Philipp wählt die falschen Partner aus

Philipp, 32 Jahre, sehnt sich nach einer festen Beziehung, in der er Geborgenheit und Halt findet. Er ist schon viele Jahre Single und verliebt sich immer wieder in Männer, die viel älter als er oder bereits vergeben sind. Doch nach ersten Dates und anfänglicher Anziehung wenden sich potenzielle Partner schnell wieder von ihm ab. Er scheint sie entweder zu langweilen, zu bedrängen oder zu ich-bezogen zu sein. Er befürchtet, dass dieses Muster an der Abwertung liegt, die er in seiner Kindheit durch Eltern und Stiefvater erfahren hat.

„Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass mich andere Männer nervig und anstrengend finden. Ich bin schon sehr lange Single. Es belastet mich, dass ich keine Beziehung habe, niemanden länger an mich binden kann. Meine Dates sind meistens einmalig, und ich stehe überwiegend auf Männer, die viel, vielb älter sind. Und die ganz oft schon vergeben sind.“

1. Unter welcher Inkonsistenz leidet Philipp und wie hängt dies mit seinem Selbstwertgefühl zusammen?

„Ich hatte bislang nur eine Beziehung mit einem 20 Jahre älteren Mann, das war vor gut zehn Jahren und ging ungefähr drei Jahre lang. Zwischen uns gab es ein großes Ungleichgewicht. Er war viel bodenständiger als ich. Er wusste, was er wollte, hatte Hobbys, feste Freunde, einen festen Job. Ich war damals 21, gerade frisch nach Berlin gezogen. Ich hatte ein großes, emotionales Paket auf dem Rücken: Ich hatte eine ziemlich schwierige Kindheit. In meinem Leben gab es keine Vaterfigur, die mich geliebt und wertgeschätzt hat. Ältere Männer ziehen mich deshalb vielleicht schon seit meiner Kindheit an. Mit
ungefähr fünf sah ich im Schwimmbad in meinem Dorf so einen Mann, haarige Brust, Schnauzbart, den fand ich sehr attraktiv. Der war sehr selbstsicher und beliebt im Dorf, ein Hetero-Mann, der Familie hatte.

2. Was hat Philipp in seinen älteren Partner projiziert? Und welche psychischen Grundbedürfnisse sind hier involviert?

„Im Nachhinein glaube ich, dass ich in meinem damaligen Partner einen Vaterersatz gesucht habe. Vermutlich ging es in dieser Beziehung auch zu viel um mich. Wir haben viel unternommen, hatten Sex, was sehr schön war. Wir hatten auch viel Spaß, mit ihm konnte man rumblödeln. Aber es ging sehr viel um meine Themen, er musste viel zuhören. Ich habe viel gejammert. Natürlich wollte ich auch Liebe geben, aber ich habe das nicht so gut hingekriegt. Nach drei Jahren hat er sich von mir getrennt. Da bin ich in ein riesiges Loch gefallen.“

Hier reflektiert Philipp, dass er sehr bedürftig nach Anerkennung und Bindung gewesen ist und seinen Partner mit dieser Bedürftigkeit wohl überfordert hat. Wer selbst viel zu kurz gekommen ist, hat oft nicht viel zu verschenken.

„Heute kann ich mich selbst besser aushalten. Ich habe studiert und arbeite jetzt. Ich bin selbstständiger und erwachsener geworden. Aber in mir nagt diese Sehnsucht, von jemandem geliebt zu werden. Körperliche Nähe, Zärtlichkeiten – das fehlt mir unheimlich. Wenn ich mal jemanden kennenlerne, stehe ich unter großem Druck und denke, was soll ich erzählen? Ich finde mein Leben gar nicht so spannend.“

3. Hier zeigt sich, dass Philipp viel geschaft hat. Das scheint jedoch sein Schattenkind, also sein geringes Selbstwertgefühl, nicht zu heilen. Welche Glaubenssätze schimmern hier durch?

„Früher habe ich es immer so erlebt, dass die Männer mich zwar ganz gut aussehend fanden, aber schnell ihr Interesse verloren haben. Vor ungefähr drei Monaten hatte ich ein Date mit einem älteren Psychotherapeuten. Der meinte, was ihm an mir auffällt, sei dieses Muster, dass ich auf der einen Seite nach Liebe suche und mich auf der anderen Seite sehr abwerte. Er hatte recht, auch wenn er mich mit dieser Erkenntnis ziemlich alleingelassen hat: Ich finde jemanden toll, will ihm unbedingt näherkommen, und gleichzeitig weiß ich gar nicht, was der an mir gut finden könnte. Dann verkrampfe ich mich – und das ist schon der Anfang vom Ende.“

Hier zeigt sich mal wieder, wie Sich-selbst-erfüllende-Prophezeiungen funktionieren: Aufgrund seines schlechten Selbstbildes verkrampft Philipp sich so sehr, dass er tatsächlich uninteressant auf andere wirkt.

