Rebel Tell Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.
Rebel Tell
Anderthalb Jahre später stand ich im Wohnzimmer eines heruntergekommenen Cottages am Mulholland Drive. Das Dach hatte ein Loch, durch das ich den entfernten Umriss der Mondsichel am hellen kalifornischen Himmel erkennen konnte. Das Haus befand sich nicht allzu weit weg vom Campus, wo ich erst kürzlich mein zweites Jahr im Graduiertenprogramm einer Privatuni von West-LA begonnen hatte. Damals war es ein seltenes Vorkommnis für mich, eine Pause zu machen, und erst recht, diese dann in einem fremden Haus zu verbringen. Ein voller Lehrplan, in Kombination mit meinen langen Schichten als Musikmanagerin, fraßen normalerweise die meisten Tage auf und ließen mir nur wenig Zeit für »unorthodoxe« Gänge. Aber an diesem Nachmittag hatte ich eine Ausnahme gemacht. Und ich war nicht allein.
Ich hatte eine neue Freundin an meiner Seite, ihr Name war Everly. Sie war die Sängerin einer Band, die mich als Managerin verpflichtet hatte, und Everly war meine liebste Klientin. Sie war eine erfolgreiche Songwriterin und talentierte Sängerin mit einer Stimme, die eine Mischung aus Mazzy Star und Courtney Love war. Zudem hatte sie kürzlich ein Demo veröffentlicht, das gleich mehrere wichtige Labels umschwirrten. Sie und ich hatten gerade in Vorbereitung auf die Präsentation ihres Liveauftritts viel Zeit miteinander verbracht und ich war ausnahmsweise dankbar für die Gesellschaft.
David arbeitete nach wie vor rund um die Uhr. Sein Unternehmen war kein Start-up mehr, sondern hatte sich zu einer erfolgreichen Firma gemausert, die gerade den Börsengang plante. Er hatte jetzt über ein Jahr lang in Vorbereitung darauf unermüdlich geschuftet, ein Schritt, der seine finanzielle Zukunft sichern und ihm karrieretechnisch echte Freiheit ermöglichen sollte.
In beruflicher Hinsicht überlebten wir zwei nicht nur, sondern gingen alles andere als baden, wir schwammen vielmehr auf einer Welle des Erfolgs. Dafür hatten wir aber auch einen hohen Preis zahlen müssen. Dank unserer Verpflichtungen an der Uni und bei der Arbeit waren David und ich zwei aneinander vorbeifahrende Schiffe in einem passiv-aggressiven Meer geworden. Wir verbrachten kaum mehr Zeit miteinander, und wenn, dann zofften wir uns. Trotz der Tatsache, dass wir seit Jahren zusammenwohnten, konnte sich David nicht an den Gedanken gewöhnen, dass sein »Traummädchen« eine Soziopathin war. Er verstand einfach nicht, dass das nichts damit zu tun hatte, ob man ein guter oder schlechter Mensch war. Dass es sich dabei um einen Persönlichkeitstypus handelte, dessen Eigenschaften schlicht ein Teil meines psychologischen Gewebes waren. Ich bekam langsam das Gefühl, dass seine Akzeptanz mir gegenüber nicht mehr bedingungslos war. Er ging an meine Soziopathie heran, als sei sie eine Reihe von Entscheidungen, bei denen er kein Problem hatte, sich nur bestimmte rauszupicken.
David, so war mir aufgefallen, sprach schnell seine Ablehnung bestimmter soziopathischer Verhaltensweisen an, die er nicht mochte, machte sich aber nur allzu gern Teile meiner Persönlichkeit zu eigen, wenn sie ihm nützten. So hatte er beispielsweise kein Problem damit, wenn ich heimlich all jene bestrafte, die ihm meiner Meinung nach Unrecht getan hatten. Und er hatte kein Problem damit, wenn wir für eine Runde Sex in leere Häuser einbrachen. Es fühlte sich an, als dürfte ich nur mit seiner Erlaubnis eine Soziopathin sein, und diese Scheinheiligkeit frustrierte mich. Es war dieselbe Scheinheiligkeit, die ich auch immer wieder innerhalb der Gesellschaft in Bezug auf Menschen wie mich beobachten konnte.
