Punk’d Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.

Punk’d

»Hier ist der Schlüssel«, sagte sie zu mir. »Gehst du hin? Machst du das für mich?« Arianne arbeitete als Produzentin für MTV. Und sie war eine Freundin. Es war am Morgen eines aufwendigen Pranks für Punk’d, einer Reality-Show des Senders. Bei der Sendung, die eine Zeit lang unfassbar beliebt war, ging es darum, Promis dabei aufzuzeichnen, wie sie Opfer sorgfältig arrangierter Scherze wurden. Ein Künstler, den ich für die Agentur meines Vaters vertrat, war als nächster ahnungsloser Teilnehmer der Show ausgewählt worden, und Arianne, die Teil des Produktionsteams war, zog alle Register. Inklusive einiger eigener Überraschungen. Wir standen nach der letzten Planungssitzung neben unseren Autos. Arianne war mir nach draußen gefolgt, um in letzter Minute noch ein paar Details zu besprechen, von denen keines mit der Show zu tun hatte.


»Also?«, hakte sie nach. »Passt dir der Nebenplan?« Dieser »Nebenplan« (wie sie ihn ein paar Wochen zuvor getauft hatte) beinhaltete, dass ich in das Haus ihres Freunds schleichen sollte, um herauszufinden, ob er sie betrog. Ihr Freund Jacob war Kameramann bei Punk’d. Laut Arianne sollte ein Blick in sein Tagebuch reichen, um seine Untreue zu be- oder widerlegen.Erst war ich voll dafür gewesen. Ich wollte das machen, wie bei meinem Trip ins Haus gegenüber vor ein paar Monaten. Arianne wiederum hatte das Ganze auch erst als unbeschwert und Punk’d- ähnlich dargestellt. Aber in letzter Zeit hatte der Plan einen obsessiveren Touch bekommen. Arianne wollte in den Tagen vor der Prank-Aktion über nichts anderes als den »Nebenplan« reden.


Jacob, davon war sie überzeugt, belog und manipulierte sie. Sie war besessen von der Idee, dass er eine »heimliche Geliebte« hatte, und davon, was »wir« dann machen würden, sobald wir ihn überführt hatten. Das Problem daran war, dass ich jenseits meiner Beteiligung an dem Nacht-und-Nebel-Kram nichts weiter mit Ariannes Liebesleben zu tun haben wollte. Es wirkte melodramatisch und kindisch auf mich, und ich hatte keine Lust, mich damit zu beschäftigen. Außerdem hatte ich gerade eigene Beziehungsprobleme.


Seit meinem Ausflug ins Tarzana-Haus verspürte ich immer mehr einen emotionalen Riss, dessen zwei Seiten ich nur schwer miteinander in Einklang bringen konnte. Einerseits war ich auf Wolke sieben. David lebte nun schon seit einem Jahr bei mir im Haus und ich hätte mir in dieser Zeit nichts Besseres vorstellen können. Ich war zufrieden und verliebt und gänzlich erfüllt. Unser gemeinsames Leben war alles, was ich je gewollt hatte.


Das Problem war, dass ich nach wie vor eine Soziopathin war. Wie Dr. Carlin gesagt hatte, hatte ich mich nicht mit meiner Angst oder meinen Zwängen auseinandergesetzt, die so oft mit meiner Apathie einhergingen – mir war einfach eine Pause gewährt worden. Das lag aber nicht an irgendeinem psychologischen Durchbruch, sondern war nur geliehen und ging wahrscheinlich mit Davids Anwesenheit einher. Es war, als wären mir Gefühle per Osmose gegeben worden, Normalität per Surrogat und Selbstakzeptanz per Prokura. Meine Beziehung mit David war wie ein real gewordener Tagtraum, und das nicht nur im bildlichen, sondern auch im wörtlichen Sinne. Ich hatte mir das tausendfach ausgemalt. Seit wir uns, als ich vierzehn war, das erste Mal gesehen hatten, hatte ich es gewusst. Dennoch war Dr. Carlins Warnung, dass der Druck zurückkehren könnte, nie weit weg, und ich hatte ständig Angst, ich könnte alles versauen.