„Die Wurzeln liegen vielleicht in meiner Kindheit: Mein biologischer Vater, der wollte mich nicht, ich war für ihn ein Unfall. Von meiner Mutter war ich gewollt. Als ich drei Jahre alt war, hat sie meinen Stiefvater kennengelernt. Bei unserer allerersten Begegnung habe ich mich unter dem Esstisch verkrochen, so eine tiefe und laute Stimme hatte er. Das war der Beginn einer sehr, sehr schwierigen Beziehung, die geprägt war von Demütigungen und Anschreien.“

4. Hier erfahren wir, wie viel Verlust und Ablehnung Philipp als Kind erlebt hat. Seine Mutter hat ihn zwar gewollt, setzt ihm dann aber diesen Stiefvater vor die Nase. Welche Spuren könnte das in Philipp hinterlassen haben?

„Als ich 14 war, hat sich meine Mutter getrennt, und ich bin bei meinem Stiefvater geblieben. Sie hat mich über Nacht vor die Entscheidung gestellt, ob ich mit ihr mitkommen möchte. Sie ist in eine andere Stadt gezogen. Ich war völlig überrumpelt und überfordert.“

Hier zeigt sich noch einmal, dass Philipps Mutter stärker mit ihren eigenen Bedürfnissen als mit denen ihres Kindes beschäftigt gewesen ist. Wieder macht Philipp die Erfahrung, im Stich gelassen zu werden.

„Aber ich wollte bleiben, weil ich meine Freunde und meine Schule nicht verlieren wollte. Im Nachhinein war das ein großer Fehler. Mit 19, kurz vor meinem Abi, bin ich von meinem Stiefvater rausgeschmissen worden. … und wieder eine krasse Abfuhr … Eine einzige gute Bindungsperson hatte ich, als ich Kind war: Das war mein Opa. Der ist gestorben, als ich vier Jahre alt war. Ich habe ihn als sehr liebevoll wahrgenommen, er war ein sensibler Mann.“

Der Opa ist ein Segen für Philipp gewesen, konnte er doch die mangelnde Liebesfähigkeit von Philipps Eltern etwas auffangen. Leider ist er viel zu früh aus Philipps Leben verschwunden. Also wieder ein schlimmer Verlust für Philipp.

„Ich habe mich auch von meiner Mutter lange nicht wirklich geliebt und wertgeschätzt gefühlt. Ich war ein sehr aktives Kind und hatte oft das Gefühl, dass ich sie nerve. Schlagen und Schreien gab es bei ihr auch.“

5. Welche Botschaft hat Philipp von seiner Mutter erhalten?

„Es hat viel Zeit und Arbeit gebraucht, dass ich jetzt zu ihr ein gutes Verhältnis habe.“

Hier liegt die Vermutung nahe, dass Philipp eher derjenige gewesen ist, der die Arbeit geleistet hat …

„Mit 19 habe ich meinen leiblichen Vater angerufen, und wir haben persönlichen Kontakt aufgenommen. Das war total schön. Ich habe geweint, als ich ihn das erste Mal gesehen habe. Aber dann habe ich ihn zu sehr mit meiner Bedürftigkeit überfordert, ein halbes Jahr später hat er den Kontakt abgebrochen. Ich habe ihn noch ein paarmal gefragt, ob wir darüber reden können, was schiefgelaufen ist, aber er wollte nicht.“

6. Es scheint eine schier endlose Wiederholung von Zurückweisungen in Philipps Leben zu geben. Dabei fällt auf, dass er sich hierfür automatisch selbst die Schuld zuweist. Er könnte ja auch sagen, dass sein Vater eine große Beziehungsschwäche hat. Was sagt der Umstand, dass er immer bei sich den Fehler sucht, über Philipps motivationales Schema aus?

„Meine Mutter ist der einzige richtige Halt, den ich zurzeit habe. Vielleicht scheint die Mutter heute wieder einiges gutzumachen, was sie früher versäumt hat. Meine Freunde nehmen das alles nicht richtig ernst. Die sagen: »Ach, du bist so eine Drama-Queen, du jammerst immer nur. Sei doch mal positiv. Ich finde mich auch irgendwie uncool, aber keiner von denen kann sich vorstellen, was ich durchgemacht habe.“

Philipp möchte unbedingt, dass andere Menschen Anteil an seinem Erleben nehmen und verstehen, was er durchgemacht hat. Womöglich drückt er das in einer Art und Weise aus, dass andere – mal wieder – genervt sind. Und/oder umgekehrt: Auch seine Freunde verstehen ihn nicht.