Seit dem Gespräch mit Dr. Carlin musste ich wiederholt darüber nachdenken, dass meine Eigenschaften stets nur in negativem Licht gesehen wurden. Diese Perspektive wirkte aber sehr kurzsichtig auf mich, denn sie konnten – wie alle anderen Eigenschaften – auch konstruktiv genutzt werden. So ließ mich meine verringerte Fähigkeit der Gefühlsempfindung viel pragmatischere Entscheidungen fällen, als es etwa für David möglich war, dessen Überangebot an Gefühlen ihn eher zu einem People-Pleaser machte. Und wenn ich so an meinen Mangel an Schuldgefühlen dachte, war ich froh, dass mir diese Bürde erspart geblieben war.
Je mehr ich mich wissenschaftlich mit Psychologie auseinandersetzte, desto mehr war ich überzeugt davon, dass Schuldgefühle eher unterdrücken statt befreien sollten. Es wirkte auf mich, als müssten Menschen nicht so viel nachdenken, solange die Schuld das für sie erledigte. Und die Forschungsliteratur hatte, wenn auch wenig über Soziopathie, doch allerhand zu der schädigenden Wirkung von Scham und Schuld zu bieten. Deren negative Aspekte schienen die positiven bei Weitem zu überwiegen: von emotionalen Reaktionen, wie niedrigem Selbstbewusstsein sowie einem Hang zu Angst und Depressionen, bis hin zu physischen Reaktionen, wie einer erhöhten Aktivität des sympathischen Nervensystems – inklusive Schlaf- und Verdauungsproblemen. Und meine neue Freundin gab mir recht.
Everly waren die Nebenprodukte der Schuld nicht fremd. Sie ließ sich und ihren Erfolg oft, und das trotz ihres Daseins als Frontsängerin einer aufstrebenden Rockband, von den Meinungen anderer (und einem überwältigenden Trieb, »die Gute« zu sein) untergraben. Das schockte mich. Allem Anschein nach war sie ein guter Mensch, ein großartiger Mensch. Dennoch musste sie andauernd gegen ihre Reuegefühle ankämpfen. Sie und David waren sich in vielem sehr ähnlich, denn sie waren beide außergewöhnlich nette, mitfühlende und liebende Menschen. Sie waren beide reichlich großzügig und emotional versiert darin, sich mit anderen über Gefühle zu verbinden und mit ihnen darüber zu kommunizieren – was ich als die Fähigkeit ansah, an der es mir am meisten fehlte. Sie waren beide hochgradig intelligent und extrem talentiert, aber sie wurden ironischerweise von einer für mich fast schon zwanghaften Moral gehemmt.
