Schall und Rauch Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.
Schall und Rauch
Man konnte mit Sicherheit sagen, dass es nicht wie am Schnürchen lief. Mein Privatleben war ein Autounfall. David und ich redeten kaum miteinander. Meine außerplanmäßigen Aktivitäten waren hochgradig bedenklich und ich fragte mich inzwischen inständig, ob ich mich selbst einweisen sollte. Mein letzter Termin mit Dr. Carlin war Wochen her.
Zwischen all der Arbeit, der Uni und den häufigen Fluchten zu Ginnys Garten hatte ich kaum Zeit zum Essen und noch weniger für die Hin- und Rückfahrten ans andere Ende der Stadt für die Therapie. Das war jedoch unwichtig, denn meine Entscheidung, von ihr fernzubleiben, war weniger eine Frage der Logistik als vielmehr eine des Selbsterhalts, seit mein soziopathisches Verhalten wieder zum Vorschein gekommen war. Da sich der Großteil meiner Freizeit wie ein Bruch der Tarasoff-Regel abspielte, war meine Therapeutin logischerweise keine annehmbare Vertraute mehr. Ich war auf mich allein gestellt.
Die Tasten klickten, während meine Finger über die Tastatur flogen. Es war der Morgen nach dem Besuch bei Ginny und ich verbrachte meine Zeit – anstatt zu arbeiten – mit der Google-Suche von »psychiatrischen Kliniken«. Meine Handlungen am Abend zuvor hatten mich verunsichert. Was als harmlose Dehnübung meines soziopathischen Muskels angefangen hatte, hatte sich zu etwas gewandelt, das ich nicht mehr mit Sicherheit kontrollieren konnte. Es beunruhigte mich, wie schnell sich meine Absichten von disziplinierter Devianz hin zu annähernder Grausamkeit verschoben hatten. Bei Licht betrachtet wurde deutlich: Ich brauchte professionelle Hilfe. Und ich würde fast alles tun, um sie zu bekommen.
»Magersucht«, las ich. »Bipolarität, Depressionen.« Meine Augen überflogen die Liste der Störungen, die in einem hochangesehenen kalifornischen Wellnesscenter behandelt wurden. Ich runzelte die Stirn bei all der Auswahl, während ich durch die Liste scrollte. »Schizoaffektive Störung, Schizophrenie, Sozialphobie, Tourette-Syndrom.« »Scheiße«, murmelte ich, enttäuscht über das Fehlen der Soziopathie in der Liste. Wie in den Wörterbüchern. Ich strich einen weiteren Eintrag in der ausgedruckten Tabelle durch. Das war schon der 33. Name auf meiner Liste. Ich hatte in den Stunden, in denen ich nach professioneller Hilfe gesucht hatte, noch keine einzige gute Möglichkeit für mich gefunden. Keine der psychiatrischen Kliniken bot auf ihrer Webseite irgendeine Behandlung im Zusammenhang mit Soziopathie an. Wo ich auch angerufen hatte, niemand hatte mir wenigstens einen Tipp geben können. Soziopathie sei »aus klinischer Sicht hinfällig«, hatte mir eine Frau erklärt, während, wie sie mir wenig hilfreich vorgeschlagen hatte, die Schizophrenie gerade erstaunlich populär sei. »Hören Sie Stimmen?«, hatte die Frau gefragt. Und ich hatte schon mit »nein« geantwortet, bevor ich noch richtig über die Frage hatte nachdenken können.
»Abwesenheit von Wahnvorstellungen und anderen Zeichen des irrationalen Denkens« war der zweite Punkt auf Cleckleys Liste. Soziopathen, so hatte der Psychologe theoretisiert, würden nicht unter den Anzeichen von Psychosen leiden, wie es bei Schizophrenen der Fall wäre. Daher seien sie zu logischem Denken fähig und könnten anscheinend einen Großteil ihres antisozialen Verhaltens kontrollieren. In anderen Worten: Soziopathen sind versucht, gewalttätige Handlungen zu vollziehen, weil sie denken, dass sie das wollen, und nicht, weil Stimmen in ihrem Kopf sie dazu zwingen.
»Patric, dein Vater ist hier und möchte dich sehen«, krächzte die Stimme meiner Assistentin durch das Haustelefon. Ich atmete tief ein und stand vom Schreibtisch auf. Vielleicht sollte ich mal so tun, als sei ich schizophren, dachte ich, während ich den Flur entlanglief. Immerhin hörte ich ja Stimmen. Meine eigenen. Und sie bestätigten mich darin, schlimme Dinge mit Ginny Krusi zu machen. »Hallo«, sagte Dad, als ich in sein Büro geschlurft kam. »Du müsstest mal bitte nach dem Hudson-Demo schauen.« Damit meinte er eine Sammlung von Liedern einer Pop-Band, die wir repräsentierten. Dad wartete schon seit Wochen darauf, dass es endlich abgeschlossen wurde, und es befand sich in den letzten Zügen der Produktion in einem Studio in Hollywood. Ich erwiderte nichts, weil ich immer noch darüber nachdachte, wie ich am besten und glaubhaftesten eine Schizophrenie vortäuschen könnte.