„Meine größte Sehnsucht ist, dass mich jemand gernhat, so wie ich bin. Manchmal denke ich, ich bin es nicht wert, gut behandelt zu werden. Ich kenne es ja nicht anders, habe jahrelang immer nur zurückgemeldet bekommen, dass ich nicht genüge. Dieser Gedanke bedrückt mich sehr. Ich fühle mich, wenn ich ehrlich bin, schon seit meiner Kindheit depressiv. Manchmal hatte ich auch Selbstmordgedanken.“

7. Depressionen sind gekennzeichnet von Gefühlen der Wert- und Sinnlosigkeit. Wie hängt das mit Philipps internaler Kontrollüberzeugung zusammen?

„Aber ich möchte dieses Gefühl endlich wegbekommen, will nicht mehr, dass meine Seele ständig so negativ ist, in allem Gefahren wittert. Manchmal weiß ich gar nicht, ob ich mit diesem Gefühl der Wertlosigkeit eine schöne Erfahrung und eine gute Begegnung überhaupt zulassen kann. Trotzdem möchte ich den Mut haben, mich darauf einzulassen.“

8. Warum dürfte es Philipp Mut kosten, sich auf eine schöne Erfahrung einzulassen?

„Ich möchte mich nicht mehr an Beziehungen hängen, wo ich nur mit Ablehnung rechnen muss. Dass ich mir immer wieder Männer aussuche, die schon vergeben sind, hat ja auch damit zu tun. Ich bestätige mir immer wieder: Ich bin es nicht wert, dass mich jemand wirklich liebt. Oder wenn ein Date nichts wird, dann denke ich sofort etwas wie: »Ja, das lag wieder an mir, weil ich zu langweilig bin.«“

9. Warum scheint Philipp geradezu die Zurückweisung zu suchen?

„Aber ich spüre, dass eigentlich viel mehr in mir steckt als das, was ich zeige. Dass es eine Stimme in mir gibt, die an mich glaubt, die gut zu mir ist. Das Abwertende dagegen – das sind die negativen Gedanken und Verhaltensweisen meines Umfeldes von damals, die haben mich so geprägt. Das Gefühl der Wertlosigkeit gehört eigentlich zu meinen Eltern, die haben großen Mist gebaut. Ich erinnere mich nämlich an Szenen aus meiner Kindheit, in denen ich mich als sehr fröhlich wahrgenommen habe, bis zu dem Zeitpunkt, wenn ich dann bestraft wurde. Ich will unbedingt aus meinem Schattenkind rauskommen, das ist nur eine Rolle, die gar nichts mit mir zu tun hat.“

Wunderbar, das sind genau die richtigen Überlegungen, mit denen Philipp sich aus seinem alten Muster, seinem Schattenkind, herausentwickeln kann.

Meine Überlegungen zu Philipp

1. Philipp sehnt sich danach, geliebt und angenommen zu werden, stößt jedoch auf Ablehnung. Das ist eine massive Inkonsistenz. Wenn er sagt, dass andere Männer ihn als »nervig und anstrengend«
erleben, dann dürfte das eine massive Kränkung für sein Selbstwertgefühl sein. Wir dürfen davon ausgehen, dass Philipp ein geringes Selbstwertgefühl aufweist, das zu Verhaltensweisen führt, mit denen er seine Beziehungen belastet. Zudem scheint er bei älteren Männern etwas zu suchen, was sein niedriges
Selbstwertgefühl stabilisieren könnte.

2. Philipp sucht nach einem väterlichen Liebesobjekt, das ihn beschützt und führt. Er formuliert hier, dass er – zumindest in seinem damaligen Alter – stark in seiner Autonomie geschwächt war, also wenig festen Boden unter den Füßen verspürte. Er suchte in seinem wesentlich älteren Partner äußeren Halt, weil ihm der innere Halt gefehlt hat. Er sehnt sich nach der väterlichen Liebe und Anerkennung, die er als Kind nicht erhalten hat. Liebe und Anerkennung durch eine väterliche Bezugsperson stellen auch seinen Heilungsversuch für sein labiles Selbstwertgefühl dar.

3. Philipps Glaubenssätze dürften in allen Variationen lauten, dass er nicht genügt und nicht wertvoll ist, und sich folglich immer wieder unheimlich anstrengen muss, um geliebt und anerkannt zu werden.