Everly war fasziniert davon, dass ich so etwas noch nie erlebt hatte. »Weißt du, wie selten das vorkommt?«, fragte sie mich eines Tages. »Die meisten Menschen versuchen, sich ein Leben lang von diesem Scheiß rund um Schuld und Scham freizumachen. Ich weiß, dass ich dazugehöre«, gab sie zu. »Du bist wie so ein Einhorn.« Everlys Wertschätzung meiner soziopathischen Merkmale gab mir das Gefühl, als würde ich, auf gute Art, gesehen werden. Während David jetzt irgendwie davon besessen zu sein schien, dass ich Gefühle zeigte und eine Art Scham und Schuld entwickelte, nahm mich Everly so, wie ich war. Und das hatte zur Folge, dass ich mich selbst auch leichter annehmen konnte. »Die Freundschaft zu dir gibt einem das Gefühl, man hätte eine Schuldimmunitätspille geschluckt«, sagte sie, während sie sich in dem verlassenen Haus umschaute. »Im Ernst, meinst du, ich bin vorher je in ein Haus eingebrochen? Auf gar keinen Fall. Ich kann so was gar nicht. Aber ich kann es, wenn du es machst.« Dann fügte sie noch hinzu: »Ich liebe es, auf deiner dunklen Welle mitzuschwimmen.«
Ich lächelte und betrachtete einen alten Flügel in einer Ecke des maroden Wohnzimmers. Das verwitterte Holz war zwar bedeckt von Blättern und Wasserflecken, aber ansonsten noch überraschend intakt. Ich setzte mich auf die Klavierbank und drückte ein paar der Tasten. Noch überraschender war, dass die Saiten gestimmt waren. Ich schaute zu Everly, die gerade durch das Erdgeschoss stromerte. »Magst du es also?«, fragte ich sie. »Ich denke darüber nach, es zu kaufen.« »Steht es zum Verkauf?« »Noch nicht, aber bald«, erwiderte ich. Es war das Cottage in der Nähe des Mulholland Drive, an dem ich schon so oft vorbeigefahren war, das nur die Straße runter zum Haus meines Vaters lag. »Ich finde es magisch.« Everly ging einen vorsichtigen Schritt nach vorn und inspizierte einen Haufen Müll auf dem Boden. »Wie hast du es überhaupt gefunden?« »Ach, ich hab es schon seit Jahren im Blick. Das ist das Haus, von dem ich dir erzählt hatte, in dem der kleine alte Mann mit seiner Frau lebte. Die zwei, die immer draußen waren.« Sie hob völlig überrascht schnell den Kopf. »Das ist das Haus?« »Ja!«, ich nickte enthusiastisch. »Ist es nicht großartig?« »Joah.« Sie lachte und blickte sich um: »Ein großartiges Desaster!«
Sie hatte recht damit, denn das Haus war ein Desaster. Es gab nicht nur das große Loch in der Decke, sondern es wuchsen auch Ranken durch die kaputten Fenster, die Küche sah aus, als wäre sie seit den 1940er-Jahren nicht mehr angefasst worden, und es ließ sich nicht sagen, wann die Stromleitungen das letzte Mal funktioniert hatten.
»Woher weißt du, dass es bald zum Verkauf steht?« Ich hatte es ein paar Wochen zuvor herausgefunden. Es war Wochen, wenn nicht sogar Monate her, dass ich das alte Ehepaar zuletzt draußen im Garten gesehen hatte. Nach ein wenig Herumschnüffelei hatte ich in Erfahrung gebracht, was aus ihnen geworden war. »Der alte Mann wurde von einem Auto angefahren. Er saß gerade auf seinem Rad Richtung Glen Centre und wollte Wasser kaufen.« Everly blieb der Mund offen stehen. »Er ist also tot?!« »Nee, nee«, versicherte ich ihr. »Denen geht’s beiden gut. Sie mussten ihn jedoch ins Krankenhaus bringen. Aber das Ding war, als die Polizei herkam, um seiner Frau Bescheid zu geben«, ich hielt inne und schaute mich um, »fanden sie heraus, dass die beiden hier so gehaust haben.« Ich deutete mit meiner Hand vage auf den Müll und den Verfall. »Anscheinend wurden sie danach hier aus dem Haus geschafft.« Everlys Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Das ist so traurig.« Ich zuckte mit den Schultern. »Immerhin sind sie jetzt an einem Ort mit Strom und fließendem Wasser. Die Stadt wird an ihrer statt das Haus verkaufen. Das ist Teil einer Vormundschaft oder so was.« Everly schaute sich noch mal um, ihre Gesichtszüge wurden weicher. »Wow, kannst du dir vorstellen, hier zu leben? So zu leben?«
»Ich liebe das tatsächlich ein wenig«, erwiderte ich und setzte mich auf die morsche Treppe gegenüber des Flügels. »Ja, stimmt, du schon«, antwortete sie darauf mit einem Lachen. »Klar, ja, es ist alt und braucht eine ganze Menge Arbeit«, fuhr ich fort. »Aber es hat so eine tolle Energie. Es erinnert mich an das Haus von Miss Havisham.« »Aus Große Erwartungen?«, fragte sie und schaute mich zweifelnd an. »Die heruntergekommene alte Villa, die zu einem Trümmerhaufen wird, nachdem sie am Altar stehengelassen wird?« Ich warf ihr einen süffisanten Blick zu. »Ja. Die Villa, die Estella umgestaltet hätte, nachdem Pip meinte, er müsse im Westen Londons wohnen.« Everly nickte verständnisvoll.
