Anonym Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.
Anonym
Ein paar Wochen später saß ich bei der Arbeit, als mich eine E-Mail erreichte:
liebe patric, schade das wir uns nie kennengelernt haben aber ich habe schon viel über dich von deinem Vater gehört. jetzt lass mich dir mal verraten wer ich bin. ich bin eine von mehrern »Mädels« von deinem dad die nach der arbeit für den »feierabend« vorbeikommen. ich habe fotos von deinem dad mit mir und mit anderen und die bilder würden ihm wirklich schaden. und deine karriere beenden. dein vater hat mir versprochen das er sich um mich kümmert und mich zum star macht, na ja das passiert wooohl nicht, hier ist also der deal:
ich will 50000 dollar in einem paket das du zu dem Holiday Inn am Highland neben dem dem Best Western bringst. wenn ich das paket habe schickt eine freundin von mir mit fedex einen umschlag in dein büro and ich mit den bildern. wenn du das auch nur irgendwem erzählst oder zu den bullen gehst, tu ich dir weh. ich weiß wo du wohnst. ich werde dich jagen wie ein tier und eine schöne narbe in deinem hübschen gesicht hinterlassen. dein freund will dann sicher nichts mehr mit einem hässlichen mädchen zu tun haben oder was denkst du?die entscheidung liegt ganz bei dir!!!!!!
Ich starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm. Die E-Mail war anonym verschickt worden, aber ich hatte einen leisen Verdacht, wer sie gesendet haben könnte: Ginny Krusi, die Mutter des eindrucksvoll begabten Sängers und Songwriters Oliver. Sie hatte den wohlverdienten Ruf, ein wenig irre zu sein, und ich als Teil des Managementteams ihres Sohns hatte das aus erster Hand beobachten dürfen. Diese Frau gab dem Wort »Anspruchsdenken« eine ganz neue Bedeutungsebene. Wenn es nach Ginny ging, dann war Olivers Erfolg der finanzielle Gewinn, den sie verdiente. Sie hatte, wie die meisten »Mamager«, denen ich schon begegnet war, einen unbändigen Durst nach Geld, das sie nicht selbst verdienen musste. Ihr reichte es aber nicht, nur einen genetischen Daueressensgutschein zu haben, daher hatte sie in letzter Zeit ihren jüngsten Sohn Liam ins Visier genommen. Leider hatte Liam bei Weitem nicht dasselbe Talent wie sein Bruder. Ginny blieb dennoch beharrlich und flehte meinen Vater an, ihn auch unter Vertrag zu nehmen und ihn »zum Star zu machen«.
Man musste meinem Vater zugutehalten, dass er sein Bestes gegeben hatte: Er engagierte Gesangs- und Gitarrenlehrer, Medientrainer und Stylisten. Er versuchte wirklich alles, um Liam zu helfen, aber dieser beeindruckte einfach gar nicht. Er war süß und konnte definitiv gut singen. Das Problem war schlicht, dass er kein Sänger sein wollte. Nach Monaten voller Ablehnungen durch Plattenfirmen musste mein Vater ihnen irgendwann die schlechten Nachrichten überbringen. »Es tut mir leid«, sagte er zu Liam und dessen Mutter. »Aber wir haben jetzt wirklich alles versucht. Lasst es uns in ein paar Jahren noch mal versuchen.« Mein Vater hatte es positiv formuliert, aber er sagte eigentlich ganz unverkennbar: Liam würde nicht auf den Spuren seines Bruders wandeln, nicht in nächster Zeit zumindest. Sie gaben sich die Hände und gingen getrennter Wege. Und das war der Moment, in dem Ginny Krusi entgleiste. Innerhalb weniger Tage erreichten uns Drohanrufe. Ginny rief zu allen möglichen Zeiten im Büro an, in allerlei Geisteszuständen der aufgebrachten Anspruchshaltung. Sie wollte immer meinen Vater sprechen, wenn sie ihn aber nicht erreichen konnte, war es ihr genauso recht, ihre Aggression an mir auszulassen. »Du hörst mir jetzt mal zu, kleines Mädchen«, verkündete sie eines Nachmittags. »Du schuldest mir was. Ich habe meinen Job gekündigt, um Liam bei seiner Karriere zu unterstützen. Du musst also deinem Daddy sagen, dass er mir gefälligst einen Vorschuss auf seinen Vorschuss zu zahlen hat.« Ich ging an diese Telefonate mit beschwichtigender Indifferenz heran. »Auf jeden Fall«, sagte ich dann in meinem beruhigendsten Tonfall. »Ich sag ihm, er solle sich melden, sobald er wieder im Büro ist.« Dann legte ich auf und vergaß, dass dieses Telefonat je stattgefunden hatte. Nach ein paar Wochen dieses Hin-und-Hers begriff Ginny, dass sie so nicht weiterkam. Also setzte sie einen drauf, indem sie bei uns auf der Matte stand. Zuerst waren diese Besuche zwar überraschend, aber nicht offen bedrohlich. Mit der Zeit wurden sie jedoch immer verstörender. Sie erschien nun mehrere Male pro Woche und schikanierte unsere Empfangsdame, weil sie »ernst genommen werden« wollte. Nach einem dramatischen Besuch mit einem Baseballschläger entschied Dad, dass es nun reichte. Er machte seine Anwälte auf die Situation aufmerksam, die Ginny anriefen und mit einer Klage drohten. Daraufhin hatten wir endlich unsere Ruhe. Zumindest bis zu dieser E-Mail in meinem Posteingang.
