Abgrund Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.

Abgrund

Am nächsten Tag erzählte ich David, was ich getan hatte. Fest entschlossen, meinen Teil der Abmachung zu halten, legte ich die Freiheitsstatue auf den Tisch, damit er sie dort sehen konnte, wenn er nach Hause kam.


Ehrlicherweise hoffte ich, dass sie ihm nicht auffallen würde. Oder dass er sie ignorieren würde, sodass wir einfach unser Leben weiterleben könnten, als wäre nichts »Unorthodoxes« passiert. Ich irrte mich in beidem. »Das ist doch abgefuckt«, resümierte er. Wir saßen einander im Wohnzimmer gegenüber. Er sah aus, als würde meine Beichte eher ihm auf der Seele brennen als mir. »Ich meine das ernst, Patric«, sagte er. »Fühlst du dich wenigstens schlecht?« Cleckleys Checkliste. Sechster Punkt. Mangel an Reue oder Scham. »Fühlst du irgendetwas?«, ließ er nicht locker. »Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Als ich mit dem Lesen fertig war, fühlte ich mich definitiv anders. Nicht wie sonst, wenn ich etwas Schlechtes getan habe.« »Was soll das denn heißen?«, fragte er. Ich war genervt. Er wusste genau, was ich meinte. Wir hatten das schon so oft ausdiskutiert. Warum also stellte er schon wieder Fragen, auf die er die Antworten kannte? Ich blickte ihn unverwandt an, atmete tief ein und versuchte sehr, meine Frustration nicht zu zeigen.


Ich begann mit knapper, aber fester Stimme: »Wie ich schon mal gesagt habe, fühle ich mich normalerweise glücklich. Fast schon erleichtert.« Ich versuchte, zu rekapitulieren, wie genau ich mich nach dem Lesen von Jacobs Tagebuch gefühlt hatte. »Aber das tat ich nicht. Es war eher wie ein negatives Gefühl … fast schon schwermütig.« Dann fügte ich noch hinzu: »Ich würde es definitiv nicht noch mal machen.«


Er seufzte. »Na gut, das ist schon mal was.« Wir saßen ein paar Augenblicke lang da und wussten beide nicht, was wir sagen sollten. Dann kam er zu mir und setzte sich neben mich aufs Sofa. Er legte seine Hand auf meinen Nacken und streichelte ihn zärtlich mit dem Daumen. »Hör mal«, sagte er. »Ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr, dass ich manchmal das Gefühl habe, mein Herz packt das nicht. Es ist, als wärst du ein Teil von mir. Nichts, was du je machen könntest, könnte das ändern, nichts.« Ich nickte, hatte eine Ecke meiner Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt.


»Es ist nur manchmal … Es ist manchmal schwer für mich, es zu verstehen. Wie kannst du bei jemandem einbrechen, dessen Tagebuch lesen … und dann mit mir zu Abend essen, als wäre nichts gewesen? Das stört mich daran. Warum hast du es mir nicht erzählt?« »Ich erzähle es dir doch jetzt.« Ich zuckte mit den Schultern und spielte mit der Troddel eines Sofakissens. »Und aus technischer Sicht bin ich nicht eingebrochen.« David starrte mich an.


»Das ist eine andere Sache«, sagte er. »Was du gemacht hast, war schlimm genug, aber Arianne … was für eine scheiß ›Freundin‹. Dich ihre dreckige Wäsche machen lassen? Ein echt beschissener Mensch.« Ich sah nachdenklich zu ihm hoch. »Nein«, erwiderte ich. »Ich glaube nicht, dass sie ein scheiß Mensch ist, sie wird nur von ihren Gefühlen gelenkt.«


»Die meisten Menschen werden von ihren Gefühlen gelenkt, Süße«, unterbrach er mich. »Ich weiß, aber Menschen, die diese Gefühle nicht kontrollieren können, sind gefährlich. Zumindest für mich.« »Okay«, sagte er und zog mich an sich. »Vielleicht solltest du also vorsichtiger damit sein, wem du von deiner … Situation erzählst.« Sein Tonfall klang herablassend und ich schreckte zurück. »Okay, Dad.«


»Nicht cool«, fauchte er. David war meinem Vater gegenüber mit der Zeit immer skeptischer geworden. Er hasste die Tatsache, dass ich für ihn arbeitete, und wollte, dass ich kündigte. Seine größte Sorge war, wie oft von mir die Teilnahme an Meetings und spätabendlichen Konzerten erwartet wurde, meist mit Männern aus der Musikbranche. Ein jüngst stattgefundenes Abendessen mit einem besonders gruseligen (und erfolgreichen) Produzenten hatte uns beide nervös gemacht. »Tut mir leid«, murmelte ich.