David und ich hatten in den letzten Monaten eine ähnliche Diskussion geführt. Das Haus an der Coldwater, so hatte er entschieden, sollte nicht länger unser Zuhause sein. Er wollte einen neuen Wohnort, näher an seiner Arbeit. Ich hatte widerwillig zugestimmt. Ich liebte mein Haus und war nicht wahnsinnig scharf auf einen Umzug. Vor allem nicht wegen seines Jobs. Allerdings hatte die Aussicht auf einen Kauf des Cottages am Mulholland Drive meine Sichtweise ein wenig verändert. Jetzt klang das Ganze wie ein kreatives Abenteuer.
Everly grinste, lief durch den Raum, um sich gegen den Flügel zu lehnen, und sagte: »Und genau deswegen liebe ich dich so. Nur du könntest ein solches Haus lieben. Nur du hättest den Schneid, es zu kaufen.« Sie zog eine Grimasse, während sie sich umschaute. »Ich wäre viel zu nervös dafür. Ich würde die ganze Zeit nur an Geschenkt ist noch zu teuer denken müssen«, fügte sie hinzu. Ich musste zugeben, dass ich auch an den Tom-Hanks-Film hatte denken müssen. »Das Haus wurde zu einem Meisterwerk«, erinnerte ich sie. »Und das wollte ich damit sagen«, erwiderte sie. »Du hast keinerlei Bedenken, weil du furchtlos bist.« »Was soll ich sagen? Das Leben als Soziopathin hat auch seine Vorteile.«
»Apropos«, wechselte Everly das Thema. »Ich muss mir mal ein wenig von dieser Angstfreiheit für die Show nachher leihen.« Die »Show« war ein Auftaktauftritt für einen einwöchigen Aufenthalt der Band im legendären Roxy Theatre. Ich hatte, in der Hoffnung, wir könnten aus dem Buzz nach dem Demo Kapital schlagen, mehrere der großen Label dazu eingeladen. Mein Handy vibrierte, David hatte mir geschrieben:
Viel Glück für heute Abend, meine Liebe. Kann es kaum erwarten, dich zu sehen!!
Ich lächelte. David war nicht gerade begeistert davon, dass ich immer noch für Dad arbeitete, ich schätzte es also wirklich sehr, dass er mich unterstützte und zur Show kommen würde. Ich schrieb zurück:
Danke, Baby. Ich bin so aufgeregt!
»War das David?«, fragte Everly. »Er kommt doch heute Abend, oder?« »Natürlich«, sagte ich und steckte mein Handy weg. »Er muss nur direkt von der Arbeit kommen.« Sie schüttelte den Kopf: »Ich kenne echt niemanden, der so viel arbeitet wie dein Freund. Ernsthaft, wenn Ben so viel Zeit bei der Arbeit verbringen würde, dann würde ich ihn irgendwann dort besuchen kommen, aber wie Glenn Close in Eine verhängnisvolle Affäre.«
Ben war Everlys Freund und auch ein Teil der Band. Er war zudem ihr selbsternannter »Manager«. Er war recht harmlos, aber bestimmte Punkte an ihm nervten mich. So mochte ich es beispielsweise nicht, dass er auf ihre Kosten Witze riss, oftmals vor seinen »Freunden«, eine sich stets wandelnde Crew an