Beim erneuten Lesen der Nachricht konnte ich Ginnys Mundgeruch schier riechen, während sie mit zwei Fingern auf ihrer Tastatur rumhackte. Ich war fest überzeugt, dass sie es war, wollte mir aber sicherheitshalber von einem Profi Hilfe holen. Ich kontaktierte also Anthony »Tony« Pacenti, einen Privatdetektiv, der für meinen Vater schon ein paar Mal als Freelancer gearbeitet hatte. Er war bekannt als der »Detektiv der Stars und Sternchen«, seine Herangehensweisen waren dementsprechend diskret, wenn auch nicht immer gänzlich legal. Als er mich ein paar Wochen später anrief, vergeudete ich keine Zeit und suchte ihn in seiner Detektei auf.
»Das ist definitiv Krusi«, sagte Tony. »Ich konnte die Nachricht zu einem Kinko’s in ihrer Nähe zurückverfolgen. Hier«, sagte er und reichte mir ein Schwarz-Weiß-Foto von Ginny über eine Tastatur gebeugt. »Du meintest, du hättest gestern Abend wieder eine E-Mail bekommen, oder?« Das hatte ich tatsächlich. Da Ginnys erste Forderung unbeantwortet geblieben war, hatte sie weitere Nachrichten geschrieben und war bei jeder spezifischer und bedrohlicher geworden. »Ja«, erwiderte ich und holte meinen Laptop raus. Ich öffnete mein E-Mail-Programm. »Die kam kurz nach acht.« Tony nickte. »Dann habe ich sie auf frischer Tat ertappt. Das ist die IP-Adresse dieser E-Mail-Adresse«, sagte er und zeigte auf ein Fenster auf meinem Bildschirm. Er holte einen Notizblock mit ein paar Zahlen darauf heraus. »Und das ist die IP-Adresse dieses Computers.« Die Zahlen stimmten überein. »Und schau dir mal den Zeitstempel an«, fügte er hinzu. »Dieses Foto habe ich um 19.40 Uhr geschossen, da war sie wahrscheinlich gerade mitten im Schreiben.« Ich schaute mir das Foto genauer an. Der Beweis von Ginnys Verzweiflung ließ mich leicht lächeln. »Danke, Tony«, sagte ich und blickte auf. »Genau so was habe ich gebraucht.«
Ginny lebte in einem kleinen, heruntergekommenen Reihenhaus in einem der vielen verschlafenen Nester rund um Los Angeles. Meine Ausflüge dorthin begannen kurz nach meinem Treffen mit Tony. Wie Ginnys Besuche bei mir im Büro fing ich recht harmlos an. Beim ersten Mal stieg ich nicht mal aus dem Auto, sondern betrachtete einfach das Gebäude von außen, während mich die Zufriedenheit meiner getarnten Nähe mit einem bekannten Gefühl der Gelassenheit erfüllte. Die Erfahrung war auf viele Arten so ähnlich wie meine nächtliche Aus-dem-Fenster-Kletterei, um meine Nachbarn bei ihren Abendritualen zu beobachten. Nur dass Ginny keine Nachbarin war und meine Interessen nicht mehr länger die einer harmlosen Beobachterin. Das hier war etwas anderes. Ich fühlte hier vor Ginnys Haus eine Art Verlangen, eine Begierde nach Boshaftigkeit, bei der ich mir nicht gänzlich sicher war, ob ich sie im Zaum halten wollte. Und das gefiel mir. Ich spähte das Haus fast einen Monat lang einfach nur aus. Dank einem mal wieder neuen Projekt war David erneut mehrere Wochen am Stück jeden Abend bis nach Mitternacht im Büro eingespannt, sodass ich eine schier unaufhörliche Kette von Abenden zur Verfügung hatte, an denen ich unbeobachtet das Haus verlassen konnte. Ich versuchte, das Ganze im Lot zu halten, also mehr oder weniger zumindest. Aber die Intensität meines Verlangens wurde irgendwann zu stark. Ich ließ es also, vielleicht unvermeidlicherweise, zu, mich immer mehr zu nähern.