»Ich will damit nur sagen«, fuhr David fort, »dass deine Diagnose meiner Meinung nach gegen dich verwendet wird. Menschen wissen, dass du Regeln umgehen wirst, dass du stehlen, lügen und einbrechen kannst, und weiß Gott was tun würdest, ohne dir Gedanken darüber zu machen. Das zieht Arschlöcher an. Das ist wie eine Superkraft, die sie ausnutzen können.« »Ich erkenne das nicht«, sagte ich. »Ja, weil du kein Arschloch bist«, erklärte er mir. »Aber glaub mir, die meisten sind es. Du bist … anders. Und das zieht Menschen an, die solche Sachen nicht machen können oder wollen. Sie nutzen dich aus.« Er wartete darauf, dass ich es verstand, dann fügte er hinzu: »Ich glaube, dein Vater nutzt dich manchmal aus. Ich weiß, dass Arianne es getan hat.«


Da konnte ich ihm nur wenig widersprechen. »Du hast recht mit Arianne, aber ich glaube nicht, dass Dad so ist.« Wir saßen eine Zeit lang still da. Irgendwann sagte David: »Wie dem auch sei, glaube ich nicht, dass du so offen damit umgehen solltest, wie du dich fühlst. Oder nicht fühlst. Das hat keinerlei Vorteile.« Er setzte sich auf dem Sofa auf. »Denk mal an deine Forschung«, sagte er. »Was hast du schon tausendfach zu mir gesagt?« Ich grinste. »Dass lügen okay ist, wenn man irgendwann die Wahrheit verraten will?« Er rollte mit den Augen. »Dass Soziopathen nicht immer das Schlechte machen müssen. Warum also willst du dich der Ausnutzung zum Abschuss freigeben?« Er schüttelte den Kopf. »Du hast die Wahl, ob du eine ›böse‹ … oder eine gute Soziopathin sein willst. Und es ist deine Wahl, Patric. Nicht die von jemand anderem.«


In der folgenden Woche stürzte ich in Dr. Carlins Büro. »Ich habe letzte Woche etwas getan und – bevor Sie irgendwas sagen – ich will, dass Sie verstehen, dass ich weiß, dass es falsch war, und dass ich es nicht wieder tun werde. Aber ich habe es nicht aus Gründen getan, wegen denen ich früher so Kram
gemacht habe … Dieses Mal war es anders.« Dr. Carlin hörte zu, während ich den schon vor Monaten unternommenen Einbruch im Haus gegenüber beichtete. Ich erzählte ihr auch von David und dem Schlüsselanhänger. Dann erklärte ich ihr, was letztens mit Arianne passiert war und wie David darauf reagiert hatte. Danach sah sie mich skeptisch an. »Wie ist das anders?«


»Weil ich es tun wollte!«, rief ich aus. »Ich traf die Entscheidung. Und ja, ich gebe zu, es war nicht die beste, aber das Wichtige hier ist die Tatsache, dass ich mich nicht dazu gezwungen sah. Wenn überhaupt – wie in Ariannes Fall – habe ich es nur getan, um jemandem zu helfen.«


Die Therapeutin seufzte. Sie war eindeutig unbeeindruckt. »Aber es war immer noch falsch, Patric«, sagte sie. Ich nickte. »Ja, ich weiß«, erklärte ich. »Aber ich will damit sagen, dass die inhärenten psychologischen Züge der Soziopathie ohne die Zwanghaftigkeit – ohne die Angstreaktion auf die Apathie, die so viel schlechtes Verhalten hervorruft – nicht unbedingt negativ ausfallen. Tatsächlich glaube ich mich zu erinnern, dass ich genau dieses Gespräch mit Dr. Slack mal hatte.«


»Ihrer Psychologieprofessorin?«


»Genau«, sagte ich. »Als ich mit meiner Recherche begann, fand ich heraus, dass die meisten soziopathischen Eigenschaften verhaltensbezogen sind. Lügen, stehlen, manipulieren, antisoziale Tendenzen … das hat alles mit Verhalten zu tun.« »Und?«, fragte Dr. Carlin weiter. »Und diese Verhaltensweisen sind falsch, oder? Sie sind explizit ›schlecht‹«, sagte ich und machte Anführungszeichen in der Luft. »Da gibt es keinen Interpretationsspielraum.« »Stimmt.«