Möchtegern-Insidern. Er verweigerte sich nachdrücklich meinen Versuchen, sie als selbstständige Künstlerin zu vermarkten, und schien ihr nur dann Aufmerksamkeit zu schenken, wenn es um die Band ging. Ich verdrehte die Augen bei dem Gedanken, dass sich irgendwer auch nur ansatzweise dafür interessierte, wo Ben war – Everly missverstand den Gesichtsausdruck als Missbilligung. »Verurteile mich nicht dafür!« Sie lachte. »Du weißt, wie eifersüchtig ich sein kann. Ich wünschte, ich wäre ein wenig mehr wie du.« Sie legte ihre Arme um meinen Hals. »Mein temperamentvolles kleines Kätzchen!« »Hör auf damit«, sagte ich und versuchte, mich loszumachen. Everly wusste, wie sehr ich Umarmungen hasste. »Ich kann dir ein oder zwei Sachen beibringen. So was wie Liebe und Zuneigung!« Sie drückte mir einen übertriebenen Kuss auf die Wange. »Symmetrische Symbiose!«, rief sie. »Packt uns zusammen und wir sind der perfekte Mensch!« Ich riss mich lachend los. »Das ist genug Bildung für heute.« Ich warf einen Blick auf meine Uhr. »Jedenfalls müssen wir los. Der Soundcheck ist in einer halben Stunde.« »Ja!«, erwiderte Everly mit blitzenden Augen. »Hey ho, let’s go – auf geht’s zur Show.«
Später an diesem Abend saß ich Backstage in der Roxy-Umkleide und schaute mir die Gästeliste an. Auch wenn ich nicht von Natur aus allzu sozial eingestellt war, so passte die Rolle als Managerin einer Rockband meiner Meinung nach ganz kontraintuitiv doch sehr gut zu meiner Persönlichkeit. Ich musste bei Everlys Shows nie einfach so in der Gegend rumstehen, wurde nicht angequatscht oder musste mich länger unterhalten. Abgesehen von den kurzen Gesprächen mit den Leuten, die ich aus der Branche eingeladen hatte, hielt ich mich raus und mich selbst stets beschäftigt. Ich gönnte mir nicht mal einen schnellen Drink oder eine kleine Pause bei ihren Auftritten – zumindest nicht bis zwanzig Minuten vor Beginn. Denn dann verschwand ich oben und ließ mich auf ein Sofa für einen kurzen Powernap sinken.
An diesem Abend war die kleine Umkleide voller Menschen. Ich warf die Liste zur Seite und lehnte den Kopf gegen die Sofalehne, meine Augen wurden immer schwerer von dem seichten Summen der gedämpften Unterhaltungen. »Hey«, sagte Tony und stupste mich mit dem Zeh an. Ich öffnete die Augen und lächelte den Tourmanager der Band an, der es immer schaffte, mich mit seinem Esprit und seinem einnehmenden Lächeln aufzuheitern. »Willst du etwa den Gig verschlafen?« »Auf keinen Fall«, sagte Everly spielerisch und zwinkerte mir zu. »Patric versteckt sich nur gern.« »Ruhe in Frieden.« Die Tür zur Umkleide flog auf. »Ich bin hier!«, verkündete ein kleiner, unerträglicher Mann. »Jetzt kann’s losgehen.« Dale war einer von Bens Buddys aus der Branche. Auch wenn ich noch herausfinden musste, welcher Branche genau. Er war ein Auflauf voller Trottelenergie, ein wandelndes Gemisch aus allen LA-Klischees. Ich hasste es, mit ihm zu tun haben zu müssen. »Sorry, dass ich zu spät bin«, sagte er zu uns und zupfte sich auffällig an der Nase. »Ich hab ’ne beschissene Stunde gebraucht, um einen Parkplatz zu finden. Musste mein Auto dann halb die Wetherly oben stehen lassen.«