Eines Abends stellte ich mein Auto auf einem Besucherparkplatz ab und lief über den Rasen zum Haus. Die Gegend war eindeutig reparaturbedürftig. Die durchgebrannten Straßenlaternen und die engen Fußwege ließen mich fast unsichtbar werden, während ich mich zu Ginnys Wohneinheit aufmachte. Ich ließ meine Finger entlang des hohen Holzzauns um ihren Garten herumgleiten. Dann hielt ich einen Moment lang inne und spähte durch dessen Lücken. Der Garten war leer und – bis auf ein wenig Licht aus dem Wohnzimmer – dunkel. Ich hievte mich über den Zaun und landete mit einem ungelenken Aufschlag auf dem Rasen. Schiebetüren zogen sich die gesamte Breite des Gebäudes entlang und hätten genauso gut eine Kinoleinwand sein können, auf der das Innere gezeigt wurde. Sich in Sicherheit wiegend, dass der Garten nicht öffentlich sei, nutzte Ginny die geschmacklosen Jalousien nicht, die an allen Fenstern hingen. Sie lebte ihr Leben ganz so, als würde niemand sie beobachten. Was ich jedoch tat. Und mein Timing hätte nicht besser sein können.
Mein Leben lief momentan nicht sonderlich rund. Nicht nur wurde ich erpresst, sondern mein Freund sprach auch kaum ein Wort mit mir. David hatte meine Spritztour in Dales Z nicht gut aufgenommen, was mich daran zweifeln ließ, ob das mit dem Schlüsselanhänger eine so großartige Idee gewesen war. »Du hast ein beschissenes Auto geklaut?« David konnte es nicht glauben. »Warum?«
Es war der Tag nach Everlys Konzert und wir sprachen im Wohnzimmer über meine neueste Grenzüberschreitung. Er lief wütend auf und ab, die Miniaturfreiheitsstatue schwang im Takt an seinem Finger wie ein Metronom hin und her. Ich starrte kontinuierlich darauf und hoffte, sie würde uns beide in den Schlaf lullen. Ich zuckte mit den Schultern. »Weil ich Bock drauf hatte.« Er starrte mich wütend an. »Aber du wusstest, dass es falsch war.« »Ja, das wusste ich. Aber es war mir egal. Verstehst du das denn nicht? Ich muss die richtige Entscheidung treffen wollen, den Regeln folgen wollen. Und was bekomme ich dafür? Nichts. Absolut nichts.«
Das war mir seit meinem Gespräch mit Everly durch den Kopf gegangen, in dem sie unsere Freundschaft als »symmetrische Symbiose« beschrieben hatte. So einfach, wie sie manche meiner »dunklen« Eigenschaften für sich annahm, so sehr lieh ich mir manche ihrer »hellen« für mich aus. Daraus ergab sich eine psychologische Fremdbestäubung, von der wir beide profitierten. Wir unterstützten einander. Während also die Freundschaft zu Everly auf einem ausgeglichenen Geben und Nehmen basierte, tat das meine Beziehung zu David nicht.