»Patric, hörst du mir zu?«, fragte Dad. »Joah«, antwortete ich. »Entschuldige, ich bin nur verwirrt. Bist du dir sicher, dass das fertig ist?« »Nein«, erwiderte er schnippisch. »Aber es muss endlich fertig sein. Ich treffe mich nächste Woche mit drei Labels. Wenn ich dich also jeden verdammten Tag ins Studio schicken muss, damit du sie deswegen nervst, dann werde ich das tun.« Es war eine kurze Fahrt zum Studio. Ich winkte der Person am Empfang und schlenderte auf der Suche nach dem Hudson-Team den langen Hauptflur entlang. Ich mochte Aufnahmestudios schon seit meiner Kindheit, seit Dad mich zum ersten Mal mit zur Arbeit genommen hatte. Sie wirkten wie künstlerische Höhlen auf mich, immer dunkel, immer kühl, immer voller Musik. Gleichzeitig wusste man nie, auf was man stoßen würde. Nach einigen Minuten der Suche entdeckte ich schließlich einen mir bekannten Produzenten. Er lehnte lässig und entspannt am Rahmen einer offenen Studiotür und sprach mit jemandem außerhalb meines Blickfelds. »Hallo Patric«, begrüßte er mich, als ich näher kam. »Was gibt’s?« »Hallo Neil«, erwiderte ich lächelnd und fragte nach dem leitenden Produzenten: »Du hast nicht zufällig Andy irgendwo gesehen? Ich suche eins unserer Demos.«
In diesem Moment steckte ein Mann mit einer akustischen Gitarre an einem dicken Gurt über der Schulter seine Nase aus dem Studio nach draußen. Ich erkannte ihn sofort, auch wenn er größer war, als ich immer gedacht hatte. »Hi«, sagte er zu mir. »Ah, tut mir leid«, sagte Neil. »Kennt ihr euch schon?« Der Typ schüttelte den Kopf und trat selbstbewusst mit ausgestreckter Hand in den Flur. Und ich musste lachen. Ich hatte mich nie so ganz daran gewöhnt, Menschen vorgestellt zu werden, deren Identität so offensichtlich war. Auch wenn ich inmitten der Entertainmentbranche aufgewachsen war und einen Großteil meines Erwachsenenlebens in unmittelbarer Nähe zu allen möglichen erfolgreichen Künstlern verbracht hatte, so war mir dennoch dieses Ritual des Vorgestelltwerdens – als wäre der Name der Person vor mir nicht auf lächerliche Art offensichtlich – immer lustig vorgekommen. Ich entschied, auch genau das jetzt zu diesem Mann mit der Gitarre zu sagen. »Darüber habe ich nie nachgedacht«, sagte er grinsend. »Wie wäre es also damit? Tu einfach so, als sei ich nicht ich«, schlug er mit Schalk in den Augen vor. Er streckte die andere Hand aus und sagte: »Der Name ist Max. Max Magus.« »Schön«, spielte ich mit. »Wie so ein Bösewicht bei Batman, aber mit dem Anflug einer Pornonote.« »Jetzt bist du dran«, sagte er. »Ich bin Patric.« Er nickte zustimmend. »Also sag mal, Patric, kennst du hier in der Ecke was Gutes zum Essen?« Ich nickte. »Ja.« »Na ja, was hältst du dann von Mittagessen?« Ich schüttelte den Kopf, gleichermaßen beeindruckt und abgestoßen von seinem Selbstbewusstsein. »Danke für die Einladung, aber mein Freund sieht es nicht allzu gern, wenn ich mit fremden Männern Mittagessendates ausmache.« »Ah, fantastisch platzierte Erwähnung des Freunds«, erwiderte er, ohne zu zögern. »Hast du das gesehen, Neil? Wie unfassbar smooth sie mir mitgeteilt hat, dass sie vergeben ist? Aber der Witz geht auf deine Kosten, denn auch ich habe eine bessere Hälfte.« »Wie schön für sie!«, sagte ich lachend. »Wie sieht’s also aus?«, fragte er erneut. »Jetzt, wo du weißt, dass ich mich nicht an dich ranmachen will, ist es doch völlig harmlos. Außerdem falle ich fast um vor Hunger und Neil weigert sich mitzukommen.«
»Ich stecke ja auch mitten im Abmischen deines Albums«, grummelte Neil. Max winkte ab. »Ich kann nicht«, sagte ich. »Ich muss auch arbeiten. Ich versuche, ein Demo zu finden.« »Mike!«, rief Max plötzlich. Ein anderer Mann erschien in der Tür. »Was ist los, Chef?« »Du musst ein Demo für mich finden.« Max schaute mich erwartungsvoll an. Ich seufzte, Genervtheit vortäuschend. »Es geht um die Band Hudson«, sagte ich und lächelte Mike entschuldigend an. »Andy Wallis ist ihr Produzent.« Mike nahm das Telefon zur Hand. »Einen Augenblick bitte. Ich ruf mal den Techniker an.« »Sieht aus, als hättest du jetzt keine Ausreden mehr.« »Ich muss aber wirklich wieder an die Arbeit«, sagte ich. »Ich auch«, erwiderte er beharrlich.
