Schichten Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.
Schichten
Es gibt wenig im Leben, das mein Vater mehr liebt als ein Stück Schokosahnetorte. In seiner Kindheit in Mississippi buk die Haushälterin seiner Großeltern, Lela Mae, ihm jede Woche eine. Wenn wir sie um Weihnachten rum besuchten, war ich immer wie hypnotisiert vom Geruch dieser Torten – und von Lela Mae in ihrer weißen Dienstkleidung und Schürze, wie sie hoch aufragend im Kücheneingang stand und den Zugang zu ihrem eigenen Reich bewachte.
Meine Mutter kam auch aus den Südstaaten. Sie war in Virginia geboren und aufgewachsen, verstand also die Signifikanz von Ritualen und legte einen unheimlichen Wert auf die südstaatliche Art der Haushaltsführung. Sobald sie von den Torten erfahren hatte, machte sie sich die Tradition zu eigen.
Ich habe früher an unserem Esstisch in San Francisco oft beobachtet, wie sie die Schichten in zwei identische Hälften zerschnitt, indem sie einen Faden um sie band und die Enden zu einem Knoten in der Mitte zusammenzog. »Auf diese Art ist es absolut gleichmäßig«, erklärte sie mir immer. Ich liebte es, mit ihr diese Zeit zu verbringen. Ich lag unter dem Tisch und las Bücher, während sie die Lagen schnitt und die Torten bestrich. Mit der Zeit wurde das zu einer Art Beichtstuhl für mich, denn ich erzählte ihr von allem, was in der Schule passiert war, und gestand ihr die Facetten meines Verhaltens, die mir eventuell fragwürdig vorkamen. Sie ließ mich dann wissen, ob meine Aktionen (oder Reaktionen) überzogen gewesen waren, und erklärte mir, wie ich es besser machen könnte. Da mein Urteilsvermögen alles andere als verlässlich war, fanden Mom und ich es am besten, wenn ich alles mit ihr besprach.
»Hast du dich bei den Patels für den Zucker bedankt?«, fragte sie mich. Mom hatte mich am Morgen mit einem Messbecher zu unseren Nachbarn geschickt. »Nein, sie waren nicht zu Hause«, erwiderte ich. Mom unterbrach ihr Schneiden, und schaute mich an. »Wie bist du dann an den Zucker gekommen?«, hakte sie nach. »Es war ja welcher in der Zuckerdose.« Ich hatte beim Betreten der Auffahrt der Patels gewusst, dass sie nicht zu Hause waren. Aus irgendeinem Grund weigerten sie sich, die Garage zu benutzen, also stand ihr erbsengrüner Kombi immer vor dem Tor, wenn sie da waren. An diesem Tag aber stand er dort nicht.
Ich war mir sicher, dass die Glasschiebetür nicht abgeschlossen sein würde, ging um das Haus herum und zog an der Tür. Sie glitt auf – wie ich es vorhergesehen hatte. Ich betrat das Haus und bediente mich an der Zuckerdose auf der Anrichte, nachdem ich auf dem Weg kurz mit ihrem Hund Moses gespielt hatte. »Ich weiß ja, dass du Nein gesagt hast, aber können wir uns bitte auch einen Hund holen?«, fuhr ich fort. »Der könnte mit Moses spielen, wenn ihm langweilig wäre.« Mom starrte mich entsetzt an.
Sie hakte langsam nach: »Wenn die Patels doch nicht zu Hause waren, als du rübergegangen bist, wie bist du dann reingekommen?« Ich erzählte Mom von meiner Expedition. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. »Nein, Süße«, sagte sie schließlich und schaute mich an. »Nein, du kannst nicht einfach
so das Haus anderer Menschen betreten, wenn sie nicht da sind.« Ich war verwirrt. »Aber warum denn nicht? Es ist ihnen doch egal. Wir sind andauernd dort. Es ist doch in Ordnung, solange man nichts mitnimmt.« »Aber du hast etwas mitgenommen«, erwiderte sie, eindeutig bestürzt. »Du hast dir Zucker genommen.« Jetzt war ich wirklich verwirrt. »Aber du hast mir gesagt, ich solle Zucker holen.«
Mom atmete laut aus. »Ich habe dir gesagt, dass du sie um etwas Zucker bitten sollst. Nicht einfach rübergehen und dich bedienen, ganz ohne ihre Erlaubnis. Du darfst so etwas nie wieder tun. Es ist sehr, sehr falsch, so ein Verhalten. Verstehst du das?« »Ja«, log ich sie an, denn ich verstand gar nichts. Ich war davon ausgegangen, dass die Bitte um Zucker bei den Patels nur eine Formalität war. Es interessierte sie nicht. Immerhin hatte ich ihnen den Aufwand erspart, an die Tür zu kommen und Small Talk mit mir betreiben zu müssen. Wer wollte das schon? Ich jedenfalls nicht. Ich wusste aber, dass ich Mom all das nicht erklären konnte. Ihr war Ehrlichkeit sehr wichtig. Sie sagte immer gern: »Im Zweifelsfall die Wahrheit sagen, denn die Wahrheit hilft den Menschen, etwas zu verstehen.« Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich dem zustimmte.