»Was zur Hölle soll das bitte heißen?«, blaffte er. »Ich glaube nicht, dass dir bewusst ist, wie oft du mich nach Rat fragst. Wie oft dir mein soziopathisches Verhalten in den Kram passt«, erwiderte ich. »Und es stört mich nicht! Ich mag es, dir dabei zuzuschauen, wie du diese Seite an dir erkundest. Ich liebe es, mich dir zu öffnen. Ich habe nur nicht das Gefühl, dass du es auch mit mir machst. Seit deinem Einzug habe ich mir den Arsch aufgerissen, um dir eine gute Partnerin zu sein – um dich zu verstehen. Und jetzt ist es nicht nur so, dass du nie für mich da bist, sondern dir auch noch meine Ich-Stärke leihst, während du mir gleichzeitig sagst, ich solle ein braves Mädchen sein. Das ist doch der helle Wahnsinn.«
»Ich bin nicht derjenige von uns beiden, der Autos klaut, Patric.« »War ich bis gestern Abend auch nicht. Und ich habe es gemacht, um mich gegen dich aufzulehnen. Ich wusste, dass es dich stinksauer machen würde, dass wir uns streiten würden … und dann vielleicht die Dinge klären würden.« »Das Ganze ist also mein Fehler?!«
Ich ballte die Fäuste und schloss die Augen. Die Glastüren zum Garten waren offen und von draußen drang ein Geruch nach Feuerholz aus dem Kaminschlot eines Nachbarn. Oh Mann, wie sehr ich jetzt gern auch ein Feuer anmachen würde, mit Jazz aus den Lautsprechern und einem Glas Wein in der Hand. Wie sehr ich mir wünschte, ich könnte am Panoramafenster sitzen, hinaussehen und glücklich auf Davids Rückkehr warten. Stattdessen fühlte ich mich in meinem eigenen Zuhause wie eingesperrt und kämpfte gegen das Gefühl an, ihm die Seele aus dem Leib zu prügeln.
»Nein«, schaffte ich eine monotone Antwort. »Aber ich glaube, wir haben keine ausgeglichene Beziehung mehr zueinander.« Ich zeigte auf das Figürchen in seiner Hand. »Zum Beispiel glaube ich nicht mehr, dass das eine gute Idee war.« Er schloss instinktiv die Finger um die Statue. »Was? Warum nicht?« »Weil’s dumm ist!«, sagte ich zu ihm. »Warum sollte ich dir irgendetwas beichten? Du bist mein Freund, nicht mein Priester.« Ich streckte die Hand aus und griff nach seiner. »Du bist der Mann, den ich liebe«, beharrte ich. »Ich möchte, dass du mich akzeptierst, so wie ich dich akzeptiere. Ich möchte, dass wir Partner sind, gleichberechtigte Partner.« Er schaute mich verwirrt an, aber ich sah, dass er sich Mühe gab. »Das will ich auch«, sagte er dann. Also einigten wir uns darauf. Wir würden uns bestmöglich gegenseitig unterstützen. Wir würden härter an unserer Kommunikation arbeiten. Aber seither hatte sich gefühlt nichts geändert. Wenn überhaupt, schien sich David noch mehr in die Arbeit zu schmeißen. Jeder Versuch, ihn in meine Welt zu ziehen, wurde mit Betroffenheit beantwortet, wenn nicht sogar unverblümter Wut. Ich wusste, dass das auch teilweise an mir lag. Eine Beziehung mit mir war kein Zuckerschlecken. Ich hatte aber das Gefühl, dass David das zu seinem eigenen Vorteil ausnutzte, schließlich war ich die Soziopathin, sodass er nie Verantwortung für irgendeine Form seines Verhaltens übernehmen musste. Er versteckte seine Schwächen hinter meinen und ich konnte absolut gar nichts dagegen tun. Es fühlte sich an, als läge ich auf der Guillotine und wartete auf das Fallbeil. Unsere Beziehung befand sich in einem Stadium des Scheintods und ich konnte nirgends hin. Mein eigenes Zuhause – der einzige wirkliche Zufluchtsort, den ich je besessen hatte – war zu meinem unbeliebtesten Ort geworden. Wohin ich auch blickte, alles erinnerte mich an glücklichere Zeiten. Mich verfolgten Erinnerungen und Fotografien eines »normalen« Lebens, das mir durch die Finger zu rinnen schien. Wenn überhaupt, so nervte es, in meinem eigenen Zuhause zu sein. Es löste Klaustrophobie aus.
