Wws-T3: Das Erwachsenen-Ich stärken Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Das Erwachsenen-Ich stärken
Wir können durch gedankliche Arbeit unsere Emotionen verändern (siehe dazu auch hier). Deswegen ist es mir als Psychotherapeutin sehr wichtig, dass Klienten auf der kognitiven Ebene eine klare Vorstellung davon entwickeln, dass ihre negativen Prägungen willkürlich sind. Diese sagen nichts über ihren persönlichen Wert aus, sondern ausschließlich etwas über die Art und Weise, wie sie in ihrer Kindheit geprägt wurden. Wenn man im Verstand eine klare Vorstellung dazu entwickelt, dann kann man negative Emotionen leichter außer Kraft setzen. Der Verstand, also das Erwachsenen-Ich, kann dann die Emotionen, also das Schattenkind, regulieren. Deswegen ist es wichtig, den reflektierenden Verstand des Klienten, der Klientin zu stärken.
Um das Erwachsenen-Ich zu stärken und einen bestmöglichen Abstand zu dysfunktionalen Prägungen herzustellen, lade ich meine Klientinnen und Klienten gern zu einer Vorstellungsübung ein. Dabei stellen sie sich selbst als kleines Kind und ihre Eltern (Pflegepersonen) vor: Sie schauen wie aus der Beobachterperspektive, also von außen, auf sich selbst als Kind und ihre Eltern. Sie betrachten also mit einigem Abstand die Situation ihrer Kindheit. Dabei sollen sie eine ganz neutrale Haltung einnehmen, wie jene eines Richters oder einer Richterin. Aus dieser Haltung sollen sie die Frage untersuchen, ob das Kind Fehler gemacht hat, indem es nicht genügte, nicht wichtig war, schuld gewesen ist oder in irgendeiner Form minderwertig. Oder verhält es sich eher so, dass die Eltern ein paar Fehler gemacht haben? Dem schließe ich die Frage an, was das Verhalten der Eltern über den Wert des Kindes aussagt.
Bislang sind alle, die zu einem Therapiegespräch zu mir kamen, zu der klaren Einsicht gekommen, dass das Kind unschuldig und wertvoll gewesen ist und die Probleme aufseiten der Eltern zu verorten sind. Ich bitte meine Klientinnen und Klienten dann, diese Einsicht einmal tief in ihrem Gefühl zu verankern. Das funktioniert, indem sie ihre innere Aufmerksamkeit auf ihren Bauch-Brustbereich richten und fühlen, wie sich diese gedankliche Klarheit dort anfühlt. Im nächsten Schritt bitte ich darum, die negativen Glaubenssätze vor dem inneren Auge an die Eltern zurückzugeben. Hierdurch entsteht ein Bild im Kopf meiner Klientinnen und Klienten, bei dem sie die Verantwortung für die Situation des Kindes an die Eltern delegieren.
Durch die Imagination werden Verknüpfungen im Gehirn für angemessene Gedanken hergestellt beziehungsweise alte Programme anhand von Vorstellungsübungen entmachtet. Wenn Klientinnen und Klienten dies wiederholt tun, dann verändert sich ihr Gehirn in die gewünschte Richtung. Das Lernen neuer psychischer Muster erfolgt anhand derselben Gesetzmäßigkeiten wie Lernen im Allgemeinen: Durch Wiederholung und Verknüpfung der Lerninhalte mit (positiver) Emotion.