Als Kind lebte ich in kontinuierlichen Zweifeln. Ich zweifelte an der Art, wie ich fühlen sollte und wie ich es nicht tat. Zweifelte an meinen Handlungen. An meinen Handlungen, die ich gern täte. Es klang rein theoretisch gut, die Wahrheit über diese Unklarheiten zu sagen, aber aus praktischer Sicht hatte es sich immer eher als Verschlimmerung der Situation herausgestellt. Ich wusste nie, welche Informationen zu einer negativen Reaktion führen würden. Es fühlte sich so an, als würde ich immer zwischen den Polen der Wahrheit und der Unwahrheit hin- und herpendeln, ohne je zu wissen, wo ich letztlich landen würde. Das war vor allem bei Mom der Fall. Ich wollte sie nie wütend machen, denn sie war mein emotionaler Kompass, und ich vertraute ihrer Weisung. Wenn ich Mom bei mir hatte, musste ich mir keine Sorgen über vorhandene oder fehlende Gefühle machen, musste nicht zwischen Richtig und Falsch entscheiden. War sie aber wütend, dann hatte ich das Gefühl, allein zu sein. Und damals war das Alleinsein kein sicherer Ort für mich.
Mom seufzte erneut und band einen neuen Faden um eine weitere Tortenschicht. »Entscheidend ist, dass wir das Haus der Patels nur betreten können, wenn sie da sind. Und nein, es ist auch dann nicht in Ordnung, wenn wir nichts mitnehmen.« Ich nickte und entschied, dass ich ihr nicht von all meinen Ausflügen in das Haus beichten würde, die ich unternommen hatte, wenn Mom meine Schwester und mich mit Nanny Lee allein gelassen hatte. Da es so gesehen eine neue Regel war, sah ich keinen Grund, diese auch rückwirkend anzuwenden.
Mom schaute mich an, als würde sie noch etwas hinzufügen wollen, wurde aber von den stampfenden Schritten meines Vaters auf der Treppe unterbrochen. Wir hörten ihn in der Küche rumoren und etwas suchen, bevor er abrupt die Tür zum Esszimmer öffnete und reingestürzt kam. »Hat eine von euch meine Aktentasche gesehen?« Er lief an uns vorbei und durchsuchte nun das Wohnzimmer. Ich hörte, wie er ein Schniefen unterdrückte, und fragte mich, ob er sich wohl erkältet hatte. Ich hoffte nicht, denn wir wollten am Abend eigentlich zusammen eislaufen gehen.
Seit der Blondie-Beschlagnahmung war ich besessen von Eisfieber, einem Film über eine blinde Eisläuferin. Ich freute mich darauf, einige der Moves auf dem Eis auszuprobieren, nachdem ich sie mit verbundenen Augen auf Socken auf dem Parkettboden geübt hatte. Wenn Dad sich aber jetzt erkältet hätte, würde das dem Plan einen deutlichen Dämpfer verpassen.
»Die ist oben in deinem Büro«, verriet Mom ihm. »Wofür brauchst du die denn jetzt? Das Abendessen ist fast fertig, und außerdem ist Samstag. Wir wollten doch mit den Mädchen eislaufen gehen.« Ihre Stimme hatte eine gewisse Schärfe. Dad schaute auf und schlug sich die Hände vors Gesicht. »Oh, Schatz, ich hab’s vergessen!«, sagte er und ging zu ihr. »Bruce hat angerufen, ich muss ins Studio.« Mein Dad war ein aufsteigender Stern im Musikgeschäft, eine Branche, die oft lange und unkonventionelle Arbeitszeiten bedeutete.