»Aber wenn du Bock hast, auf mich zu warten, bis ich das Demo abgeliefert habe, dann könnten wir zu einem Laden in der Nähe meines Büros gehen, zum Smoke House«, gab ich nach. Max war schon da, als ich ankam, und wartete in einem sichelförmigen Separee auf mich. »Na, das hat ja lang genug gedauert«, begrüßte er mich. Tatsächlich wäre ich fast nicht gekommen. Ein Mittagessen mit jemanden, den ich gerade erst kennengelernt hatte, war untypisch für mich. Generell ein Mittagessen mit irgendjemandem. Aber nach einem Morgen der Suche nach psychiatrischen Kliniken klang ein spontanes Mittagessen mit einem berühmten Fremden wie eine gute Nachmittagsbeschäftigung. Es war definitiv besser als alle Ablenkungsversuche meinerseits in letzter Zeit. Und das Smoke House war einfach die perfekte Kulisse dafür. Dessen dunkle Holzvertäfelungen und hohe Rücklehnen gaben mir immer das Gefühl, als wäre ich abgeschnitten von der Welt und all meinen Problemen – wenn auch nur zeitweise. Sobald ich mich gesetzt hatte, fragte Max: »Wie bist du auf diesen Laden gestoßen?« »Es ist eins der ältesten Restaurants der Stadt«, erklärte ich ihm. »Und eins meiner liebsten, gleichauf mit dem Jar. Und James Beach. El Coyote. Giorgio Baldi. Ich könnte noch ewig so weitermachen.«
»Du klingst wie eine richtige Feinschmeckerin«, sagte er. »Also sag mal, wenn du jetzt in ein Restaurant deiner Wahl irgendwo auf der ganzen Welt gehen könntest, welches wäre es?« »Ins Per Se«, erwiderte ich ohne Zögern. »In New York. Da war ich noch nie, aber es ist eins der wichtigsten To-dos auf meiner Kulinarikliste.« »Dann hast du einen guten Geschmack«, sagte Max mit falscher Bescheidenheit. Ich lächelte und lehnte mich an die warme Lederlehne zurück, um Bilanz über mein Mittagsdate zu ziehen. Er machte Spaß. Ich fühlte mich bereits, als würden wir uns ewig kennen, als wäre er jemand, der mühelos ein Gespräch führen könnte ohne Interesse an sinnlosem Geschwätz. Nachdem ein Kellner unsere Bestellung aufgenommen hatte, fragte mich Max: »Hast du jemals das Gefühl, du wärst verrückt?« Mich warf die Frage kurzzeitig aus der Bahn und ich meinte zu spüren, dass genau das auch seine Intention gewesen war. Auch ich nutzte diese Taktik bei Menschen. Ich lächelte positiv überrascht und sagte: »Ja, tatsächlich.«
Er senkte die Stimme und lehnte sich leicht nach vorn. »Nein, ich meine, so ernsthaft verrückt. Ich meine, jetzt fühle ich mich halt völlig zurechnungsfähig, aber dann denke ich an etwas, was ich vor, ach, ein paar Monaten gemacht habe und das war absurd verrückt. Nur dass es sich damals wie eine völlig logische
Entscheidung anfühlte.« »Du machst dir Sorgen, dass du ein falsches Gefühl der Selbstbewusstheit hast«, bot ich ihm an. »Ja«, erwiderte er, beeindruckt von meiner schnellen Auffassungsgabe. »Als könnte man sich selbst nicht trauen, zu jedem beliebigen Zeitpunkt wirklich zwischen verrücktem und nicht verrücktem Verhalten zu differenzieren.« »Himmel«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durch die dicken dunklen Haare. »Ja.« »Ich fühle mich tatsächlich so«, sagte ich zu ihm. »Um ehrlich zu sein, habe ich den ganzen Morgen mit der Suche nach einer psychiatrischen Klinik verbracht, um mich selbst einzuweisen.« Ich genoss die Worte, als sie mir über die Lippen gingen. Es fühlte sich gut an, einfach die Wahrheit zu sagen. Max’ Reaktion – ob nun eine positive oder negative – bedeutete gar nichts. Da ich nichts zu verlieren hatte, hatte ich für mich entschieden, einfach ich selbst zu sein. Ich wusste nicht, wie lange diese Freiheit andauern würde, aber ich würde sie auf jeden Fall auskosten. Max schaute mich an, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er mich ernst nehmen sollte oder nicht. Ich fand die Liste der Wellnesscenter in meiner Handtasche und legte sie auf den Tisch. »Ich bin eine Soziopathin«, enthüllte ich. »Ich wurde vor ein paar Jahren diagnostiziert und suche seither nach einer Behandlung.« Er atmete tief durch und lehnte sich zurück. »Was heißt das genau?«