»Wetherly?«, kreischte Ben. »Da ist nur Anwohnerparken, da kriegst du auf jeden Fall ein Knöllchen!« »Patric«, jammerte er, eindeutig genervt, dass ich das sich entwickelnde Desaster nicht irgendwie vorhergesehen hatte. »Kannst du Dale bitte hier einen Parkplatz besorgen?« »Natürlich«, sagte ich und stand auf. »Gib mir die Schlüssel, ich kümmere mich. Was ist das für ein Auto?« Dale warf mir einen arroganten Blick zu und neigte den Kopf nach vorn. Er trug eine Baseballcap mit einem metallisch-glänzenden Z vorn drauf. Er zeigte darauf und hob die Augenbrauen, auf eine Reaktion meinerseits wartend. Ich schüttelte den Kopf, um zu zeigen, dass ich das Symbol nicht erkannte. »Ich habe keinen Plan, was das sein soll.« »Das ist ein Z«, erwiderte Dale ungläubig. »Ein Nissan Z?« »Ach, jetzt gib Patric einfach deinen Schlüssel«, sagte Everly. »Wir wollen nicht, dass du Strafe zahlen musst.« Dale grinste sie an, griff in die Hosentasche und zog einen Schlüsselbund heraus. Daran hing ein großes silbernes Z. Dann hielt er ihn mir vor die Nase wie so ein 10-Cent-Hypnotiseur. Ich hielt mein Lachen gerade noch so zurück und griff besonnen nach den Schlüsseln. Aber just, bevor ich sie mir schnappen konnte, riss er sie wieder an sich. »Keine Chance, Püppchen«, sagte er und warf sie auf den Couchtisch. »Niemand außer mir fasst den Z an.« Er hielt inne. »Aber ich hätte gern einen Drink.«
Everly schreckte zurück. »Dale«, sagte sie dann zu ihm und ließ jeden Anschein von Freundlichkeit fallen. »Patric ist keine Kellnerin.« Dale hob die Hände vor den Mund, riss die Augen voller falschem Bedauern auf, als er begriff, dass er sein Blatt etwas überspielt hatte. »Oh mein Gott! Es tut mir so leid!« »Das ist okay«, blaffte Ben. Dann murmelte er: »Dafür ist sie schließlich hier.« »Das macht mir wirklich nichts aus«, sagte ich zu Everly. Was stimmte, denn ich hätte fast alles dafür getan, den Raum verlassen zu können.
Ich spürte die Vibration meines Handys in der Tasche. »Außerdem ruft David gerade an«, sagte ich nach einem Blick auf das Display. »Er ist wahrscheinlich draußen. Ich hol ihn kurz.« »Und einen Jack mit Cola light für Dale!«, rief Ben mir hinterher. Ich rannte die hintere Treppe nach unten und bog in Richtung Eingang ab, während mein Handy weiterhin in der Tasche vibrierte. »Hey«, ging ich dran. »Ich bin auf dem Weg.« Ich konnte zwar Davids Stimme hören, aber aufgrund der Menge an Menschen kein Wort verstehen. »Ich laufe gerade nach draußen.« Ich trat ins Freie und scannte die Menge an Gesichtern nach ihm ab, konnte ihn aber nirgends finden. Das ist komisch. Ich schaute wieder auf mein Handy und entdeckte eine Textnachricht.
Ich stecke bei der Arbeit fest. Es tut mir so, so leid, Süße! Ich mach das wieder gut. Versprochen! Sei brav!!!!!
Ich schnappte nach Luft. Die Nachricht war nichts Neues. Ich hatte im Laufe der letzten Monate sicherlich Dutzende davon bekommen, aber an diesem Abend machte es mich aus irgendeinem Grund besonders wütend. Ich umklammerte das Handy fest in der Hand, meine Fingerspitzen liefen weiß an, als ich mich auf dem Absatz umdrehte und wieder reinging.