Dad schaute mich an. »Süße, es tut mir leid.« Dann fragte er Mom: »Können wir das wann anders machen?« Sie schaute aus dem Fenster und schwieg. Auf mich wirkte das wie eine eigenartige Reaktion, aber Dad schien das nicht aufzufallen. Stattdessen lief er zur Tür und rief über die Schulter:
»Ich mach das nächste Woche wieder gut bei euch!« Mom saß einen Augenblick lang still da, stand dann auf und ging in die Küche, die halbfertige Torte hinter sich auf dem Tisch lassend. Ich folgte ihr, wusste nicht, was ich machen sollte. In der Küche stand sie an der Spüle und starrte ins Nichts. Das frühe Abendlicht fiel durch die Glasschiebetüren. Jahre später würde Mom mir verraten, dass sie diese Tageszeit hasste und dass dieser Hass während unserer Zeit in San Francisco begonnen hatte. Ich konnte das jedoch nie nachvollziehen, denn für mich hatte die eintretende Dämmerung immer etwas Magisches, wie das Vorspiel der Dunkelheit. Vor allem an diesem Tag blieb mir in Erinnerung, wie schön meine Mutter aussah, mit dem Licht, das sich auf der Anrichte spiegelte und ihr aufs Gesicht schien. Ich lief von hinten auf sie zu und umarmte sie. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Alles ging auf diese Art seinen Lauf. Dad war fast nie vor Mitternacht zu Hause, und mein Kontakt zu ihm beschränkte sich auf schnelle Küsschen im Auto vor der Schule oder auf gelegentliche Ausflüge am Wochenende. Nicht, dass mich das wirklich gestört hätte. Im Gegenteil, es war fast schön; ich liebte
es, meine Mom und meine Schwester ganz für mich zu haben. Ich liebte es, eine Schwester zu haben. Punkt. Ich weiß, dass manche Eltern Angst vor Eifersüchteleien und Rivalitäten zwischen Geschwistern haben, das war allerdings nie ein Problem bei uns zu Hause. Ich mochte es eh nicht, wenn ich im Mittelpunkt stand. Und sobald meine Schwester auf der Welt war, hatte ich jemanden, mit dem ich das Rampenlicht teilen konnte. Ich mochte es, sie an meiner Seite zu wissen, die sie doch mein Faible für Unfug zu würdigen wusste. Einseitige Regelverletzungen standen meist an der Spitze unserer Interaktionen – das hat sich nicht geändert. Harlowe reichte mir die Tasse, ich würde sie die Treppe hinunterfallen lassen. Harlowe ging in die Badewanne und deutete auf den Badeschaum, ich würde die ganze Flasche in die Wanne leeren und die Massagedüsen anmachen. Jede Aktion meinerseits sorgte für hysterisches Lachen ihrerseits. Mom liebte das. Harlowes wildes Gelächter passte jedoch Dad nicht immer.
»Was macht ihr beiden gerade?«, fragte er eines Tages, während er unerwartet mein Zimmer betrat. Er spielte eigentlich gern mit uns, aber es wirkte in letzter Zeit eher so, als würde er nur noch schlafen wollen, wenn er mal zu Hause war, was auch nicht oft der Fall war.
Dad verbrachte immer mehr Zeit bei der Arbeit, und irgendwann wurde Mom depressiv. An manchen Tagen brach sie aufgrund völliger Nichtigkeiten in Tränen aus, an anderen wurde sie wütend und schnauzte uns aus Gründen, die ich nicht verstand, an. Ich war angespannt und verwirrt und konnte mich zum ersten Mal nicht mehr auf meine Mutter als Kompass verlassen. Die letzte Torte war Wochen her, und es schien keine gute Zeit zu geben, um mit ihr über meinen Alltag und meine Handlungen zu
reden. Wie zum Beispiel das Stehlen.