Also konzentrierte ich mich auf Ginnys. Ihre winzige Welt war das perfekte Umfeld für meine wachsende Unruhe. Wenn mich David nicht länger akzeptierte, wie ich war, so redete ich mir ein, dann musste ich auch nicht länger seine Regeln befolgen. Dann konnte ich mich auch einfach vollständig so nehmen, wie ich war. Irgendwie fühlte ich mich ein wenig wie ein Tiger, der aus dem Zoo ausgebrochen war. Ich hatte nicht wirklich Hunger, war aber voller Vorfreude auf die Jagd. Und ich war damit nicht allein. Ginny hatte in den letzten Wochen immer verzweifelter versucht, Geld aus mir rauszupressen. Zuerst war es ein stetiger Schwall an E-Mails, als ich aber auf diese nicht mehr reagierte, ging sie zu Drohanrufen über. Tag für Tag, Nacht für Nacht teilte mir mein Handy Nachrichten einer »unbekannten« Nummer mit. Ihre immer irrationaleren Nachrichten in meiner Mailbox überließen wenig der Fantasie. Ginnys Anrufe waren wie ein Geschenk aus der Hölle, risikoloses Fleisch, an dem sich meine dunkle Seite gütlich tun konnte. Die geistesgestörten Warnungen dieser Frau, wie widerlich sie auch sein mochten, waren meiner Indifferenz in keinerlei Hinsicht gewachsen. Sie triggerte mit jeder »anonymen« E-Mail und jedem »unbekannten« Anruf eine Flut an soziopathischen Provokationen, wobei die wirkungsvollste jene war, in der sie meinen Vater als alles andere als ehrenhaft darstellte. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.
Einerseits wusste ich, dass mein Vater einen wohlverdienten Ruf als »Frauenheld« hatte. Was mich jedoch nie gestört hatte. Vielleicht hätte es das sollen, wenn man bedachte, was seine Art mit meiner Mutter gemacht hatte. Jedoch schaffte er es – wie so viele andere Männer in seiner Kohorte – auf wunderbare Art, das Ganze zu normalisieren. »Ich bin ein Desperado, meine Kleine«, sagte er gern. »So wie der in dem Lied.« Aber selbst ich musste mir eingestehen, dass sich manchmal doch etwas nicht ganz korrekt daran anfühlte. Es war nie etwas Konkretes, sondern eher ein subtiles Bewusstsein, dass nicht alles richtig war, dass ein Teil des Puzzles fehlte. Wie an dem einen Abend, wo wir essen waren, und mir eine Frau – die dachte, wir seien auf einem Date – auf die Toilette folgte, um mich zu warnen, dass ich »bloß aufpassen« solle. Oder das eine Mal, als ich den Dachboden aufräumte und über einen Stapel Fotos stolperte mit gut einem Dutzend Frauen in unterschiedlichen Stadien der Entkleidung darauf.
Und genau das beunruhigte mich am meisten an Ginnys E-Mails. Wie bei jedem guten Betrugsversuch waren die Informationen gerade zutreffend genug, um glaubhaft zu wirken. Ich wusste zum Beispiel, dass Dad oft spätabends noch im Büro arbeitete. Ich hatte nicht nur einmal beim Vorbeifahren sein Auto nach Mitternacht noch vor dem Gebäude gesehen. Und die Beschreibung der Bilder, von denen Ginny behauptete, welche zu besitzen, ähnelten denen, die ich auf dem Dachboden gefunden hatte. Das Problem war nur, dass ich mich nicht entscheiden konnte, ob irgendetwas daran schlecht war. Ginny hatte meinen Vater keiner illegalen Handlungen bezichtigt. Sie beschwerte sich nur darüber, dass er sie nicht »zum Star« gemacht hatte. Die Fotos, die sie angeblich besaß, würden ihn nur blamieren, nicht ins Gefängnis bringen. War es also wirklich so relevant, dass er spätabends noch für etwas »Feierabendspaß« ins Büro ging?
