Orion Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.

Orion

Ein paar Wochen später saß ich mit meinem Vater gemeinsam über den Spesenabrechnungen. Das Wetter draußen war untypisch grau und beim Blick aus seinem Eckbüro nach draußen musste ich immer wieder an mein Gespräch mit Dr. Carlin denken. Dad starrte gerade mit zusammengekniffenen Augen auf seinen Computer, wo er mit einer Excel-Datei kämpfte, als ich ihn fragte: »Was würdest du davon halten, wenn ich wieder zur Uni ginge?« Er schaute mich fragend an. »Um Psychologie zu studieren«, erklärte ich. »Meine Therapeutin meinte, das könnte gut für mich sein.«


»Das ist eine super Idee«, sagte er. »Wirklich. Ich glaube, das ist schon lange überfällig.« »Was genau?« »Dass du etwas findest, wofür dein Herz schlägt.« Dad lehnte sich nach vorn. »Was hält David von der Idee?« »Na ja, ihm gefällt die Idee, dass ich dann diesen Job nicht mehr machen würde, das auf jeden Fall.« Er legte den Kopf schräg. »Er mag mich nicht wirklich, oder?« Ich zuckte mit den Schultern. »Er mag dich nicht nicht«, antwortete ich, die Frage umschiffend. »Er hasst einfach die Musikbranche.«


»Das ist das Problem mit so Leuten wie ihm«, sagte er, abwertend eine Hand wedelnd. »Alles ist schwarz und weiß. Er versteht nicht, dass die Welt meist grau ist.« Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her, wollte unbedingt das Thema wechseln. »Aber deswegen liebe ich ihn so. Wir gleichen einander aus.« Dad schwieg. »Wie auch immer«, fuhr ich fort. »Ich könnte wohl ein wenig Struktur vertragen, weißt du? Wenn ich wieder an die Uni gehe, habe ich wieder einen festen Zeitplan und ein Ziel.« »Genau das Richtige für David«, stichelte Dad. »Da freut er sich bestimmt.« »Tut er tatsächlich nicht.« »Wirklich?«, erwidert er. »Das überrascht mich.« Das hatte es mich auch.


Den Abend nach meiner Sitzung mit Dr. Carlin freute ich mich sehr darauf, David alles zu erzählen. Zugegebenermaßen schockte mich die Idee des Graduiertenkollegs und ich war mir im ersten Moment nicht sicher, was ich davon halten sollte, aber sobald ich zu Hause angekommen war, war ich voll dafür. »Um das noch mal klarzustellen«, sagte David, als ich ihm davon erzählt hatte. Wir waren gerade mit dem Abendessen fertig und ich konnte Keith Jarrett leise aus den Lautsprechern im Wohnzimmer hören. »Du willst mir sagen, dass du dich in der Zeit zwischen ihrem Büro und unserer Haustür entschieden hast, einen Doktor zu machen? In Psychologie?« Ich grinste. »Japp.«


»Das ist einfach ein komischer Plan. Die wenigsten Menschen gehen so kurzentschlossen noch mal an die Uni.« »Die wenigsten Menschen sind wie ich«, rief ich ihm ins Gedächtnis. »Auch wieder wahr.« Er grinste. »Es ist nur so, dass ich wiederum dachte, es wäre mal an der Zeit, für die Zukunft zu planen, unsere Zukunft.« Als er mir ansah, dass ich keinen Plan hatte, was er meinte, lehnte er sich zu mir und flüsterte: »Du weißt schon, Kinder?« »Kinder?«, fragte ich verblüfft. »Du willst über Kinder reden? Wir sind nicht mal verheiratet.« »Ja, ich weiß, aber das werden wir. Irgendwann.« Er lächelte. »Oder?« Ich lächelte instinktiv zurück. Ich hatte in dem Moment, wo ich ihn das erste Mal gesehen hatte, gewusst, dass ich ihn heiraten wollen würde. Für mich war das immer eine Tatsache gewesen, hatte nie zur Debatte gestanden. »Ja«, antwortete ich. »Wir wissen das.« »Das ist alles, was ich damit sagen will. Wir wollen beide mal heiraten, wir wollen beide mal Kinder haben. Jetzt noch einmal an die Uni zu gehen, ist vielleicht – gerade jetzt – ein bisschen viel.« »Glaube ich nicht«, sagte ich stirnrunzelnd. »Aus meiner Sicht ist gerade jetzt die perfekte Zeit dafür. Bevor wir heiraten, bevor wir Kinder kriegen. Es wird nur noch schwieriger, wenn ich all das abwarte.«


