindungsstile« erwähnt habe, sind anklammernd Gebundene am stärksten gefährdet, sich in eine Beziehung mit einem »toxischen« Partner zu verstricken.
Wenn ein Mensch vorwiegend Vermeidungsmotive aufweist, so ist sein ganzes psychisches System darauf ausgerichtet, eher negative Emotionen zu generieren. Das hat den psycho-logischen Sinn, Konsistenz herzustellen.
Wenn ich etwas vermeiden will, dann fühlt es sich konsistenter an, wenn ich diese Situation oder diesen Menschen auch entsprechend negativ bewerte.
Möchte ich beispielsweise Flugangst vermeiden, dann ist es sinnvoll, wenn ich mir die Nachteile für die Umwelt beim Fliegen vor Augen halte und mir das Fernreiseziel kleinrede. Wenn ich vermeiden möchte, in einer Liebesbeziehung enttäuscht zu werden, dann fällt mir es leichter, einen gewissen Sicherheitsabstand zu meinem Liebesobjekt einzuhalten, wenn ich auf dessen Schwächen fokussiere. Fürchte ich grundsätzlich von anderen Menschen enttäuscht zu werden, dann macht es Sinn, diese argwöhnisch zu betrachten.
Verfolge ich hingegen vorwiegend Annäherungsmotive, dann werde ich automatisch mehr angenehme Gefühle mit meinem Ziel verbinden. Ich fokussiere auf die Stärken meines Liebesobjekts, auf die Vorteile einer beruflichen Aufstiegschance, oder ich hege generell ein positives Menschenbild. Menschen, die vorwiegend Annäherungsziele verfolgen, sind besser gelaunt und hegen mehr positive Gefühle als Menschen, die ihr Leben eher in der Defensive verbringen.
Ob ich mein Dasein jedoch eher als Frohnatur oder als Miesepeter vollziehe, hängt nicht allein von meinen Prägungen, sondern auch von meiner genetischen Ausstattung ab.
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