Ich hatte in letzter Zeit Rucksäcke in der Schule geklaut. Ich wollte sie nicht mal haben und gab sie fast immer wieder zurück. Es war mehr wie eine Art Zwang, eine Handlung gegen den Druck. Sobald ich einen unbeaufsichtigten Rucksack sah, nahm ich ihn mir. Es war mir egal, wo das war oder wem er gehörte, mir ging es nur ums Nehmen. Wenn ich etwas tat, bei dem ich wusste, dass es nicht »richtig« war, konnte ich den Druck etwas lösen, konnte mir selbst einen Ruck gegen die Apathie verpassen. Allerdings funktionierte das irgendwann nicht mehr. Es war egal, wie viele Taschen ich klaute, sie rüttelten mich nicht mehr auf. Ich fühlte gar nichts. Und dieses Nichts, so war mir aufgefallen, wollte, dass ich immer extremere, schlimmere Dinge tat.
Es war ein wenig wie beim letzten Treffen mit Syd. Während wir auf dem Bürgersteig darauf gewartet hatten, zur Schule gefahren zu werden, war sie mir auf die Nerven gegangen. Sie hatte wieder bei uns übernachten wollen, aber nicht gedurft. »Das ist alles deine Schuld«, hatte sie gejammert. »Wenn du uns nicht diesen doofen Streich gespielt hättest, könnten wir immer noch zu Besuch kommen, und ich könnte mit deinem Spielzeug spielen. Immer versaust du alles.« »Tut mir leid«, hatte ich erwidert, auch wenn ich es nicht ehrlich gemeint hatte. Ich war froh, dass sie nicht mehr zum Spielen vorbeikommen durfte. Mir hatte der Kopf wehgetan. Der Druck hatte sich kontinuierlich weiter aufgebaut, aber nichts, was ich tat, half dagegen. Ich war emotional von allem abgekoppelt, aber dennoch gestresst und irgendwie orientierungslos. Es hatte sich angefühlt, als würde ich den Verstand verlieren, und ich wollte einfach nur allein sein.
Auf einmal hatte Syd gegen meinen Rucksack auf dem Boden getreten, sodass alles hinausrutschte: »Weißt du was? Es ist mir egal. Euer Haus ist eh scheiße, so wie du auch.« Der Ausraster war bedeutungslos, etwas, was sie schon unzählige Male gemacht hatte, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie hatte sich jedoch den falschen Tag für einen Streit ausgesucht. Während ich Syd anschaute, wurde mir klar, dass ich sie nie wiedersehen wollte. Ich hatte gedacht, dass das schon nach meiner Aussperraktion klar gewesen wäre, aber anscheinend brauchte es eine noch deutlichere Ansage.
Wortlos hatte ich mich gebückt, um meine Sachen wieder einzusammeln. Damals trugen wir Federmäppchen mit uns herum. Meines war pink, mit Hello Kitty drauf und voller gespitzter HB-Bleistifte. Ich hatte mir einen rausgenommen, war aufgestanden und hatte ihn ihr seitlich an den Kopf gerammt.
Der Bleistift war zerbrochen und ein Teil in ihrem Hals steckengeblieben. Syd hatte angefangen zu schreien, und die anderen Kinder waren verständlicherweise völlig ausgerastet. Ich jedoch war währenddessen wie betäubt gewesen – der Druck war weg. Im Vergleich zu allen anderen Malen, wo ich etwas Schlimmes getan hatte, hatte dieser körperliche Angriff auf Syd in etwas Neuem resultiert: einer Art Euphorie.
Ich war glückselig davongelaufen. Wochenlang hatte ich jegliches subversive Verhalten ausprobiert, um den Druck verschwinden zu lassen, aber nichts hatte funktioniert. Jetzt aber war – dank dieses einen gewaltsamen Akts – kein My des Drucks mehr da. Er war nicht nur weg, sondern war ersetzt worden von einem absoluten inneren Frieden. Es fühlte sich an, als hätte ich ein Eilverfahren zur Gelassenheit entdeckt, das zu gleichen Teilen wirksam und verrückt war. Nichts davon ergab einen Sinn, aber es war mir egal. Ich war eine Weile benommen durch die Gegend gelaufen, dann nach Hause gegangen und hatte meiner Mutter in aller Ruhe von dem Vorfall erzählt.