Ich befand mich in einer Zwickmühle. Ich wusste besser als alle anderen, dass ich nicht die geeignetste Richterin über gutes oder schlechtes Verhalten war, vor allem nicht bei anderen. Dr. Carlin hatte mir das in einer unserer ersten Sitzungen bestätigt. »Sie haben eine sogenannte hohe Toleranz für Pathologien«, sagte sie. Als ich sie gefragt hatte, was das sein solle, hatte sie mir erklärt:
»Das heißt, dass Sie eine hohe Angstschwelle haben. Sie nehmen Menschen und Umstände, die von den meisten als gefährlich oder problematisch angesehen würden, nicht immer als solche wahr. Ihr Urteilsvermögen ist verzerrt, sodass Sie potenziell gefährliche Situationen als ungefährlich verstehen. Das ist unter Soziopathen
tatsächlich ziemlich verbreitet.«
Ich erinnerte mich an den Mann mit den Kätzchen. Passierte dasselbe jetzt auch gerade? Waren die Beziehungen meines Vaters zu Frauen abnormal? Hatte mich meine »hohe Toleranz für Pathologie« mal wieder geblendet, sodass ich das, was andere als »gefährlich oder problematisch« einstuften, nicht sehen konnte? Ich wusste nicht, was gerade passierte, und, was noch schlimmer war, ich konnte niemanden fragen. David hatte seine Gefühle deutlich gemacht. Und natürlich konnte ich mich nicht meinem Vater anvertrauen. Everly war eigentlich eine Klientin, also tabu. Selbst zu meiner Therapeutin konnte ich nicht gehen. Ich wusste, dass Dr. Carlin ein Problem damit hätte, dass ich Ginny stalkte, denn damit hatte ich eigentlich unsere Abmachung gebrochen.
»Genau das ist der Grund, weshalb ich das alles in der Therapie schon vor Jahren angehen wollte«, stellte ich mir vor, was sie sagen würde. »Damit Sie darauf vorbereitet sind, wenn die destruktiven Triebe wiederkommen. Aus welchem Grund auch immer.« Und sie hätte recht damit. Zudem würde sie wohl die Behörden einschalten – wie jeder rational denkende Mensch. Aber ich wollte es nicht der Polizei erzählen … und auch eigentlich niemand anderem.
Wenn ich Ginnys Drohungen ans Licht brachte, würde das mein Ventil für die Finsternis neutralisieren, und dazu war ich noch nicht bereit. Warum sollte ich sie verhaften lassen, wenn es doch deutlich befriedigender wäre, mich selbst um das Problem zu kümmern? Ich war in gewisser Weise meinen Käfig los, also entschied ich mich, das Beste daraus zu machen. Und so stand ich eines Abends unter der Woche in Ginnys Garten hinter dem Haus und beobachtete sie durch die Fenster. Für meine Verhältnisse war ich gut gelaunt. Harlowe war in der Stadt und ich hatte einen Großteil des Nachmittags mit ihr und Everly in dem verlassenen Haus am Mulholland Drive verbracht, wo mir die leer stehende Behausung eine vorübergehende Pause von meinem Frust daheim bot.
Der Ausflug zu Ginny war eine kurzfristige Entscheidung gewesen. Ich hatte Harlowe nach dem Abendessen bei Dad abgesetzt und war auf dem Heimweg gewesen, zu einem leeren Haus – ich wusste, dass David noch mehrere Stunden unterwegs sein würde –, als mir auffiel: Ich habe da keinen Bock drauf. Ich war das erste Mal nach langer Zeit entspannt. Ich fühlte mich schelmisch statt depressiv. Ich dachte, ein Ausflug zu Ginny wäre der perfekte Tagesabschluss. Ich fuhr die Autobahn in Richtung Vorstadt, wo mich der Schatten ihres kleinen Gartens umhüllte wie ein warmes Bad. Ich stand in der frischen Nachtluft unter einem Baum in einer Ecke, gut versteckt hinter dem dicken Stamm, während Ginny in ihrem Wohnzimmer auf- und abging. Es war eindeutig, dass sie irgendetwas erregt hatte. Mein großer Umweg zahlte sich mehr aus als gedacht, mit dem schönen Bonus, Ginny mit schlechter Laune zu erleben. Ich mochte es, Ginny verärgert zu sehen. Ich wollte, dass es ihr schlecht ging, auch wenn ich dafür nicht persönlich verantwortlich war. Dennoch wurde mir nach einer halben Stunde langweilig. Ich wollte gerade aufbrechen, als mein Handy vibrierte und ich auf das Display schaute. Unbekannter Anrufer Ich konnte es nicht fassen und schaute hoch, um zu sehen, was Ginny tat. Sie stand vor ihrem Schlafzimmerfenster, mit einem Telefon am Ohr. Ich bedeckte den Mund mit einer Hand, um mich selbst zu kontrollieren, als ich dranging. »Hallo?«, fragte ich sanft, meine Stimme mit einem südlichen Dialekt verstellend.