Nach dem Auftritt ging ich wieder in die Umkleide, um meiner Freundin zu gratulieren. »Du warst fantastisch«, sagte ich. Everly strahlte mich an, ihr Gesicht immer noch rot vor Adrenalin. »Ich will feiern gehen!«, sagte sie aufgeregt und griff nach meiner Hand. »Lass uns zu Dorian gehen.« Ihr Bandkollege Dorian hatte ein Haus an der Klippe, das in Laufweite vom Roxy lag. Normalerweise hätte ich nicht lange über die Idee nachgedacht, denn das Haus war zu einem häufigen Treffpunkt nach Auftritten geworden. Aber ich wollte einfach nur heim. Ich schüttelte den Kopf und schaute nach unten, um meine Enttäuschung zu verbergen. »Ich werde mich eher losmachen«, sagte ich. Everly schaute mich traurig an, ihr scharfsinniger Blick bohrte sich in mein Hirn. »Er ist nicht gekommen, oder?« »Das ist schon okay«, sagte ich ausdruckslos. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist scheiße«, sagte sie. »Du weißt ja, wie sehr ich David mag, aber heute hier nicht aufzuschlagen? An keinem der Abende aufzuschlagen? Das ist beschissen.« Sie griff nach meiner Hand. »Komm doch mit«, bat sie. »Wir können ein Weinchen trinken und im Himmel schwimmen gehen.«
Bei dem Gedanken an Dorians Infinity-Pool auf dem Hügel musste ich lächeln. »Ja, okay, auf einen Sprung«, gab ich nach. Everly grinste. »Juchhu«, rief sie aus. »Folge Tony und mir.« Die Sängerin gab mir einen Kuss auf die Wange. »Ich zieh mich nur schnell um.« Sie verschwand im Badezimmer. »Dale ist mit Ben gefahren. Schnappst du dir mal seine Schlüssel?« Ich verdrehte die Augen und drehte mich zum Tisch um, auf dem die verdammten Schlüssel lagen, wurde aber von einem Windstoß unterbrochen. Ich entdeckte ein offenes Fenster in der Ecke, durch das die Santa-Ana-Winde hier im zweiten Stock wie eine mittelalterliche Armee zogen. Ich ging zu dem schmalen Fenster und steckte meinen Kopf raus, um die raue Brise dabei zu beobachten, wie sie Blätter in der Gasse aufwirbelte. Voller Ehrfurcht blickte ich auf die Hügel über dem Sunset Plaza. Der Wind war ein unsichtbarer Angreifer, der alles, was ihm im Weg stand, anrempelte. Um dann, genauso schnell, wie er gekommen war, wieder zu verschwinden … als würde er nur kurz verschnaufen. Ich lehnte den Kopf gegen den Fensterrahmen und genoss die flüchtige Stille, denn ich wusste, dass die Winde jeden Augenblick wiederkommen würden. Wie die Pause zwischen zwei Wellen war ihre Abwesenheit nur von kurzer Dauer. Während ich wartete, traf mich ein kalter Windstoß. Ich hielt meine Hand nach draußen und bemerkte, dass die Temperatur gesunken war. Der Herbst war o ziell da.
»Geisterwetter«, sagte ich lächelnd. Aus dem Augenwinkel nahm ich ein Aufblitzen wahr und ich sah unten die Spiegelung des Mondes in einer Pfütze. Ich lehnte den Kopf zur Seite und dachte darüber nach, wie komisch es war, nach unten auf den Mond zu schauen. Und dann auch nicht einfach nur auf irgendeinen Mond, sondern auf ein Mondschiffchen, wie ich es früher am Tag schon mal durch das Dach gesehen hatte. Mein Gesicht verdunkelte sich, als ich an Davids Nachricht denken musste. Sei brav, dachte ich verbittert. Was zur Hölle sollte das bitte heißen? Ich schüttelte den Kopf. Warum durfte er mir sagen, wie ich mich zu verhalten hatte? Und warum war es in Ordnung, dass er seine Versprechen brach? Oder jeden Abend so lange arbeiten durfte? Warum musste er sein Haus nicht aufgeben? Oder hart daran arbeiten, »brav zu sein«? Draußen heulte erneut der Wind auf. Als ich voller Neid auf das Chaos schaute, das er in seinem unsichtbaren Fahrwasser zurückließ, kam mir eine wunderbare Idee. Ich schaute auf den Schlüsselbund. Das silberne Z, zwar immer noch unausstehlich, stand nun aber für eine unendliche Menge an Möglichkeiten, eine Gelegenheit, gegen meinen Freund zu rebellieren und eine dringend nötige Dosis Zerstreuung zu erhaschen. »Hey, E«, rief ich. »Ich fahr mal ne Runde zum In-N-Out. Willst du was?« Everly dachte kurz nach. »Einen Double-Double mit Käse, dazu zweimal Fritten und einen Schokoshake«, rief sie zurück. »Bis gleich dann bei Dorian«, antwortete ich.