»Erklär mir bitte noch mal, was ich für dich tun soll«, sagte ich zu Arianne. Sie drückte mir den Schlüssel in die Hand. »Wenn du um zwei dort aufschlägst, ist niemand zu Hause. Jacob muss um halb zwei bei der Arbeit sein, das Haus ist also leer.« Sie holte tief Luft. »Ich brauche von dir einfach nur einen Blick ins Tagebuch. Das liegt in seinem Nachtschränkchen.« Sie hielt inne und schaute nach oben in den Himmel, um die Tränen zurückzuhalten. »Er schreibt da alles rein. Und lässt es mich niemals lesen.« »Das ist ja auch irgendwie der Sinn von so einem Teil«, sagte ich leidenschaftslos. Ich drehte den Schlüssel in der Hand. »Arianne«, setzte ich noch einmal an. »Bist du dir sicher, dass ich das machen soll für dich? Ohne Witz, das wirkt völlig verrückt. Und das sage ich.« Ich war mir sicher, dass sie wusste, dass ich recht hatte. Sie war eine clevere Freundin, die alles über meine Persönlichkeit wusste. Ich erwartete so halb, dass sie wieder zu Sinnen kommen und die ganze Sache abblasen würde. Stattdessen wurde sie weiß wie ein Laken im Gesicht. »Bitte, Patric«, flehte sie mich mit zitternder Stimme an. »Ich kann so nicht mehr leben. Ich kann nichts essen. Ich kann nicht schlafen. Ich kann nicht arbeiten. Ich kann an nichts anderes denken. Ich habe das Gefühl, ich werde verrückt.«


Ich sah meiner Freundin beim Weinen zu und spürte so etwas wie eine Andeutung von Mitgefühl. Ich konnte keine Empathie aufbringen, aber ich verstand definitiv, wie sich dieses »Verrückt-Werden« anfühlte. Aber irgendetwas nagte immer noch an mir. Ich schüttelte wieder den Kopf. »Aber warum ausgerechnet heute? Haben wir nicht schon genug Scheiße an der Backe?« Der Prank sollte an diesem Nachmittag in Hollywood stattfinden und benötigte noch einige letzte Vorbereitungen. Wir beide waren daher schon bis zum Letzten eingespannt, um noch alles rechtzeitig fertigzubekommen. Arianne wollte aber nicht nachgeben und fing sich wieder: »Weil er von zwei bis acht am Set sein wird. Außerdem lebt er einen Häuserblock entfernt vom Park. Selbst wenn du zwanzig Minuten brauchst, solltest du locker rechtzeitig zurück sein.«


Unser Produktionsbasislager lag im Griffith Park, der nicht weit weg war vom Ort des Prank-Geschehens. Ich durfte nicht gesehen werden, sonst hätte es auffliegen können, ich sollte also von einem Wohnwagen auf dem Parkplatz aus zuschauen. »Na gut«, gab ich nach. Arianne schaute mich dankbar an, ihre geschwollenen Augen waren jetzt voller Erleichterung. »Danke«, flüsterte sie.


»Wofür hat man schließlich eine soziopathische Freundin?« Der Rest des Tages verging wie im Flug. Ich hatte zwischen den Vorbereitungen für das Event und den Produktionsdetails kaum Zeit zum Durchatmen. Um zwei Uhr war ich also erleichtert darüber, allein im geparkten Auto vor Jacobs Haus zu sitzen. Ich stieg aus und lief zur Haustür. Dabei fiel mir ein alter Mann auf, der auf der Veranda eines Hauses die Straße runter saß. Er winkte mir zu und mir schoss ein Ronald-Reagan-Zitat in den Kopf, das mein Großvater so gemocht hatte: »Es gibt nichts Besseres für das Innere eines Mannes als das Äußere eines Pferdes.« Ich lächelte und dachte: Es gibt nichts Besseres für das Innere eines Mannes als … das Innere eines anderen Mannes Haus. Ich mochte meine Variante lieber.


Meine Absätze klackten laut und deutlich, als ich über die Veranda lief. Ich musste über das Türschloss lachen, das das Haus beschützen sollte. Puh, hätte ich doch mal mein Kit eingesteckt. Drinnen war ich überrascht, wie sauber und ordentlich es war. Das einfache Mobiliar war geschmackvoll arrangiert. Bücherregale rahmten eine Wand und jedes Brett war voller Sachbücher, die akribisch nach Autorennamen alphabetisiert waren. Mehrere eingerahmte Schwarz-Weiß-Bilder von Arianne hingen im Flur zu seinem Zimmer. Ihr Freund war um einiges interessanter, als ich gedacht hatte. Wer ist dieser Typ? Ich brauchte nicht lange für eine Antwort.


Das Tagebuch war dort, wo Arianne gesagt hatte. Ich schlug es am hinteren Ende auf und fing an zu lesen.
13. MAI: HABE ARIANNE ZU ST. NICK’S AUSGEFÜHRT. SIE IST IMMER SO SÜß, WENN SIE GETRUNKEN HAT.
Ich blätterte eine Seite vor:
10. MAI: STREIT MIT ARIANNE. SIE HASST MEINEN JOB. ICH HASSE MEINEN JOB. MUSS DRINGEN MAL NACH HAUSE FAHREN UND NACH DAD SCHAUEN.