»Aber die psychologischen Eigenschaften der Soziopathie sind weder gut noch schlecht, so wie nichts ›falsch‹ an der Apathie ist. Man kann diese Eigenschaft nutzen, um gute oder schlechte Entscheidungen zu fällen, und je mehr wir so etwas normalisieren, desto mehr könnten Soziopathen aufgeklärt werden darüber, dass sie weder ›gut‹ noch ›schlecht‹ sind – und desto weniger Stress dürften sie dann damit haben. Desto weniger würden sie sich also dazu gezwungen fühlen, deswegen so zu handeln.« Dr. Carlin bedeutete mir fortzufahren. »Schauen Sie mal, auch wenn Soziopathen vielleicht nichts gegen ihre psychologische Zusammenstellung machen können, so können sie doch darüber aufgeklärt werden, dass sie etwas an ihrem Verhalten ändern können. Mir kam der Gedanke, als David meinte, das sei wie eine Superkraft. Soziopathen sind einzigartig, weil wir von Haus aus nicht auf Basis von Emotionen oder Erwartungshaltungen internalisieren. Mache ich zumindest nicht. Ich mühe mich damit nicht ab.«


»Und David hält das für eine Superkraft?«, fragte sie nach. Ich lehnte mich aufgeregt in meinem Stuhl nach vorn. »Na ja, es ist auf jeden Fall ein strategischer Vorteil. Denken Sie mal darüber nach. So viele Menschen werden von ihren Gefühlen gelenkt, fast schon gefährlich doll. Wie Arianne. Sie ist so voller Emotionen, richtig? Sie ist so ›verliebt‹, richtig? Und was hat sie dann gemacht? Sie hat mich dazu gebracht, in das Haus ihres Freundes einzubrechen.« Ich verdrehte die Augen. »Jacob soll laut ihrer Aussage die wichtigste Person in ihrem Leben sein. Dennoch verletzt sie vollständig sein Vertrauen … aufgrund ihrer Gefühle.« »Ja, aber Emotionen verleiten Menschen nicht immer zu schlechten Handlungen, Patric.«


»Aber ein Mangel dessen muss das auch nicht!«, erwiderte ich. »Sehen Sie das denn nicht? Das ist die andere Seite der Medaille. Normale Menschen handeln aufgrund zu stressiger Gefühle, aber Soziopathen tun es aufgrund des Stresses wegen mangelnder Gefühle. Sie müssen das verstehen. Es geht nicht so sehr darum, dass ich jetzt durchflutet bin von Gefühlen, seit David hier ist. Also ich meine, ja, klar, ich liebe ihn, und das ist alles super, klar. Aber ich glaube nicht, dass deswegen der Stress weg ist. Meine Angst ist nicht weg, weil sie von Liebe ersetzt wurde, sondern weil ich mich akzeptiert fühle. David verurteilt mich nicht, wenn mir manches egal ist, er denkt nicht, dass es komisch ist, wenn ich still werde.


Ich muss nicht die ganze Zeit in einer Abwehrhaltung wegen meiner Apathie sein, also löst sie selbst weniger Stress aus.« Ich ließ das kurz sacken. »Weil die breite Masse die Meinung vertritt, dass es ›schlecht‹ sei, keine Gefühle zu haben, bekommen Soziopathen – schon in jungen Jahren – beigebracht, dass sie ihre Apathie verstecken oder verleugnen müssen, weil sie sonst als Monster klassifiziert werden. Also entwickelt sich die emotionale Leere zu einem Stresstrigger, zu einem Angsttrigger, was wiederum zu destruktivem Verhalten führt. Das ist ein Teufelskreis. Wenn wir dieses Glaubenssystem aber neu ausrichten können, wenn wir Soziopathen darin aufklären können, dass ihre Charaktereigenschaften nicht schlecht sind, dann können wir die Angstreaktion durch Akzeptanz ersetzen und so vielleicht das schlechte Verhalten reduzieren.«


»Es ist aber auch nicht gut, wenn wir antisoziales Verhalten normalisieren, Patric«, widersprach sie. »Oder als ethisch unbedenklich einstufen. Deswegen hatte ich Sie gebeten, mit Ihren Medikationen aufzuhören, weil ich wollte, dass wir eine gesunde Coping-Strategie finden.«