4. Die Mutter hat Philipp quasi verraten, indem sie ihm diesen Stiefvater zugemutet hat. Sie hat die Beziehung zu diesem Mann über die Beziehung zu ihrem Sohn gestellt. Philipps Unsicherheit, seine
Einsamkeit, sein dringender Wunsch nach Halt und Liebe sind also nicht allein durch einen »Vaterschaden« entstanden, sondern auch seine Mutter hat ihm nicht genügend Bindungssicherheit vermittelt. Philipp dürfte sich von seiner Mutter alleingelassen und nicht geliebt gefühlt haben.

5. Die Botschaft seiner Mutter lautete: Du bist schuld, wenn man dich nicht lieben kann. Du bist so anstrengend!

6. Als Kind hat Philipp kaum Sicherheit erfahren durch viele Beziehungsabbrüche und die schwache Bindung seiner Mutter an ihn. Die Botschaft seiner Mutter hatte sogar explizit gelautet, dass er nervig und anstrengend sei. Philipp hat in seinem motivationalen Schema abgespeichert, dass er nicht liebenswert ist, dass er anderen Menschen mit seiner Liebesbedürftigkeit auf die Nerven geht. Philipp sucht also grundsätzlich die Schuld bei sich, wenn er zurückgewiesen wird, so wie er es als Kind gelernt hat. Das Perfide hieran ist, dass er durch diese vielen falschen Botschaften und die Bindungsunsicherheit seiner leiblichen Eltern ein so labiles Selbstwertgefühl entwickelt hat, dass er sich heute wohl tatsächlich
öfter in einer Weise präsentiert, die andere Menschen als anstrengend empfinden, weil er zu viel Bestätigung und Aufmerksamkeit benötigt.

7. Weil Philipp sehr wenig bis keine Kontrolle über die Bindung zu seinen Hauptbezugspersonen erlebt hat, dürfte er eine sehr niedrige internale Kontrollüberzeugung entwickelt haben. Das heißt, er hat das Gefühl, keinen Ein uss auf seine Beziehung nehmen zu können. Dieser tief eingeprägte Mangel an Kontrolle führt ihn ins depressive Erleben von Sinn- und Wertlosigkeit. Ohne Philipp hätte die Mutter es leichter gehabt mit dem neuen Partner. Philipp wird von ihr als nervend beschimpft, geschlagen und schließlich verlassen. Solche zutiefst verletzenden Taten und Worte, die eine Mutter an ihr Kind richtet, können tiefe Schneisen der Verwüstung ins Herz des Kindes reißen, weil sie häufig den Wunsch der Mutter transportieren, die Geburt dieses Kindes rückgängig zu machen. Kinder haben keine Möglichkeit, sich von den Absichten einer Mutter zu distanzieren.

Philipp hat die Ablehnung seiner Mutter verinnerlicht (Introjekt) und gegen sich selbst gerichtet.

Die auftauchenden Suizidgedanken dürfen nicht übersehen werden, denn Selbstmord ist eine der häufigsten Todesursachen. Alle 40 Sekunden tötet sich ein Mensch selbst. In der Altersgruppe der 15- bis 44-Jährigen ist der Suizid inzwischen eine der drei häufigsten Todesursachen, bei den Zehn- bis 24-Jährigen sogar die zweithäufogste Todesursache (Zahlen der WHO).

In einem Nachgespräch hat Philipp mir erfreulicherweise mitgeteilt, dass es ihm inzwischen viel besser gehe. Er vermochte sich da schon recht gut von seinen alten Prägungen zu distanzieren.

8. Aufgrund seiner Kindheitserfahrungen rechnet Philipp fest damit, dass er abgelehnt wird. Er hat kein Selbstvertrauen: Er traut sich nicht zu, dass man ihn lieben kann, und somit vertraut er auch keinem potenziellen Partner. Philipp bräuchte also viel Mut, um seine Angst vor Ablehnung zu überwinden und Vertrauen in einen anderen Menschen aufzubringen. Unter den gegebenen Bedingungen dürfte das für Philipp schier unmöglich sein. Hierfür müsste er zunächst sein Selbstwertgefühl stabilisieren.

9. Da Philipp fest mit Ablehnung rechnet und (noch) nicht in der Lage ist, Vertrauen aufzubringen, bleibt ihm nur, alte Beziehungserfahrungen, die von Ablehnung geprägt sind, zu wiederholen. Da weiß er, womit er zu rechnen hat (nämlich Ablehnung), und hiermit kennt er sich aus. Das gibt ihm wenigstens
ein gewisses Maß an Vorhersehbarkeit und Kontrolle.