Beim Loslassen der alten Glaubenssätze können unterschiedliche Widerstände auftauchen, die dann zunächst bearbeitet werden müssen (vgl. dazu »Festhalten am geringen Selbstwert«). Bei einigen Klienten regt sich beispielsweise ein starker innerer Protest, weil sie das Gefühl haben, ihre Eltern quasi zu verraten. Dies weist aus psychologischer Sicht darauf hin, dass der betreffende Mensch sich nicht in gesunder Weise von seinen Eltern gelöst hat und sich ihnen gegenüber zu einer (ungesunden) Loyalität verpflichtet fühlt. In diesem Fall gebe ich sinngemäß den folgenden Hinweis: »Gehen Sie die Sache etwas entspannter an, indem Sie sich bewusst machen, dass Ihre Eltern ja auch bereits ein Schattenkind in sich trugen und dementsprechend – und nicht in böser Absicht – gehandelt haben. Dies ist eben der Lauf der Generationen, bis man ihn unterbricht. Dazu haben Sie jetzt die Chance. Es geht nicht um Eltern-Bashing, sondern darum, ein möglichst gründliches Verständnis für sich selbst zu entwickeln. Nur wenn Sie sich Ihrer Prägungen bewusst sind, haben Sie die Chance, sich aus Ihrem alten Muster zu befreien.«
Im nächsten Schritt kann man sich den Selbstschutzstrategien der Ratsuchenden zuwenden. Ich frage beispielsweise meine Klientin: Was tun Sie, um diese negativen Glaubenssätze und die unangenehmen Gefühle, die damit verbunden sind, zu vermeiden? Was sind typische Wahrnehmungsverzerrungen und Selbstschutzstrategien, die Sie gern anwenden? Bei den Selbstschutzstrategien handelt es sich häufig um Verhaltensweisen wie erhöhtes Machtstreben, Streben nach Perfektion, übertriebene Harmonieliebe und Konfliktscheu. Sie gehen jedoch in der Regel einher mit Wahrnehmungsverzerrungen, die entweder die Funktion haben, eine bestehende Beziehung zu idealisieren oder zu entwerten (siehe dazu die Abschnitte »Abwehr im Dienste der Bindung«, und »Abwehr im Dienste der Autonomie«).
Gemeinsam mit dem Klienten, der Klientin schaue ich mir an, zu welcher Seite – Bindung oder Autonomie – ihre Selbstschutzstrategie tendiert. Ist jemand eher der Bindungstyp, der sehr viel dafür tut, um anerkannt zu werden? Der möglichst perfekt alle Erwartungen erfüllt? Der sich seine Beziehungen auch gern mal schönredet und öfter die Augen verschließt, um unangenehmen Wahrheiten auszuweichen? Oder ist jemand eher ein autonomer Typ, der meint, er dürfe sich auf keinen außer auf sich selbst verlassen? Der andere Menschen stets kritisch beäugt und gern mal recht stur sein eigenes Ding macht? Oder ist er ein Mischtyp, der mal zu überangepasst und dann wieder zu abgegrenzt und autonom agiert?
Für die Klientinnen und Klienten ist die Erkenntnis, ob sie sich eher auf der bindungsorientierten oder autonomen Seite verankert haben, sehr hilfreich, weil es zu einem tieferen Verständnis ihres Problems beiträgt. Diese Einsicht schärft ihre Aufmerksamkeit dafür, wann sie ihr altes Muster im Alltagsleben bedienen. Entsprechend können sie sich besser ertappen und umschalten.
Ich habe bereits erwähnt, dass man sich nicht streng an die Reihenfolge der oben genannten psychotherapeutischen Interventionen halten muss. Themen wie frühe Prägungen, Glaubenssätze, Selbstschutzstrategien oder Abwehrmechanismen vertiefe ich häufig an der Stelle im Gespräch, wo sie auftauchen. Wenn eine Klientin beispielsweise erzählt, wie anziehend und attraktiv sie einen Partner empfindet, mit dem sie in eine toxische Beziehung verstrickt ist, dann könnte ich thematisieren, dass sie diesen Mann stark idealisierend wahrnimmt, und mit ihr reflektieren, welche Funktion diese Idealisierung für ihren Bindungswunsch ausübt. Ich erinnere: Die Idealisierung des Partners in einer dysfunktionalen Beziehung bewirkt, dass die Beziehung beschützt wird. Häufig leiden die Betroffenen unter starken Verlustängsten, die durch die Idealisierung und ein Zuviel an Empathie im Zaum gehalten werden. Sie verhindern das Auftauchen von angemessener Aggression, die in Trennungsaggression münden könnte.
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