Er hörte mir zu, als ich ihm meine Probleme mit der Soziopathie und meiner Frustration darüber schilderte, dass es keine weiteren klinischen Informationen oder irgendwelche Behandlungsmöglichkeiten gab. »Ich hatte eine Zeit lang eine Therapeutin, sie war fantastisch. Aber das war nicht ihr Spezialgebiet und ich glaube, ich brauche jemanden, der das von sich behaupten kann.« Ich hielt inne und gab dann zu: »Weil ich in letzter Zeit ein paar Probleme habe.« »Inwiefern Probleme?«, fragte Max, völlig vertieft. »Impulskontrolle zum Beispiel. Da ist diese Frau, die mich seit ein paar Monate erpressen will«, erklärte ich. »Und letzte Nacht ist das Ganze … eskaliert.« »Wie … eskaliert?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich hab sie in ihrem Garten fast angegriffen.«
Er prustete sein Getränk aus und griff nach einer Serviette. Ich fuhr fort: »Die gute Nachricht ist aber, dass ich heute Morgen dann wusste, dass ich etwas dagegen tun musste. Aber ich habe noch kein Glück gehabt bei der Suche nach jemanden, der mir helfen kann.« Ich runzelte die Stirn. »Soziopathie wird nicht als ›behandelbare Störung‹ angesehen. Ich arbeite tatsächlich gerade an meiner Promotion der Psychologie, nur um darüber mehr zu erfahren.« »Warte mal«, sagte Max, sich das Kinn abwischend. »Ich dachte, du bist Managerin.« »Ja, bin ich. Ich mache beides.« »Krasses Doppelleben«, sagte er mit Bewunderung in der Stimme. »Wer ist also diese Person?« »Welche Person?« »Die Erpresserin?« »Ah«, erwiderte ich. »Das ist Oliver Krusis Mutter.« Er reckte mit aufgerissenen Augen den Hals in meine Richtung. »Oliver Krusi, der Sänger?« »Ja, genau.« »Mein Manager hat mir gerade vorgeschlagen, mit ihm zusammenzuarbeiten.«
»Also, wenn du nicht all deine Wertsachen loswerden willst, dann solltest du seine Mutter nicht zur Aufnahme einladen.« Ich nahm einen Schluck von meinem Getränk. »Auch wenn ich die Letzte bin, die das verurteilen würde.« »Warte mal kurz«, sagte er kopfschüttelnd. »Geh noch mal einen Schritt zurück. Warum erpresst dich Olivers Mutter?« Ich rieb mir die Augen. »Sie behauptet, sie hätte kompromittierende Bilder meines Vaters, und wenn ich ihr nicht 50000 Dollar in bar im Holiday Inn am Highland hinterlege, dann geht sie mit denen an die Presse. Und schneidet mir dann das Gesicht auf. Oder schneidet mir vielleicht das Gesicht auf und geht dann an die Presse. Das weiß ich nicht mehr so genau.« Meine Worte hingen kurz so in der Luft und dann mussten mir beide in Anbetracht der Absurdität der Situation loslachen, die auch mir zum ersten Mal lächerlich erschien. »Okay, warte mal einen Moment«, sagte er, nach Luft schnappend. »Dein Dad ist doch auch Manager, oder?« Ich nickte. Max senkte verschwörerisch die Stimme. »Glaubst du denn, die hat wirklich Bilder?« »Wahrscheinlich«, erwiderte ich und seufzte erleichtert. Die Ehrlichkeit war schon wieder so erfrischend, als wäre mir ein 500 Kilo schwerer Stein vom Herzen gefallen. »Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das überhaupt so wichtig ist. Das ist ein Teil meines Problems: Ich kann einfach nie wirklich sagen, ob etwas Schlechtes schlecht ist.«
»Ja, aber dir muss doch bewusst gewesen sein, dass ihr Verhalten schlecht war«, stellte Max fest. »Ansonsten hättest du sie doch nicht bestrafen wollen.« »Das ist ja das Ding«, erwiderte ich. »Ich glaube nicht mal, dass es eine Bestrafung sein sollte.« Ich schilderte ihm die mehrfachen Ausflüge in Ginnys Garten und meine Erleichterung danach. »Ich ging da nicht wegen ihrer Handlungen hin«, gab ich zu. »Sondern, weil sich mir die Gelegenheit bot.« Ich wurde still, als sich eine sehr alte Erinnerung aus meinem Unterbewusstsein nach oben kämpfte. »So wie Kiki«, murmelte ich. Max zog eine Augenbraue hoch.