»Was verdammt noch mal hast du dir dabei gedacht?«, wollte mein Vater von mir wissen. Ich saß am Fuß meines Betts. Meine Eltern standen vor mir und wollten Antworten. Die ich jedoch nicht hatte. »Nichts«, erwiderte ich. »Ich weiß es nicht. Ich hab es einfach gemacht.«
»Und es tut dir nicht mal leid?« Dad war frustriert und gereizt. Er war gerade von einer seiner Geschäftsreisen zurückgekehrt und meine Eltern hatten sich gestritten. »Doch! Ich habe doch gesagt, dass es mir leidtut!« Ich hatte Syd sogar schon einen Entschuldigungsbrief geschrieben. »Warum sind also immer noch alle so sauer auf mich?« »Weil es dir nicht leidtut«, erwiderte Mom leise. »Nicht wirklich. Nicht von ganzem Herzen.« Dann schaute sie mich an wie eine Fremde. Er lähmte mich, dieser Blick. Das war der gleiche Blick, den Ava mir während Vater-Mutter-Kind zugeworfen hatte. Ein Blick der vagen Erkenntnis, als würde sie mir sagen wollen: »Irgendwas stimmt nicht mit dir. Ich weiß zwar noch nicht genau, was, aber ich spüre es.«
Mein Magen machte einen Satz, als hätte man mich in den Bauch geboxt. Ich hasste es, wie Mom mich an diesem Abend anschaute. Das hatte sie noch nie gemacht, und ich wollte, dass sie wieder damit aufhörte. Wenn sie mich so ansah, war sie wie eine Fremde, die mich zum allerersten Mal anschaute und mich nicht kannte. Auf einmal war ich wütend auf mich selbst, weil ich die Wahrheit gesagt hatte. Es hatte niemandem dabei geholfen, etwas zu »verstehen«. Wenn überhaupt hatte es alle nur noch mehr verwirrt, inklusive mir. Erpicht darauf, alles wieder ins Reine zu bringen, stand ich auf und wollte sie umarmen, aber sie hielt mich mit erhobener Hand davon ab.
»Nein«, sagte sie. »Nein.« Sie starrte mich erneut lange und intensiv an und verließ dann das Zimmer. Ich beobachtete, wie mein Vater hinter ihr herlief, wie ihre Schatten immer kleiner wurden, als sie die Treppe hinunterliefen. Ich verkroch mich ins Bett und wünschte mir, ich hätte jemanden, dem ich wehtun
könnte, damit ich mich wieder so wie nach dem Angriff auf Syd fühlen könnte. Ich gab mich mit mir selbst zufrieden, drückte mir ein Kissen an die Brust und grub mir die Fingernägel in den Unterarm. »Bereue es!«, zischte ich mir selbst zu. Ich kratzte weiter an meiner Haut und presste die Kiefer zusammen, mit aller Macht ein schlechtes Gewissen erhoffend. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich das versuchte, ich weiß nur noch, wie verzweifelt und wütend ich war, als ich schließlich aufgab. Erschöpft ließ ich mich ins Bett fallen. Ich schaute meinen Arm an. Er blutete.
Nach dem Vorfall mit Syd zog sich Mom von uns allen zurück. Wochenlang verließ sie ihr Zimmer fast nicht mehr, und wenn, dann sah sie immer traurig aus. Zu der Zeit hatte Nanny Lee meist das Sagen. Ich liebte Nanny Lee. Sie war nett und einfühlsam, und sie las uns immer auch dann noch aus Büchern
vor, wenn wir schon lange schlafen sollten. Aber eigentlich brauchte ich meine Mutter.
Die Euphorie, die ich nach dem Angriff auf Syd gespürt hatte, war sowohl befremdlich als auch verlockend. Ich wollte sie wieder spüren. Ich wollte wieder wehtun. Aber ich wollte es auch nicht. Ich war verwirrt und hatte Angst, und ich brauchte meine Mutter. Ich wusste nicht, wie alles so hatte aus dem Ruder laufen können, ich wusste nur, dass es meine Schuld war und dass ich einen Weg finden musste, es wieder geradezubiegen.
Eines Tages saß ich oben in meinem Zimmer und dachte genau darüber nach, als mir ein bekannter Geruch in die Nase stieg. Schokotorte. Sie musste die Lagen gerade frisch aus dem Ofen geholt haben. Das hieß, sie würde sie bald in den Gefrierschrank zum Abkühlen legen, bevor sie sie zum Esstisch zum Zerschneiden und Glacieren trug. Und genau in diesem Moment fiel mir eine Lösung ein. Die Kiste in meinem Schrank war erneut randvoll. Bücher, Süßigkeiten aus dem Supermarkt, Alben aus Dads Büro, Kaffeebecher aus dem Lehrerzimmer, ein Paar Schuhe; alle möglichen Gegenstände, um den Druck zu mildern. Ich zog die Kiste aus ihrem Versteck und stellte sie auf meine Kommode. Damit. Damit würde ich mit meiner Mutter alles wieder geradebiegen.