Ich veränderte immer mal wieder den Klang meiner Stimme, um Ginny durcheinanderzubringen. Das machte sie immer wütend, wie auch an diesem Abend. Ich grinste, während ich sie dabei beobachtete, wie sie auf einmal voller Verwirrung auf ihrem Display die Nummer überprüfte, um sicherzugehen, dass sie bei der richtigen Person angerufen hatte. »Hallo?«, fragte ich erneut, feindlich gestimmt. »Oh«, sagte Ginny nach einem kurzen Moment. »Spreche ich mit Harlowe?« Ich wurde blass bei der Erwähnung des Namens meiner Schwester. »Ich hab schon gehört, dass du in der Stadt bist«, fuhr sie fort. »Kannst du deiner großen Schwester etwas von mir ausrichten?«, fragte Ginny mit rauer und boshafter Stimme. »Sag ihr, dass sie ihre Rechnungen noch bezahlen muss. Ansonsten werde ich dich finden und dir wehtun, Harlowe. Selbst wenn ich den ganzen Weg nach Florida fliegen muss.« Ich legte auf. Beim Erklingen des Freizeichens sah Ginny den Hörer selbstzufrieden an, bevor sie ihn wieder auf die Gabel legte.
Jeder Muskel in meinem Körper war angespannt, als eine lang verloren gegangene Erinnerung ihren Weg in mein Bewusstsein fand. Die Farm meiner Großeltern in Mississippi hatte einen Pferdestall. Harlowe und ich gingen in unserer Kindheit für unsere Leben gern die Pferde dort besuchen; das machten wir bei jedem Trip zu unseren Großeltern. Die meisten der Pferde waren sanft, an den Stall gewöhnt und gut zu reiten. Es gab nur ein Pferd, das all dies nicht war. Charlotte war eine riesige schwarze Stute mit einem rücksichtslosen Gemüt und einer ungepflegten Mähne, die fast bis zum Boden hing. Sie war berüchtigt, unvorhersehbar und stur, so sehr sogar, dass man sie nie aus dem Stall ließ, wenn wir zu Besuch waren. Aber ich werde nie das Geräusch vergessen, das sie immer im Protest gegen ihre Gefangenschaft machte. Erst war es ein einzelner harter Tritt gegen die Stalltür, während sie den anderen Pferden auf ihrem Weg zur Weide zusah. BUMM. »Charlotte!«, rief mein Großvater dann immer. »Fang gar nicht erst an!« Danach schaute er meine Schwester und mich an. »Ignoriert sie einfach«, flüsterte er immer. Aber Charlotte ließ sich nicht ignorieren. Sie trat immer und immer wieder, ihre Einwände waren energisch und rhythmisch. Die Bohlen erzitterten unter ihren mächtigen Hufen. BUMM. BUMM. Ich erinnere mich daran, wie ich nach oben zu dem Pferd schaute, wie sich ihre leidenschaftslosen schwarzen Augen in meine bohrten, während sie ihren Willen kundtat. BUMM. BUMM. BUMM. Man konnte sie nur ab der Brust aufwärts sehen und in diesem Oberkörper war keinerlei Bewegung auszumachen. Die Macht ihrer Tritte schien null Einfluss auf den oberen Teil ihres Körpers zu haben, der stoisch und methodisch aussah, während sie ihren kontrollierten Protest fortsetzte.
Mit dem Handy immer noch in der Hand fiel mir auf, dass ich meinen eigenen Donner hatte, der sich tief in mir aufbaute. Er war zuerst kaum bemerkbar, da er unter mehreren Jahren der Disziplin und Kontrolle und Therapie und Hoffnung begraben lag. Aber er wuchs und wuchs. BUMM. BUMM. BUMM. BUMM. Ein Gerassel der Jalousien holte mich wieder in die Gegenwart zurück und ich sah Ginny zum Rauchen die Terrasse betreten. Es war nicht das erste Mal, dass das passierte. Sie war Kettenraucherin und wanderte regelmäßig im Laufe meiner Besuche nach draußen, völlig verloren in ihrer kognitiven Dissonanz, während ich in der Nähe stand und sie beobachtete. Die meiste Zeit genoss ich unsere einseitigen Interaktionen. Diese Erfahrung kam tatsächlicher Unsichtbarkeit am nächsten und brachte mir zusätzliche Begeisterungsschübe, weil sie mich manchmal direkt ansah, ohne zu wissen, dass ich da war.