Kiki war die Katze meiner Mutter gewesen. Von Geburt an eine Hauskatze, die ihr gesamtes Leben drinnen verbracht hatte … bis ich sie zur Tür rausgelassen hatte. »Es war wirklich ein Versehen gewesen«, sagte ich zu ihm. »Ich hab die Tür geöffnet und sie ist einfach rausgeflitzt. Sie hatte sich hinter dem Sofa versteckt, glaube ich, und auf ihre Gelegenheit gewartet. Und in dem Moment, wo sie diese ergreifen konnte, war sie weg. Aber nach einer Stunde war sie wieder zurück. Ich hab sie auf unserer Veranda in der Sonne chillend wiedergefunden.« Ich lehnte meinen Kopf an, während ich weiter in der Erinnerung schwelgte. »Mom erfuhr nie was davon, aber danach saß ich jeden Nachmittag draußen und ließ die Tür leicht geöffnet, damit Kiki auch rauskommen konnte. Manchmal lag sie dann neben mir, manchmal stromerte sie durch den Garten. Aber sie rannte nie weg.« »Sie wusste, was gut für sie war«, erwiderte Max. Ich lächelte. »Das stimmt. Kiki wollte keine Draußenkatze sein. Sie wollte einfach nur die Entscheidung selbst treffen.« Ich dachte darüber nach. »Versteh mich nicht falsch. Moms Beschützerinstinkte waren korrekt, aber ihre Strategie war falsch. Mom wollte Kiki einschließen.« Da machte es plötzlich Klick bei mir. »Wie David«, sagte ich.
Max blinzelte verwirrt. »Mein Freund«, klärte ich ihn unverblümt auf. »Er mag es nicht, dass ich eine Soziopathin bin. Er mag es nicht, dass ich die Dinge nicht so wie er fühle, so wie alle. Das war mal anders. Glaube ich. Aber jetzt hat er Angst davor. Ich glaube, er hat Angst, dass ich nie wieder zurückkomme, wenn ich es mal aus dem Haus raus schaffe. Weißt du, metaphorisch gesprochen.« Max legte den Kopf schräg, als sich Verwirrung und Begeisterung über sein Gesicht ausbreiteten. »Gibt es dich wirklich?«, fragte er. »Also bist du real oder habe ich gerade den besten Traum meines Lebens?« Ich kicherte ob seines Wagemuts. Es war offensichtlich, dass er flirtete, aber es störte mich nicht. Ich mochte es sogar irgendwie. Es fühlte sich gut an, als diejenige, die ich war, akzeptiert zu werden. Sogar irgendwie belohnt zu werden. Und außerdem war es ja harmlos. Ich lächelte. »Darauf komm ich eventuell noch mal zurück.« »Wie lange seid ihr schon zusammen?«, fragte Max.