Er stand auf und nahm meine Hand. »Komm mal mit«, sagte er und führte mich durch die Flügeltüren auf die hintere Terrasse. »Siehst du das?«, fragte er auf den Himmel zeigend. »Diese drei Sterne in einer Linie?« Ich kniff die Augen zusammen, als ich seinem Finger mit dem Blick folgte. »Ich glaube schon, ja.« »Das ist der Orion, der Jäger, der Beschützer. Meine Mom hat mir von ihm erzählt, als ich klein war. Sie kannte die gesamte griechische Mythologie und deren Sternenkonstellationen. Aber er war ihr der liebste.« Ich grinste gezwungen und fragte mich, was er mir damit sagen wollte. »Das klingt schön«, erwiderte ich leise, mich an Kimis übliche Antwort erinnernd. Er ging einen Schritt zurück und hielt meine beiden Hände in seinen. »Ich habe auf den richtigen Moment gewartet, um dir davon zu erzählen«, sagte er dann und unterdrückte mit nur wenig Erfolg sein Lächeln. »Ich habe letzte Woche einen Job angeboten bekommen.« »Wirklich?« Ich freute mich für ihn. »Wo? Von wem?« »Von einem Start-up in Santa Monica«, erzählte er. »Sie brauchen einen Mitgründer, der sich mit der technischen Seite auskennt. Und sie haben Geld. Viel Geld.« »David! Das ist großartig!« Er sah nervös aus. »Ist es doch, oder?« »Ich glaube schon, ja«, erwiderte er. »Das wird aber wohl ein wenig heftig am Anfang. Sie wollen, dass ich ihnen ein riesiges System baue. Aber wenn ich damit durch bin, wird das mega gut.« Ich legte verwirrt den Kopf schräg.


»Patric«, sagte er. »Ich liebe dich. Ich will dich heiraten. Ich will für dich sorgen. Und zwar für immer.« Er nahm mich in den Arm. »Du musst nicht noch mal zur Uni gehen. Du musst nicht mal für deinen Vater arbeiten, du kannst da morgen schon kündigen, wenn du willst.« Ich schüttelte den Kopf und kämpfte mit einer Antwort. »Aber ich will das … nicht«, stammelte ich irgendwann und zog mich aus der Umarmung. »Schatz, versteh mich bitte nicht falsch, ich finde das super süß, dass du für mich sorgen willst, aber du musst das nicht.« Er grinste mich schief an. »Ich weiß, dass ich das nicht muss«, erwiderte er sanft. »Ich will. Ich will, dass du frei bist, aber nicht nur von der Arbeit und den Rechnungen …, sondern von allem, frei von dem, mit dem du dein ganzes Leben lang zu kämpfen hattest.« Er schüttelte den Kopf. »Denk doch mal darüber nach, wie schön das wäre, ein … normales Leben zu führen. Das Leben, das du schon immer wolltest.«


Seine dunkelbraunen Augen leuchteten warm und einladend. Das war ein Blick, den ich nur von ihm bekam, ein leidenschaftlicher Ausdruck auf dem Gesicht von jemandem, der alle meine dunklen Gedanken kannte. David machte sich bezüglich der Kämpfe in meinem Kopf nichts vor. Er leugnete nicht die schlimmen Sachen, die ich machen könnte. Sondern akzeptierte sie sogar. Ich fühlte mich in diesem Moment vollständig gesehen. Es war, als würde er direkt mit meiner Seele sprechen, Sachen laut sagen, die ich mir selbst immer nur zugeflüstert hatte. Ich wollte es auch, und zwar mehr, als wir beide uns das ausmalen konnten. Die Idee einer solchen Freiheit, eines solchen Lebens. Ich schwöre, ich versuchte es.