Plötzlich verspürte ich ein komisches Unbehagen. Ich setzte mich auf den Boden und sprang zur ersten Seite. Dann fing ich von vorn an, zu lesen. Es war bereits nach vier, als ich mit dem Tagebuch durch war. Und ich erschrak, als mir mein Blick nach oben verriet, dass es bereits dämmerte, der Raum voller Schatten war. Ich schaute wieder nach unten auf das Buch und dachte über seinen Inhalt nach. Arianne hatte völlig falschgelegen bei Jacob. Er betrog sie nicht, er war weder egoistisch noch manipulativ, er log auch nicht. Wenn überhaupt, dann war er auf der Suche nach sich selbst. Sein Tagebuch war voller Fragen und Bitten um Hilfe, als wären seine Einträge Briefe an Gott. Ich stand auf und knirschte mit den Zähnen. »Ich kann gar nicht glauben, dass ich das gemacht habe«, sagte ich zu den Schatten. Ich fühlte mich, als stünde ich neben mir. Schwer. Und das mochte ich überhaupt nicht. Auf der gegenüberliegenden Wand hing ein Spiegel und ich sah meine Spiegelung darin.


»Fick dich«, zischte ich. Ich schmiss das Tagebuch wieder in die Schublade, die ich aber nicht schloss. Stattdessen stampfte ich nach draußen und warf die Tür hinter mir ins Schloss. Die kurze Fahrt zum Griffith Park verbesserte meine Laune kein bisschen. Als ich um halb fünf endlich dort ankam, war ich fast eine Stunde zu spät. Ich schaffte es gerade rechtzeitig in den Stuhl im Produktionswagen, um meinen Klienten noch dabei zu beobachten, wie er fachmännisch gePunk’d wurde. Ich beglückwünschte den Regisseur danach zu seiner guten Arbeit.


»Einfach nur ein weiterer Tag im Büro«, erwiderte er. »Bleibst du noch für die After-Show-Party? Deine Komplizin ist gerade auf dem Weg zurück.« Arianne hatte eine kleine Rolle bei der Ausführung des Pranks gespielt und das Set noch nicht verlassen. Ich schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich nicht so gut«, sagte ich zu ihm. »Ich glaube, ich gehe jetzt.« Das war nicht gelogen. Mir wurde beim Gedanken an Arianne fast schlecht vor Wut, auch wenn ich nicht genau wusste, warum. Ich wollte nur unbedingt weg sein, bevor sie zurück war. Auf dem Weg zum Auto fühlte sich die Abendluft kühl auf meiner Haut an. Ich rief David an, der wie immer sofort ranging.


»Na, Hübsche. Wie läuft’s?« Ich lächelte, beruhigt von seiner tiefen Stimme. »Großartig«, sagte ich. »Ich kann es gar nicht erwarten, dir davon zu erzählen.« »Was ist passiert?«, fragte er. »Nichts. Alles lief wie am Schnürchen«, antwortete ich monoton. »Ah, na gut. Ich mache jetzt Feierabend. Wollen wir uns auf ein frühes Abendessen im Nozawa treffen?« »Wer zuerst da ist, gewinnt.«


Nozawa war mein liebster Sushiladen in LA. Dennoch zog mich heute nicht der Gedanke an abgöttisch gutes Sashimi an, sondern David. Ich war das komische Gefühl der Bedrückung nicht wieder losgeworden, seit ich Jacobs Zuhause verlassen hatte. Und sobald ich seine Stimme hörte, wusste ich auch, warum: David war mein Anker. Er war der Mensch, den ich am meisten liebte. Er war derjenige, der mich beschützte, selbst wenn es meistens meine eigene dunkle Seite war, vor der er mich bewahren musste. Und was hatte ich gemacht? Ich war ohne ihn los und aufs Meer rausgetrieben. Nichts an diesem Tag fühlte sich gut an. Nichts davon hatte die psychologische Erleichterung ausgelöst, nach der ein Teil von mir immer noch lechzte. Und das machte mich rasend – nicht nur wütend, sondern rastlos und verzweifelt darauf bedacht, wieder zu meinem Freund und dem normalen Leben zu schwimmen, das ich mir mit ihm zusammengeklaubt hatte.