»Ein paar Jahre.« »Das ist lange.« »Ich weiß«, sagte ich. »Aber deswegen hab ich mich so darauf gestürzt, zu Ginnys Haus zu fahren. Ich glaube, ein Teil von mir war einfach der Meinung: ›Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bevor der Streit mit David wieder vorbei ist und ich mich wieder entscheide, brav zu sein. Also kann ich das jetzt auch genauso gut für mich nutzen.‹« »Aber ist es das, was du wirklich willst?«, fragte er provokativ. »Brav sein?« Ich seufzte und starrte an die Decke. »Ich will besser sein«, sagte ich und meine Stimme gab ein wenig Erschöpfung preis. »Anders.« Er sah entsetzt aus. »Warum?« »Weil ich nicht gesund bin.« Ich lachte. »Hast du mir nicht zugehört? Ich hab letzte Nacht fast jemanden angegriffen.« »Aber hast du nicht«, gab er zurück. »Ich weiß nicht. Ich finde das interessant. Auch die Tatsache, dass du so offen darüber redest.« Er schüttelte den Kopf und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. »Ich würde das um nichts auf der Welt ändern wollen.«
Ich rutschte auf meinem Sitz hin und her. Das war ein weiterer wagemutiger Satz, einer, der mehr in mir resonierte, als ich zugeben wollte. Ich zwang mir selbst einen fragenden Gesichtsausdruck auf, wollte unbedingt das Thema wechseln. »Wie sieht’s also mit dir aus?«, fragte ich. »Was ist dein Laster?« »Wohl Schmeichelei«, antwortete er nach einem Augenblick. »Aufmerksamkeit, Bestätigung.« Er zuckte mit den Schultern. »Nicht sehr originell, gebe ich zu. Das ist doch das Ding an dieser Branche, oder? Die Sucht füttert die Sucht.« »Das muss so ein verrücktes Leben sein.« »Wie meinst du das?«
»Alle werden von Ruhm angezogen«, sagte ich. »Das ist alles so verführerisch. Aber gleichzeitig auch entsetzlich.« Es schüttelte mich, als ich über den Mangel an Unsichtbarkeit nachdachte. »Ich würde mich erschießen, wenn mich die Leute überall andauernd wiedererkennen würden.« »Statt andere Leute umzubringen, meinst du?«, scherzte er. Ich lachte.
»Und in diesem Sinne«, erwiderte er und winkte nach dem Kellner. »Ich würde sagen, wir bestellen noch eine Runde.« Ich überlegte, Widerspruch einzulegen, aber dachte dann, Warum nicht? Es war ja nicht so, als hätte ich etwas Besseres zu tun. Der Kellner trat an unseren Tisch. Martini für mich. Whiskey für
Max. Er wartete, bis der Kellner wieder weg war, um zu sagen:
»Das ist tatsächlich mein Problem bei allem. Manchmal fühle ich mich wohl mit dem Erfolg. Manchmal hasse ich ihn. Manchmal will ich die Frau. Manchmal will ich, dass sie sich in Luft auflöst.«
»Das ist doch völlig normal«, sagte ich zu ihm. »Das weißt du, oder? Das ist eine Grenzsetzungssache.« »Was meinst du damit?« »Menschen, die nicht über herkömmliche Grenzen verfügen, suchen immer nach neuen Wegen, um sich welche zu setzen. So wie ich.« Max schaute auf mich herab. »Du willst also damit sagen, dass ich ein schlummernder Soziopath sei?« »Nein. Du brauchst zu viel Bestätigung von außen.« Dann hatte ich eine Idee. »Auch wenn ich wetten möchte, dass ich eine Studie zur Soziopathie und den negativen Auswirkungen von Ruhm machen könnte.« »Hä?«
Ich lehnte mich gedankenverloren zurück. »Soziopathen erkennen keine natürlichen Grenzen«, sagte ich, mehr zu mir selbst. »Und man kann sie als Kinder nicht so einfach sozialisieren. Also leben sie nicht nach denselben sozialen Regeln wie alle anderen.« Ich schwenkte meine Aufmerksamkeit wieder zu Max. »Aber das Gleiche passiert auch mit berühmten Menschen, oder nicht? Je mehr sie erreichen, desto weniger Grenzen haben sie. Sie müssen nicht nach den Regeln spielen, also verhalten sie sich destruktiv, um eine neue Normalität für sich zu eruieren, um auf neue Grenzen zu stoßen. Sie verhalten sich dann wie Soziopathen.« Ich merkte, dass ich abschweifte. »Ich bin so eine Art Psychologienerd, sorry«, erklärte ich schulterzuckend. »Ich dachte, du verspürst keine Reue«, scherzte er. »Ich habe gesagt, dass es mir nicht im Blut liegt, aber ich kann es ziemlich gut vortäuschen.« Ich grinste ihn breit an. »Ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet.« Er stützte den Arm auf dem Tisch ab und ließ die Wange auf die Handinnenfläche fallen. »Ich hab dich gefragt, ob du real bist. Und du hast gesagt, darauf kommst du noch mal zurück.« »Ah.« Ich kicherte. »Wie wär’s, wenn du das entscheidest?« Er starrte mich eindringlich an. »Ich sage, dich gibt’s wirklich.« »Großartig.« »Also, wie viel Zeit bleibt uns jetzt noch?«
Ich warf ihm aufgrund der absichtlich vagen, aber gewagten Frage einen spielerisch missbilligenden Blick zu. Immer noch harmlos. »Jetzt, wo wir wissen, dass es dich wirklich gibt, meine ich«, fuhr er fort. »Wie lange haben wir noch, bevor du dich selbst einweist?« Ich seufzte und schaute wieder an die Decke. »Wer weiß das schon? Ich muss erst eine psychiatrische Einrichtung finden, die mich nehmen würde.« »Na ja … Glaubst du, du bist morgen Abend noch auf freiem Fuß?« »Wahrscheinlich. Warum?« »Ein paar Freunde von mir spielen in der Hollywood Bowl. Du könntest mein Gast sein.« Max grinste. »Mit deinem Freund natürlich.«
Später an dem Abend saß ich im Wohnzimmer und wartete auf David. Ich hatte uns zwei Gläser Wein eingeschenkt und, während ich entspannt vom Fensterbrett aus die Straße überblickte, konnte ich nicht anders, als mich in der Zufriedenheit zu sonnen, die das Mittagessen mit Max in mir ausgelöst hatte. Ich hatte den Tag niedergeschlagen, mit der Idee, dass ich mich selbst einweisen würde, begonnen, aber jetzt fühlte ich mich wundersamerweise wieder klar. Ich hatte nicht nach einem gesucht, aber Max hatte sich als außergewöhnlich guter Akzeptanzersatz herausgestellt. Mit ihm rumzuhängen, hatte Spaß gemacht. Ganz unerwartet. Ich hatte das erste Mal seit Monaten die Möglichkeit gehabt, ich selbst zu sein, so zu sein, wie ich mich selbst mochte. Und ich erhoffte mir, ich würde diese Dynamik mit David aufrechterhalten können.