Monatelang versuchte ich, alle Gedanken an die Uni und die Soziopathie zu verdrängen. David fing kurz danach seinen neuen Job an und ich arbeitete weiterhin für Dad. Auch wenn ich zugeben musste, dass es zwischen uns nicht mehr wie vorher war. David hatte mit den längeren Arbeitstagen recht gehabt: Er war eigentlich ab seinem ersten Tag kaum mehr zu Hause. Er blieb manchmal lange Nächte – teilweise auch ganze Wochenenden – in seinem neuen Büro vergraben, während sein Team und er den Launch der Web-Application vorbereiteten. Das war ein extremer Wandel unseres Lifestyles und ich war unvorbereitet, aber ich gab mein Bestes. Zumindest am Anfang. In den ersten paar Monaten perfektionierte ich die Rolle der unterstützenden Partnerin. An den Abenden, an denen er spät nach Hause kam (was der Normalfall war), machte ich mich mit selbstgekochten Mahlzeiten auf den langen Weg quer durch die Stadt, damit wir zusammen zu Abend essen konnten. Ich hielt meinen Mund, wenn er samstags ins Büro fuhr. Ich versuchte, nicht wütend über kurzfristige Absagen eines gemeinsamen Dinners zu werden. Ich behielt meine Beschwerden und Meinungen für mich, aber je mehr Zeit ins Land ging, desto schwerer fiel es mir.


»Willst du mich verarschen?«, fragte ich, nachdem David eines Abends angerufen hatte, um mir – zum dritten Mal diese Woche – Bescheid zu geben, dass er nicht zum Abendessen zu Hause sein würde. »Schon wieder?« »Es tut mir leid, Süße«, erwiderte er. »Ich war wortwörtlich auf dem Weg raus zur Tür, als mich Sam wieder in ein Meeting gezogen hat.«


Sam war Davids Chef und Geschäftspartner. Er war hölzern und sozial unbeholfen, eine absolute Null von einer Persönlichkeit. Es gab nur wenige Menschen, die ich weniger mochte als ihn, und meine Verachtung wuchs mehr und mehr. Ich stellte die Schüssel mit der gerade geschlagenen Sahne mit einem lauten Knall auf die Küchenfläche. »Na ja, ich bin gerade mit dem Dessert fertig geworden. Selbstgemachter Key Lime Pie. Ich hab die halbe Stadt durchquert, um die richtigen Limetten dafür zu finden.« Ich atmete ungeduldig aus, meine Stimme wurde ein wenig weicher. »Kannst du nicht einfach sagen, dass wir Pläne haben? Kannst du nicht einfach ablehnen? Nur heute?« »Das würde ich, wenn ich könnte«, erwiderte er und wollte mich offensichtlich abwürgen. »Aber Sam flippt gerade wegen des Launches nächste Woche aus … Hör mal, es ist nur noch diese eine Woche«, fügte er hinzu. »Danach gehen wir wieder zur Normalität über. Versprochen.«


Was ich ihm zugutehalten musste: Unser Alltag wurde wieder normal in der nächsten Woche, und es war wieder wunderbar. Er kam gegen sechs nach Hause und wir aßen gemeinsam zu Abend, schauten uns die Nachrichten an und waren … normal. Aber »Normalität« schien nie lange anzuhalten. Die Woche darauf arbeitete er wieder rund um die Uhr, dieses Mal für ein »Quartalsupdate«, das bis Ende des Monats erledigt sein musste.