Ich legte auf und hatte gerade mein Auto erreicht, als ich meinen Namen durch den Park schallen hörte. »Patric!«, schrie Arianne. Sie war von der Aufnahme zurück und lief auf mich zu. Ich brachte mit Mühe ein schmales Lächeln zustande. »Hallo«, sagte ich. »Guter Prank.« »Nicht wahr?« Arianne strahlte. »Wir haben das richtig geil auf die Ketten gekriegt. Er hat sich fast in die Hosen gemacht, als wir ihm mit einer Verhaftung gedroht haben. Er hatte so gar keine Ahnung, was abgeht.« Ich musste ungeachtet meiner Laune lächeln. »Das war großartig.«


»Warte mal«, sagte Arianne, als ihr auffiel, dass ich gerade gehen wollte. »Du gehst doch nicht etwa?« »Doch«, sagte ich. »Ich treff mich mit David im Nozawa.« »Na ja, warte mal kurz«, sie senkte die Stimme und schaute sich um. »Was ist passiert?! Hast du es … getan?« »Japp«, erwiderte ich knapp. »Das ganze Ding gelesen.« »Uuuuuuund?«, drängte sie weiter, völlig taub gegenüber meinem neuen Tonfall. »Gute Nachricht«, sagte ich und versuchte, einen lockerflockigen Ton anzuschlagen. »Er betrügt dich definitiv nicht.« »Wirklich?!«, Arianne grinste und legte ihre Hände auf meine Schultern, um mich sachte nach vorn und hinten zu schütteln, als wollte sie mich so auf ihr Erregungslevel holen. »Das ist so fantastisch!«, sagte sie. »Oder?« Ich nickte gezwungen. »Er wirkt wie ein wirklich guter Typ«, sagte ich dann. »Du hast echt Glück mit ihm. Apropos, David wartet auf mich, ich muss wirklich los.« »Nee, nee, warte mal«, beharrte Arianne, mit ihren Händen immer noch auf meinen Schultern. »Das Tagebuch … was stand denn da sonst noch so drin?« Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Nicht viel.« »Nicht … viel?«, fragte Arianne und ließ ihre Hände fallen.


»Ja, genau«, erwiderte ich. »Du wolltest von mir wissen, ob er dich betrügt. Tut er nicht. Ende der Geschichte.« Arianne sah mich entsetzt an. »Du wirst mir wirklich nicht verraten, was da sonst noch so drin stand?« »Nein.« Im ersten Augenblick war sie perplex, dann stemmte sie die Hände in die Hüften, als das Gör in ihr seine hässliche Fratze zeigte. »Aber ich will nun mal wissen, was mit ihm los ist, und ich finde es ganz schön komisch, dass du es mir nicht verraten willst.«


Ich starrte sie an. »Na ja, also ich finde es komisch, dass du mich überhaupt gebeten hast, es zu lesen«, erwiderte ich, jegliche Vortäuschung von Herzlichkeit aufgebend. »Wenn du also wissen willst, was da sonst noch zur Hölle drinsteht, dann musst du wohl selbst in sein Haus einbrechen und reinschauen.« »Also … Was jetzt?«, schnauzte mich Arianne an. »Jetzt bist du wütend auf mich? Ich hab überhaupt nichts getan!« »Nee, stimmt, du hast es mich tun lassen«, sagte ich. »Diese ganze Sache war eine idiotische Idee und ich bin sauer auf mich, dass ich dem zugestimmt habe. An deiner Stelle würde ich mich also verdammt noch mal zurückhalten.« Sie war nicht vorbereitet gewesen auf so eine drastische Zurechtweisung. Sie schaute sich nervös um und verlagerte ihr Gewicht. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Bitte … schrei mich nicht an.« »Hör mal«, sagte ich daraufhin. »Es war ein langer Tag. Ich will hier einfach nur weg.« Ich öffnete die Autotür und stieg ein.


Arianne sah traurig und verwirrt aus. Ich wollte emotionale Probleme ungern so ungelöst lassen, also atmete ich tief ein und zwang mich zu einem versöhnlichen Tonfall. »Ich entschuldige mich dafür, dass ich dich angeschrien habe. Wie gesagt, ich bin einfach genervt.« »Genau das verstehe ich nicht«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Warum bist du genervt?« »Habe ich dir doch schon gesagt.« Ich war jetzt verärgert. »Das war einfach eine beschissene Idee.« »Was kümmert es dich?«, fragte Arianne. »Du bist eine Soziopathin.«


Ich starrte sie an, während Zorn schnell aus den Tiefen meines Bauches nach oben stieg. Ich seufzte leise und ließ den Kopf hängen. Dann schaute ich wieder nach oben, konnte ihr Gesicht im Gegenlicht kaum erkennen. »Fick dich, Arianne.« Ihr fiel die Kinnlade herunter. Sie nahm einen Schritt nach hinten vor Schreck, als ich die Autotür mit Wucht zuzog. Dann rammte ich den Schlüssel in die Zündung und raste davon.