»Mir geht es nicht um die Normalisierung von Verhalten«, beharrte ich. »Mir geht es um die Normalisierung von psychologischen Eigenschaften. Ich weiß, je mehr ich meinen Persönlichkeitstyp verstehe – je weniger ich mich um die Apathie kümmere –, desto weniger benehme ich mich daneben. Denken Sie daran, dass die Apathie nicht der Grund für die Soziopathie ist, sondern nur ein Symptom. Ich weiß das, weil ich mich – auch wenn ich mich weniger danebenbenehme – immer noch wie eine
Soziopathin fühle.«


»Hier komme ich jetzt nicht mehr mit«, sagte die Therapeutin. »Auch wenn ich in letzter Zeit nicht mehr den Drang hatte, mich danebenzubenehmen, so bin ich doch immer noch ich. Ich erlebe Gefühle nach wie vor nicht wie Sie. Ich bin immer noch immun gegen Reue und Scham.«


»Sie fühlen sich also nicht schlecht, weil Sie Jacobs Tagebuch gelesen haben?« »Nein. Es tut mir nur leid, dass ich mich von Arianne habe zu etwas überreden lassen, was ich nicht machen wollte. Ich habe zugelassen, dass man mich ausgenutzt hat. Deswegen hat mich das so wütend gemacht. Wütend über mich selbst, weil ich die falsche Entscheidung getroffen hatte.«


»Sie sind aber immer die Entscheidungsträgerin.« 


»Nicht wirklich. Nicht mehr als Menschen mit einer Zwangsstörung, die sich nicht aussuchen können, ob sie etwas zählen oder ihre Hände waschen sollen, oder was auch immer bei ihnen das Gefühl auslöst, sie ›müssten‹ es tun.« Ich sah ihr an, dass sie mir nicht glaubte.


»Genau das will ich Ihnen verständlich machen. Wahnsinnig viele der schlechten Verhaltensweisen der Soziopathen sind zwanghaft. Sie werden von einer Angstreaktion auf den Druck ausgelöst, von einem Verlangen, die Apathie zu zerstreuen. So fühlt es sich an. Aber wenn die Angst weg ist, dann haben
Soziopathen eine Wahl«, erklärte ich ihr. »Ich bin in das Haus gegenüber eingebrochen, weil ich es wollte, weil ich das für mich entschieden hatte. Und weil Angst eben kein Motivator war, konnte ich die Erfahrung genießen.«


»Okay, gehen wir darauf mal ein«, sagte sie.


Ich schüttelte den Kopf, kämpfte mit einer Antwort. »Ich dachte mein ganzes Leben lang, dass ich so sein wollte wie alle anderen. Ich wollte normal sein. Aber das will ich jetzt nicht mehr. Ich mag, dass es mir egal ist, was andere denken. Ich mag es, dass mich kein Schuldgefühl nach unten zieht, so wie das bei allen anderen der Fall ist. Und wenn ich wirklich ehrlich bin, dann mag ich sogar die Apathie manchmal. Gar nichts zu fühlen, erinnert mich an das Great Blue Hole.«


Dr. Carlin blinzelte. »Das was?«


Ich lächelte und klärte sie auf: »Das Great Blue Hole. Das ist ein Karstloch an der Küste von Belize. Es ist Hunderte Meter tief und um es herum ist das Wasser hellblau und kristallklar. Aber direkt darüber, wo der Meeresgrund nach unten wegbricht, ist das Wasser schwarz.« Ich schaute wieder zum Fenster raus. »Das ist eins der wenigen Dinge, das mir wirklich Angst eingejagt hat in meinem Leben. Wenn ich als Kind Bilder davon gesehen habe, dann brachte mich allein der Gedanke, darüber zu schwimmen, dazu, dass ich …« Ich ließ den Satz unvollendet und fühlte mich innerlich absolut ruhig.


»Brachte Sie dazu, was zu tun?«


Ich runzelte die Stirn und schaute ihr in die Augen: »Jemandem  wehzutun.«


Sie zog die Augenbrauen nach oben und wartete, dass ich fortfuhr. »Meine Apathie fühlte sich immer wie ein Abgrund an, auch schon, bevor ich es realisiert hatte, schon in meiner Kindheit.« Ich schaute nach unten und fühlte mich, als würde ich im Muster des Teppichs versinken. »Ich glaube, ich hatte immer Angst davor, weil ich nie wusste, welche Monster aus dieser Finsternis hervorkommen könnten.«


»Und jetzt?«, fragte sie.