Und genau das hasste ich am meisten an seinem Job. Es gab keine Ziellinie. Er arbeitete sich für irgendein großes Projekt fast zu Tode, um dann direkt ein neues anzufangen. Jedes Mal bestand er darauf, dass Sam versprochen hatte, das sei jetzt das »letzte Mal«. War es aber nie. Ich wollte ihn unterstützen, aber nach einer Weile wurde ich gereizt. »Das ist doch zum Kotzen«, sagte ich zu mir selbst. Ich war schon wieder allein zu Hause nach einem spätabendlichen Last-Minute-Meeting-Anruf von David. Der Tisch war kerzenlichtüberflutet, aber der von mir gebratene Heilbutt kalt und das Gemüse alles andere als frisch. Ich schnappte mir Davids Weinglas, kippte den Inhalt ins Waschbecken und lief ins Wohnzimmer. Ich drehte den Plattenspieler fast schon aufmüpfig weit auf und ging zum Fensterbrett. Ich schaute über den Garten hinweg über die Straße, wünschte mir, das Tarzana-Haus wäre immer noch leer, oder die neuen Besitzer – wenigstens – keine paranoiden Freaks, die eine ganze Menge Sicherheitskameras installiert hatten.


Hypnotische Blues- und Basstöne erfüllten das Zimmer. Ich lehnte den Kopf gegen die Wand, schaute rüber zur Küche auf die Apfelpyramide, die ich perfekt auf einem Vintage-Tortenständer angerichtet hatte, und musste an den Film Freundinnen denken, indem Barbara Hersheys Figur (Hillary) eine Jurakarriere an den Nagel hängt, um ihrem erfolgreichen Mann ein schönes Zuhause zu bereiten. Eines Morgens, auf dem Weg nach draußen, fragt der Ehemann sie, was sie an ihrem Tag vorhabe. »Ich gehe einen Schraubenschlüssel kaufen«, erwidert sie. Der Ehemann denkt kurz nach, sagt dann: »Super!« Hillary lächelt danach schwach. In dem Essbereich, in dem die Szene spielt, steht ein Teller mit Äpfeln neben einer Kanne voll Kaffee. Sie nimmt sich einen und legt ihn sich auf den Kopf, geradeaus starrend, während ihr Mann zur Arbeit geht.


Ich kniff die Augen zusammen, während ich auf den Apfelturm starrte, stand von der Fensterbank auf und ging in die Küche. Dann schnappte ich mir einen reifen Granny Smith und lehnte mich über die Kücheninsel. Ich biss ein Stück des Apfels ab und balancierte den Rest auf meinem Kopf. »Vielleicht sollte ich mir einen Schraubenschlüssel kaufen«, murmelte ich. Das klang wie eine gute Idee, die auch nicht gänzlich untypisch für mich wäre. Ein Großteil von mir wollte losgehen und sofort einen kaufen. Mir kamen viele Arten in den Sinn, wie ich ihn nutzen könnte – ganz besonders an der Seite von Sams Auto, bei dem ich wusste, dass es neben Davids vor dem Büro stand.


Dennoch sagte mir etwas, dass Hersheys Figur den nicht kaufen gehen wollte, weil sie eine noch zu bestimmende, fesselnde antisoziale Aufgabe zu erledigen hatte, sondern weil sie nichts Besseres zu tun hatte. Und ich war fuchsteufelswild, dass ich es auf einmal nachvollziehen konnte. Davids Behauptung, dass er für uns ein normales Leben wollte, klang authentisch, aber seine Vorstellung davon ging nicht mit meiner einher. Er arbeitete rund um die Uhr, um seine Ziele zu erreichen. Warum konnte ich das also nicht auch? Ich versuchte, mit ihm darüber zu sprechen, aber er war ständig mit der Arbeit beschäftigt. Es gab nie einen »guten Zeitpunkt« zum Reden. Immer, wenn ich es ansprach, nervte ich ihn nur damit.