Ich brauchte nur eine Minute nach unten. Ich drehte die Schlüssel in meiner Hand hin und her, hielt kurz inne am Anfang der Straße und schaute den Hügel hinauf. Ich hatte keine Ahnung, wie ein »Z« aussah. Ich drückte auf den Knopf am Schlüsselanhänger und wartete darauf, dass sich das Auto mir vorstellte. »Schön, dich kennenzulernen«, flüsterte ich. Die Brise pfiff ihre Zustimmung, als ich mich dem Sportwagen näherte und dessen Tür öffnete. Ich ließ mich in den Fahrersitz fallen und lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze. Das Auto, wie so viele vor ihm, fühlte sich wie eine Dekompressionskammer an. Nur dass ich mich jetzt nicht gegen das Gefühl der Apathie wehrte, sondern es willkommen hieß. Das war ein komisches Gefühl. Ich war, während ich hier saß, alles andere als sicher, wenn überhaupt flirtete ich gerade mit dem Desaster, weil ich kurz davorstand, mich auf ein illegales und riskantes Abenteuer zu begeben.
Schwaches Urteilsvermögen und Unfähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen. Der achte Punkt auf Cleckleys Checklist. Aus meiner Warte schien das wahr zu sein, aber es war mir egal. Irgendetwas an dieser Spritztour war anders. Es fühlte sich wie eine neue Art der Freiheit an – ein sich weitender Wirbel, von dem aus ich eine erhöhte und sachkundigere Sicht auf die Dinge hatte. Ein gewachsenes Gefühl der Freiheit: die Art, die von einem Verständnis meiner selbst und dem Folgen meiner Instinkte herrührte, anstatt daraus zu resultieren, jemand anderen beruhigen zu müssen. Vielleicht zog ich immer noch dieselbe Tour ab, aber dieses Mal wollte ich nicht mich selbst beschwichtigen oder verhindern, dass ich überkochte. Ich tat es nicht mal, weil ich einfach irgendwelche Regeln brechen wollte, sondern aus einem bestimmen Grund: um zu rebellieren.
Trotz unserer glorreichen Anfangszeit der Verliebtheit, die wir hatten genießen dürfen, wurde die Beziehung zu David immer erdrückender. Ich liebte ihn immens, aber es war alles viel zu viel. Der Druck, seinen Idealen und Erwartungen zu entsprechen, erfüllte mich mit Wut. Und nicht einfach nur mit irgendeiner Wut, sondern einer mir sehr bekannten Art des Zorns. Es war ein scharfer Speer der Rage, der in meiner Kindheit geschmiedet worden war und dessen Narben ich die meiste Zeit als Erwachsene versucht hatte, zu ignorieren. Seit dem Tag, an dem David hergezogen war, hatte ich versucht, mich selbst in Schach zu halten. Mich zurückzuhalten. Um das brave kleine Mädchen zu sein, das er wollte. Und das war okay. Aber das hier war so viel besser. »Sei brav«, spottete ich erneut, während ich den Schlüssel in die Zündung steckte. »Wo bleibt da bitte der Spaß?« Ich stellte den Schaltknüppel auf »Drive« und stieg aufs Gas. Das Auto gab ein zufriedenstellendes Aufjaulen von sich, als ich den Hügel hinabschoss. Ich wusste genau, was David sagen würde, wenn er wüsste, was ich gerade machte. Du musst das nicht machen. Aber genau das war das Problem, denn hier – mit den Straßen der Stadt, die mir ausgeliefert waren – fühlte ich mich nicht wie all die Male zuvor. David hatte recht. Ich musste das nicht machen. Ich konnte es kaum erwarten.
Impressum