Aber an diesem Abend war etwas anders. Ich starrte Ginny an, als sie zufrieden an ihrer Menthol Light zog. Ihr Gesichtsausdruck zeigte klar, dass sie nicht mehr aufgewühlt war, sie sah fast schon aufgedreht aus. Und ich wusste, warum. Weil du meiner Schwester gedroht hast, oder das zumindest glaubst, du scheiß Schlampe. Ginny drückte die Zigarette in einem Blumentopf in der Nähe aus und tat dann etwas, was sie noch nie getan hatte: Sie trat in den Garten. Ich beobachtete sie dabei, wie sie gedankenverloren kreuz und quer lief und sich mit jedem Schritt meinem Beobachtungsposten unter dem Baum näherte. Wo ich wartete. Mit meiner Disziplin, die nur geringfügig stärker war als der Sog meiner Finsternis, spielte sich ein soziopathischer Willenskampf nur wenige Schritte von dem Ort entfernt ab, an dem Ginny in seliger Unwissenheit spazieren ging. Das erhöhte Risiko verschaffte mir eine akute Befriedigung. Oh Mann, wie ich dieses Gefühl liebte. Macht und Stärke und Nichts und Akzeptanz in einem. Sie würde es nie kommen sehen, dachte ich lächelnd. Jeder einzelne meiner Muskeln wappnete sich für die Bewegung, während ich meine Optionen mental durchspielte. Sie war jetzt nur wenige Meter entfernt. Sie musste für mich nur einen weiteren Schritt gehen. Noch einen, und meine dunkle Seite könnte die Führung übernehmen. Noch einen, und ich würde nicht mal den Schatten verlassen müssen, damit die Kraft meiner Dunkelheit ihre Stärke entfalten könnte. Ich konnte den Rausch, diese Befreiung kaum noch erwarten. Ginny hielt an. Es wirkte, als hätte sie sich entschieden, für immer dort stehen zu bleiben. Aber dann, endlich, hob sie den Fuß, um weiter in Richtung meines Baums zu laufen. Ich atmete langsam ein, während ich mich auf meine Bewegung vorbereitete.
Dann knallte plötzlich die Haustür. Ginny und ich wirbelten herum. »Hallo?«, rief sie aus. Sie erhielt keine Antwort. Wir standen beide still da, die Augen auf den Eingangsbereich gerichtet. Ein Junge erschien. »Hey Mom«, sagte Liam. Er blieb im Eingang stehen, während Ginny zurück zur Terrasse lief. »Wie war der Film?«, fragte Ginny. Der Junge zuckte mit den Schultern. »Dumm.« Ginny umarmte ihn. »Hast du Hunger?«, fragte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Bock auf Pizza?« Liam lächelte. »Mit extra Käse?« Ginny nickte. »Aber klar doch.«
Sie legte den Arm um ihren Sohn und gemeinsam liefen sie wieder nach drinnen. Ich beobachtete sie, meine dunkle Seite wich mit jedem ihrer Schritte immer weiter zurück in den Schatten. Ich war einen Moment lang wie eingefroren. Ich stand da, von meinem sich drehenden Gedankenkarussell außer Gefecht gesetzt, konnte aber auch nicht meinen Blick von der Szenerie abwenden, die sich mir nun drinnen bot: Eine Mutter und ihr Sohn schalteten den Fernseher an und deckten den Tisch für eine spätabendliche Pizza.
Der Gegensatz war lähmend. Ich hätte da sicherlich noch die ganze Nacht gestanden, wenn Ginny nicht etwas getan hätte, was sie vorher auch noch nie gemacht hatte. Sie drehte sich mit dem Gesicht zum Garten, griff zur Seite, zog an einer Schnur und schloss die Jalousien. Wie eine Kinobesucherin, die zu lange geblieben war, stand ich unbeholfen in der Ecke des Gartens, beobachtete die vertikalen Lamellen dabei, wie sie langsam seitlich zusammenglitten und das gesamte Areal in Dunkelheit tauchten.
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