»Warum zur Hölle hast du das denn gemacht?« Wir saßen ein paar Tage später in seinem Büro beim Mittagessen, wobei ich den Fehler begangen und erwähnt hatte, dass ich gerade eine Stunde lang mit dem Fachbereich für Psychologie der UCLA telefoniert hatte. »Sprich nicht so mit mir«, erwiderte ich, sofort frustriert von seinem Tonfall. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich mit sanfterem Habitus. »Ich bin nur gestresst. Und verstehe das nicht. Warum hast du sie angerufen?« »Weil ich wissen wollte, ob Dr. Slack noch dort arbeitet«, fuhr ich fort und versuchte, das Gespräch wieder auf den richtigen Kurs zu bringen. David wirkte nicht sonderlich beeindruckt: »Und?« »Und ich dachte, ich könnte hingehen und sie über das Graduiertenkolleg befragen. Die UCLA ist nicht die einzige Uni in der Stadt. Wenn ich das also machen will, sollte ich mich bei möglichst vielen bewerben, damit ich eine Auswahl habe.« »Eine Auswahl wovon?«, fragte David verwirrt. Ich spürte, wie Wut in mir hochstieg. »Hör auf damit«, fuhr ich ihn an. »Mit was soll ich aufhören?!« »Hör auf, Fragen zu stellen, deren Antworten zu kennst.« Ich war jetzt wirklich angefressen. »Du machst das andauernd und es macht mich wahnsinnig.«


»Weil deine Sätze keinen Sinn ergeben!«, schrie er mich fast an. »Weil sie für dich keinen Sinn ergeben, David. Weil für dich nur ›Sinn ergibt‹, dass ich zu Hause hocke und die kleine glückliche Hausfrau spiele, während du die ganze Zeit bei der Arbeit bist!« Er sah mich fassungslos an. »Du denkst, das will ich?« »Ist es etwa nicht so? Du willst, dass ich meinen Job kündige. Du willst eindeutig nicht, dass ich wieder an die Uni gehe …« »Weil ich dich schützen will!«, unterbricht David mich. Das schockierte mich. »Schützen?«, hakte ich irgendwann nach. »Wovor denn?« Nach einer langen Pause antwortete er: »Du weißt genau, was du alles während deiner Unizeit gemacht hast, was du mir alles erzählt hast.« »Ach, jetzt komm schon«, erwidere ich entnervt. »Damals war ich ein gänzlich anderer Mensch.« »Das weiß ich. Aber ich hasse deine Geschichten über gestohlene Autos und Hauseinbrüche, als ich fast 5000 Kilometer entfernt gewohnt habe. Und jetzt bin ich hier. Ich kann Acht auf dich geben, mich um dich kümmern.« Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Deshalb legst du mir den Schlüsselanhänger hin.« Ich riss die Augen auf, als mir klar wurde, wie sehr er alles missverstanden hatte. »Ah, David, nein«, sagte ich und wollte das unbedingt klarstellen. »Ich lege ihn hin, weil ich dir nahe sein will. Ich will, dass du weißt, was ich mache, weil ich bei allem ehrlich mit dir sein will, und zwar immer. So wie ich es dir versprochen habe. Nicht, weil du mich ›schützen‹ sollst.« Er konnte mir nicht in die Augen schauen.


»Hey«, sagte ich sanft und lief um den Tisch herum zu ihm. »Das meine ich ernst. Wir sind Partner und ich bin keine Verrückte, auf die du aufpassen musst.« Ich hielt sein Gesicht in den Händen, schaute ihm tief in die Augen. »Das meine ich ernst. Ich will niemals, dass du dich je verantwortlich für meine Handlungen fühlen musst. Es tut mir leid, dass du das so gefühlt hast.« »Nein, mir tut es leid. Ich hab nur eine echt beschissene Laune gerade«, gab er zu. Er zeigte auf den Flachbildschirm auf seinem
Schreibtisch. »Sam nervt mich mit diesem beschissenen neuen Programm und ich muss das fertigstellen.« Er seufzte und fügte hinzu: »Natürlich unterstütze ich deinen Plan, wieder an die Uni zu gehen.« Er schenkte mir sein typisches unwiderstehliches schiefes Grinsen. »Können wir nur einfach später darüber reden?« Ich zog die Stirn in Falten. »Du hast doch gesagt, du bist den ganzen Abend hier?« »Ah, stimmt, verdammt. Tut mir leid.« Er zuckte mit den Schultern. »Morgen Abend. Oder vielleicht am Wochenende?« »Klar«, erwiderte ich sanft. Das Telefon klingelte und er ging ran. Ich gab ihm einen Kuss auf den Kopf und stand noch eine Weile unbeholfen in der Gegend rum, dann schnappte ich mir meine Handtasche und ging.