Wenn sie wieder Torten buk, musste das ja heißen, dass es ihr wieder besser ging. Ich würde ihr nun von allem erzählen, was ich getan hatte, und sie würde mir helfen, es wieder in Ordnung zu bringen. Sie würde mich fest umarmen und als ihr ehrliches Mädchen bezeichnen. Meine Seelenkiste wäre wieder leer und ich hätte wieder einen sauberen Ort, mit dem ich arbeiten konnte. Der Druck, die Zweifel, der Stress, das Bedürfnis, wehzutun, all das würde mit meinem Geständnis verschwinden. Ich würde mich unter den Tisch setzen und meine Entschuldigungsreden üben, während sie die Torte fertigstellte, nur würde ich dieses Mal versuchen, sie auch wirklich so zu meinen. Sie wäre so stolz auf mich. Ich ging leise die Treppen nach unten, mit der Kiste im Schlepptau. Das dauerte eine Weile, aber ich schaffte es letztlich ins Erdgeschoss, von wo aus ich ins Wohnzimmer spähen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Der Geruch der Tortenlagen aus Schokolade war so intensiv und so süß wie meine Mom. Ich griff meine Kiste etwas fester, als ich mich um die Ecke beugte. Ich hatte mir im Kopf ausgemalt, was ich da sehen würde: Mom in ihrem pfirsichfarbenen Kleid und flachen Schuhen, die letzten Griffe an der ersten Lage der Torte vollziehend. Ich war so sicher, dass mein mentales Bild von ihr richtig war, dass ich aufkeuchte, als ich sie dann tatsächlich sah: am Tisch sitzend und leise weinend. Alle Lichter waren aus. Ihre Hände zitterten und der Faden hing lose in einer Lage Torte fest, die sie damit halbherzig zu zerteilen versucht hatte. Der Tisch war voller Reste vorheriger misslungener Versuche, uneben geschnitten und zur Seite geschoben. Wie lange saß sie schon so da? Ich werde es nie erfahren.
Ihr Gesicht war fleckig, ihre Schürze nass von den Tränen. Sie hyperventilierte, ihr Kopf zuckte leicht mit jedem hörbaren Atemzug. Ich sprang wieder um die Ecke und hielt inne, nicht wissend, was ich jetzt tun sollte. Ich hatte sie noch nie so gesehen. Ihre Traurigkeit schien sie völlig einzunehmen. Aus dem Esszimmer vernahm ich einen weiteren unterdrückten Schrei, als noch eine Tortenlage das Zeitliche segnete. Dann hörte ich, wie sich die Esszimmertür öffnete und sie zur Küche lief. Ich schaute auf meine Kiste und wusste, sie musste verschwinden.
Der Mixer war aus der Küche zu hören, als Mom einen erneuten Tortenversuch unternahm. Ich bückte mich, hob vorsichtig die Kiste hoch und ging die Treppe nach oben zu meinem Zimmer. Auf dem Weg hielt ich bei dem Schlafzimmer meiner Eltern an. Ich öffnete die Flügeltüren und ging zu der Holzkiste am Fuß ihres Betts. Das war, wie ich wusste, Moms Versteck. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ich Parallel Lines in eine Decke gewickelt darin fand. Ich klemmte mir die Schallplatte unter den Arm und ging weiter nach oben zu meinem Zimmer, die Tür vorsichtig mit meinem Fuß aufschiebend. Ich holte nicht mal meine Kopfhörer raus, als ich die Platte anmachte, Mom war eh viel zu abgelenkt, um mitzubekommen, was ich tat. Als wäre ich unsichtbar, dachte ich.
Der Klang von Debbie Harrys Stimme erfüllte mein Zimmer, als ich meine Kiste wieder in den Schrank schob. Zwei Tage später entsorgte ich sie, schmiss ihren Inhalt in eine Mülltonne vor Syds Haus. Und lief völlig ohne ein Gefühl der Reue wieder nach Hause.
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