Die Luft war frisch und ich hatte die Schiebetüren zum Garten geöffnet. Ein Holzscheit knisterte im Kamin, Jazz durchflutete den Raum aus den Lautsprechern und ich dachte, ich würde vor Erleichterung explodieren. Vor gerade einmal vierundzwanzig Stunden hatte ich noch unter einem Baumkronendach gestanden, nur wenige Zentimeter von einem riesigen Fehler entfernt. Aber jetzt konnte ich mir nicht einmal mehr vorstellen, so etwas zu machen. Das Bedürfnis nach einem Ausflug zu Ginnys Haus – oder irgendeiner anderen destruktiven Handlung – war mir so fern wie ein Choral der Baptisten aus Louisiana, wie etwas, an das ich mich aus meiner Jugend noch entfernt erinnern konnte. Ich lehnte den Kopf gegen das Panoramafenster. Ein leichter Schimmer erhellte die Straße. Ich sah das Leuchten von Davids Scheinwerfern und kletterte von meinem Sitz runter. Ich schloss die Jalousien, flitzte zur Stereoanlage und schaltete sie aus, grff mir das zweite Weinglas und eilte zur Tür. Ich hatte geplant gehabt, ihn in der Einfahrt zu begrüßen, hatte ihm sein Glas Wein reichen wollen, sobald er aus dem Auto stieg, um ihn herzlich zu Hause willkommen zu heißen. Allerdings hatte ich in meiner Eile vergessen, mein eigenes Glas abzustellen, sodass ich jetzt keine freie Hand zum Öffnen der Tür hatte. Ich knickte an der Hüfte ein, um so irgendwie vielleicht den Türknauf mit meiner Schulter gedreht zu bekommen, bekam die Tür aber nicht geöffnet, bevor Davids Silhouette nicht schon durch das mattierte Glas der Haustür zu erkennen war. »Patric?«, fragte er durch die Tür. »Was zum Geier machst du da?« Ich kicherte und richtete mich wieder auf, als er die Tür aufstieß. »Ich wollte dich draußen begrüßen«, erklärte ich ihm. »Hatte nur leider keine Hände mehr frei dafür.« Er musste lachen und schloss die Tür hinter sich. Mit einem »Ah, das ist schön«, nahm er glücklich das Glas Wein in Empfang. »Warum bist du noch wach? Es ist doch schon fast Mitternacht.« Ich legte einen Arm über seinen Nacken und zog ihn für einen langen Kuss zu mir. »Ich weiß, aber ich dachte, vielleicht hast du Hunger.«
»Hmmm … Ich bin am Verhungern.« »Da wartet eine Hühnchenpastete auf dich im Ofen.« Er lächelte. »Das meinte ich nicht.« Stunden später lagen wir im Bett. David hörte mir geduldig zu, als ich ihm detailliert meinen gesamten Nachmittag herunterbetete. Er nickte, als ich ihm von meinem Ausflug ins Studio und von meiner schicksalhaften Begegnung mit dem neugierigen Musiker erzählte. »Also … seid ihr zwei jetzt so was wie Freunde?«, hakte er nach.