Eine Stunde später saß ich auf dem Weg nach Hause in meinem Auto, mit einem reinen Wirrwarr an Gedanken. Es war spätnachmittags, die schlimmste Verkehrszeit in LA. Während ich mich auf der Straße voranschlich, dachte ich über unser Gespräch nach und darüber, warum ihn der Gedanke meiner Rückkehr an die Uni so beängstigte. Ein Teil von mir begriff es. Das ist schon irgendwie verrückt. Ich bin nicht mal eine gute Studentin, grübelte ich vor mich hin. Dennoch hatte ich jahrelang die Informationen über Soziopathie und Psychologie zusammengesammelt. Es wirkte wie der natürliche Lauf der Dinge, wenn ich mir jetzt damit einen Doktortitel erarbeiten würde. Anspruchsvoll, aber machbar. Tief in mir wusste ich, dass ich es gut machen würde.


Ich überfuhr die 405 aus Brentwood heraus und entschied mich, die Autobahn zu vermeiden. Stattdessen fuhr ich weiter in Richtung Westwood, völlig gedankenversunken. Als ich die Hilgard erreichte, hielt ich an einer roten Ampel an und lehnte mich gegen die Kopfstütze, in der Nostalgie versunken. Ich kannte diese Kreuzung gut, wahrscheinlich besser als jede andere in der Stadt. Hilgard Avenue war immerhin meine erste Wohnadresse in LA gewesen. Ich warf einen Blick die Straße runter, in Richtung meines alten Studentenheims. Es hatte sich seit meiner Ankunft damals viel verändert. Die Straße war breiter, als ich sie in Erinnerung hatte. Der gesamte Campus schien tatsächlich vor lauter Bauprojekten explodiert zu sein. Manches aber war doch noch wie immer. Ich griff das Lenkrad fester und riss es plötzlich herum, um vom Sunset runter in meine alte Straße abzubiegen. Riesige goldene Buchstaben glitzerten an der Steinmauer der Nordseite des Campus. UCLA. Die breite Straße war leer und einladend, und ich verspürte einen unerwarteten Freiheitsrausch. Knapp einhundert Meter weiter befand sich eine Seitenstraße, an die ich mich noch sehr gut erinnern konnte. Ich bog scharf in den schmalen Weg ein und bugsierte mein Auto in Richtung eines Parkplatzes in der Nähe. Der war, das wusste ich noch, der nächstgelegene zum Fachbereich für Psychologie. Dreißig Minuten, dachte ich, als ich mir einen Parkplatz gesucht hatte. Das Gebäude schließt in dreißig Minuten. Das ist wahrlich genug Zeit, um zu erfahren, ob Dr. Slack sich mit mir zusammensetzen würde.


Ich stieg aus dem Auto aus und die Abendluft beruhigte mich. Ich schaute nach oben und suchte instinktiv den Orion. Ich lächelte vor mich hin. Das, davon war ich überzeugt, war die richtige Entscheidung. Meine Entscheidung … Eine, die mein Leben verändern könnte. Ich lief in Richtung des Psychologiegebäudes und malte mir einen Plan aus. »Ich werde meinen Doktor machen, und zwar mit dem Schwerpunkt der Soziopathie.«


Impulsiv oder nicht, so war jetzt doch deutlich geworden, in welche Richtung sich meine Zukunft entwickeln würde. Ich war schon hin und weg.