Ich zuckte mit den Schultern. »Na ja, jetzt habe ich meine Monster getroffen.« Ich lächelte. »Und ich ergebe mich ihnen.« Im Raum war es derart still, dass man die Uhr ticken hören konnte. Die Nachmittagsschatten wanderten in die Ecke des Büros und machten es sich um mich herum gemütlich wie alte Weggefährten. Und da kam es mir. »Genau so sollte es sein«, sagte ich leise. »So sollten sich Soziopathen fühlen. Das ist die Hoffnung.« Ich spürte, wie ich mich entspannte. »Während ich hier sitze, genau jetzt, habe ich das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, dass ich mich selbst mag. Ich habe Frieden mit mir selbst geschlossen, mit dem, was ich bin. Und ich begreife langsam, dass das Einzige, was ich je an mir nicht mochte, mein Verhalten war.« Dr. Carlin nickte. »Das ist die andere Seite der Finsternis. So sollten sich alle Soziopathen fühlen.« Ich blickte düster drein. »Und es ist unfair, dass sie das nicht können.«


»Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Warum können sie es nicht?«


Ich zuckte mit den Schultern. »Weil da niemand ist, der ihnen das erklären könnte. Es reden nur die Falschiopathen. Und es schreiben nur Idioten mit schwachsinnigen Informationen Bücher«, beschwerte ich mich. »Wie sollen so denn wirkliche Soziopathen je aus sich selbst schlau werden?« »Na ja, Sie scheinen ja aus sich selbst schlau geworden zu sein«, gab Dr. Carlin zu Bedenken. »Ich hatte Glück«, sagte ich mit einem sarkastischen Lachen. »Der einzige Grund, weshalb ich irgendetwas davon verstehe, hängt damit zusammen, dass ich zufällig einen Stapel Bücher in der Bibliothek gefunden hatte.« Ich schaute zum Fenster raus und lehnte mich wieder in die Sofakissen zurück. »Was ist mit all den Menschen, die nicht so viel Schwein hatten?«, fragte ich und hob schwach meine Hände nach oben. »Wo sind deren Therapeuten? Deren Selbsthilfegruppen?« Ich war genervt. »Wo sind die Bücher für sie?« 


Dr. Carlin wartete einen Augenblick und sagte dann: »Also schreiben Sie doch eins.« Ich schaute sie an, als sei sie verrückt geworden. »Ich habe das schon mal erwähnt, Patric. Ich glaube, Sie haben ein wirkliches Talent für Psychologie. Ich finde, Sie sollten sich mal wegen eines Graduiertenkollegs schlau machen.« Sie beobachtete meine Reaktion. »Und ich glaube, Sie sollten ein Buch schreiben.« Ich war fassungslos. »Wer bin ich denn, dass ich ein Buch schreiben könnte?«


»Zunächst einmal: Sie sind eine gut angepasste Soziopathin.« Sie lachte. 


»Stimmt«, erwiderte ich. »Ich bin eine Soziopathin. Wer zur Hölle wird auch nur ein Wort von dem glauben, was ich schreibe?«


»Andere Soziopathen. Wie Sie das gerade schon gesagt haben: Sie können es nachvollziehen. Sie wissen, wie ein Leben damit ist. Sie haben eine einzigartige Perspektive darauf, weil Sie es aus sowohl einer persönlichen als auch einer professionellen Perspektive untersuchen können. Selbst wenn Sie nicht alle Antworten parat haben sollten, so haben Sie doch den Einblick. Sie können andere Soziopathen verstehen und können ihnen helfen, wie Sie sich selbst geholfen haben.«


Ich wendete meinen Blick wieder dem Park zu.


»Es heißt, Soziopathen seien impulsiv, irrational, unfähig zur Selbstwahrnehmung«, fügte sie noch hinzu und schüttelte dann den Kopf. »Nicht aus meiner Sicht. Es heißt, Soziopathen könnten nicht lieben, aber ich habe Sie dabei beobachtet, wie Sie jemanden lieben.« Sie lehnte sich nach vorn, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Es heißt, Soziopathen könnten keine Empathie empfinden.«


Ich drehte den Kopf und schaute ihr in die Augen. »Ich bin darin aber nicht wirklich gut«, sagte ich leise.


»Oh, doch, das sind Sie«, widersprach sie mir. »Gegenüber anderen Soziopathen.« Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Und jetzt verraten Sie mir mal: Wer kann das sonst noch?«


Ich warf einen Blick auf die Uhr. »Oha, sehen Sie mal«, sagte ich und stand auf. »Unsere Zeit ist rum.«


Sie lächelte und hob die Hände resigniert in die Luft. »Denken Sie einfach mal darüber nach.«