»So weit würde ich nicht gehen«, erwiderte ich lachend. »Aber er hat uns zu einer Show in der Bowl eingeladen.« Ich schüttelte den Kopf. »Ist das nicht geil?« »Na ja, ich bin jetzt nicht super erpicht darauf, dass du dich mitten am Nachmittag mit irgendeinem Typen betrinkst.« »Ach, jetzt entspann dich mal.« Ich stupste ihn an. »Außerdem war es ja gar nicht so.« »Aha, wie war es denn dann?« Ich bemühte mich um eine Erklärung. »Heute, während ich mit diesem Fremden abhing, konnte ich einfach ich selbst sein. Es war egal, wer er war. Er hätte auch ein redender Roboter sein können, wenn es nach mir gegangen wäre. Es war einfach nur schön, mit jemandem über meine Diagnose zu reden und das Wort ›Soziopathin‹ sagen zu können, ohne dass das gleich etwas Schlimmes ist.« »Das hast du ihm erzählt?«, fragte David erstaunt. »Warum?« »Weil das nun mal ich bin, Süßer. Das ist mein Leben. Und es hat Spaß gemacht! Deshalb hatte ich den ganzen Tag lang so unfassbar gute Laune. Es war … befreiend. Befreiend, akzeptiert zu werden.« »Ich akzeptiere dich«, sagte David leise. »Nicht immer«, erwiderte ich auf gleiche Weise. Er zog eine Augenbraue hoch. »Was für ein aufregendes Leben er führen muss«, sinnierte David vor sich hin, das Thema wechselnd. Ich schaute ihn entsetzt an. »Machst du Witze? Er macht nichts anderes als schreiben, aufnehmen, touren. Schreiben, aufnehmen, touren. Wo ist da die Normalität? Wo das Leben?« Ich schüttelte den Kopf. »Glaubst du wirklich, dass irgendwer davon, also von diesen Künstlern, auch nur ansatzweise eine normale Beziehung oder ein normales Leben führen kann? Denk doch mal darüber nach, wie kurzlebig deren Existenz sein muss. Es ist, als würden sie, sobald sie zum Künstler, ob nun erfolgreich oder erfolglos, geworden sind, sich nicht mehr mit dem Rest der Gesellschaft weiterentwickeln. Sie sind in einem Zustand schwebender Unbeständigkeit gefangen.« David lächelte. »Ich glaube, so habe ich das noch nie gesehen. Aber ich liebe es, wie du einfach alle, die du triffst, bis ins Mark analysierst.«
»Weil es mich fasziniert! Genau das mag ich so an der Uni. Ich wusste früher nichts von diesem ganzen Kram, von diesem Menschenkram. Vorher habe ich immer nur über die Soziopathie recherchiert, aber jetzt lerne ich etwas über alle Persönlichkeitstypen. Über all die verschiedenen Arten, wie Menschen mit ihren psychologischen Mängeln klarkommen. Und ich kriege einfach nicht genug davon.« Ich sah ihm in die Augen. »Menschen sind verdammt großartig, weißt du?« Er schenkte mir ein leichtes Grinsen und schob eine Haarsträhne aus meiner Stirn. »Ich bin stolz auf dich«, sagte er dann zu mir. »Wie du an dir selbst arbeitest, deinen Doktor machst … Das ist großartig.« Er hielt kurz inne. »Ich finde, du bist großartig.« Ich lächelte und widerstand dem schwachen Ziehen der Verpflichtung ihm gegenüber in meinem Hinterkopf, denn mir war durchaus bewusst, dass ich mich nicht gänzlich an unsere Abmachung hielt. Ich hatte ihm nichts von Ginny erzählt oder meinen Trips zu ihr oder davon, dass ich den Morgen mit der Recherche nach psychiatrischen Kliniken verbracht hatte. Ich wusste aber auch, dass das kein sicheres Terrain war, noch nicht zumindest. Und definitiv nicht in diesem Moment, wo alles so entspannt und wunderbar war.
»Wie sieht’s also mit morgen aus?«, fragte ich erwartungsvoll. »Kommst du erst nach Hause und wir gehen zusammen? Oder sollen wir uns direkt an der Bowl treffen?« Er schaute gequält drein. »Ach, Schatz«, sagte er dann. »Ich kann doch morgen Abend nicht. Da ist das Geschäftsessen, erinnerst du dich?« »Verdammt«, murmelte ich. »Das hatte ich vergessen.« Ich lehnte mich an ihn und seufzte. »Dann treffen wir uns einfach am Restaurant.« Ich spürte, wie er mit dem Kopf schüttelte. »Süße, nee«, sagte er. »Das ist eine verdammte Arbeitsveranstaltung mit den langweiligsten Menschen der Welt. Renn, so schnell du kannst.« Ich machte es mir an seinem Oberkörper gemütlich, gab mich der Erschöpfung hin. »Na ja, wenn du das so sagst«, erwiderte ich. »Sei einfach brav«, sagte er schläfrig.
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