Gesellschaft Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.
Gesellschaft
Der Badezimmerboden wirkte wie der sicherste Ort für mich. Hier sitzend fühlte ich mich weniger wie eine Doktorandin mit jahrelanger Erfahrung in der Psychologieforschung und in klinischen Belangen, sondern eher wie die Person, die ich gewesen war, als ich frisch nach LA gezogen war. Aus psychologischer Sicht fühlte es sich so an, als sei ich in der Zeit zurückgereist.
Aber ich bin nicht in der Zeit zurückgereist, erinnerte ich mich selbst daran. Ich atmete tief ein und versuchte, mich zu konzentrieren. Das ist einfach eine alte Reaktion auf ein altbekanntes Muster. Ich muss sie nur ändern.
Meine Beine taten beim Aufstehen vom kalten Fliesenboden weh. Ich drückte die Tür auf und schützte instinktiv die Augen vor der Sonne, die in riesigen grellen Strahlen in mein Schlafzimmer schien. Ich zog mir einen Morgenmantel über die Schultern, lief zu meinem Bücherregal und zog ein Werk heraus: Overcoming Destructive Beliefs, Feelings, and Behaviors: New Directions for Rational Emotive Behavior Therapy. Das hatten wir in meinem ersten klinischen Psychologiekurs durchgenommen. Die Rational-Emotive Verhaltenstherapie (REVT), die von Albert Ellis, einem Psychologen an der Columbia University, entwickelt worden war, war eine Behandlung, mit der Menschen geholfen werden sollte, ihre irrationalen und destruktiven Glaubenssätze, Gefühle und Verhaltensmuster zu erkennen, um sie dann neu zu strukturieren.
Der wichtigste Bestandteil der REVT war das ABC-Modell, bei dem das Individuum bei der Untersuchung verhaltenstechnischer Entscheidungen drei Aspekte identifizieren soll:
- einen Reiz (»activating event«; A),
- die Bewertung dieses Reizes, also einen Glaubenssatz (»belief system«; B), und
- die Konsequenz dieses Glaubenssatzes (»consequence«; C).
Ich hatte mir überlegt, das ABC-Modell auf mich selbst anzuwenden. Ganz offensichtlich war der eingeklemmte Stress, den ich am Morgen erlebt hatte, der »Reiz«. Die Überzeugung, dass ich nun etwas Schlechtes tun musste, um gegen die Angst anzukämpfen, war ein jahrzehntelanger »Glaubenssatz« im Zusammenhang mit diesem Reiz. Und die »Konsequenz« dieses Glaubenssatzes wäre dann das destruktive Verhalten, das ich an den Tag legte.
Ich war zwar ein Neuling bei therapeutischen Interventionen, aber dieses Modell wirkte wie eine nutzbare Lösung, um meine bösartigen Triebe zu identifizieren (und zu verhindern). Es lief alles auf Achtsamkeit hinaus. Meine destruktiven Methoden, die ich immer als »Rezept« gegen meine Apathie genutzt hatte, waren erstaunlich effektiv und ein eindrucksvoller Beweis für das Unterbewusstsein. Dieser Drang, etwas Schlimmes zu tun (was ich jetzt als das verstand, was es war: ein Gegengewicht zur Apathie), war das erste Mal in meiner Kindheit aufgekommen. Das war Jahrzehnte, bevor ich lernen sollte, was aus psychologischer Sicht hinter den Kulissen passierte. Ich hatte es intuitiv getan, ohne jegliches Bewusstsein.
Es sollte also einleuchten: Wenn ich diese psychologischen Prozesse aus der Dunkelheit in mein Bewusstsein ziehen konnte, wenn ich mich selbst achtsamer für die Interaktionen zwischen meiner Angstreaktion auf die Apathie und meinem Glaubenssatz, dass ich etwas Destruktives tun musste, um sie verschwinden zu lassen, werden lassen konnte, würde ich dann mein gesamtes Glaubenssystem verändern können? Könnte ich mein Verhalten ändern?
Ich ließ das Buch zuschnappen, als ein plötzlicher Ausbruch der Entschlossenheit alles in einen scharfen Fokus rückte. »Scheiß drauf«, sagte ich laut. »Wenn ich niemanden für meine Behandlung finden kann, dann muss ich selbst zu so jemandem werden und mich behandeln.«
Ein Monat später fing mein neues Semester an, nicht nur ein neues Kapitel in meiner akademischen Karriere, sondern auch der Beginn eines neuen Kalenderjahres. Im Vorlesungssaal, der dank fehlender Fenster eine idyllische Isolierung gegen den nieseligen Winter in Los Angeles darstellte, klopfte ich mit einem Bleistift auf den Tisch. Als Doktorandin im dritten Jahr war es inzwischen an der Zeit, ein Thema für meine Dissertation auszuwählen. Auch wenn ich schon lange davon ausgegangen war, dass sie sich um die Soziopathie drehen würde, so hatte ich mich noch nicht auf einen einzelnen Aspekt der Störung festgelegt, den ich erforschen würde. Zumindest nicht, bis ich tatsächlich begriff, was eigentlich schon immer offenkundig gewesen war.
Vor mir lagen meine Bewerbungsunterlagen für die Abschlussphase. Neben einer langen leeren Linie stand in dicken Lettern: DISSERTATIONSTHEMA. Ich nahm meinen Bleistift ordentlich zur Hand und schrieb:
SOZIOPATHIE: DER ZUSAMMENHANG ZUR ANGST UND IHR ANSPRECHEN AUF BEHANDLUNGSINTERVENTIONEN.
Ich lehnte mich im Sitz zurück und atmete aus.
Als ich ein paar Tage später in die Bibliothek ging, nahm ich all meine bereits gefundenen Rechercheergebnisse mit. Ich las mir viele der Artikel erneut durch, die ich im Laufe der Jahre meines eigenständigen Studiums der Materie gefunden hatte, entdeckte aber auch ein paar neue. Das gab mir Hoffnung. Dr. Ben Karpman – einer der ersten Ärzte, der zwischen primärer Psychopathie (also wirklicher Psychopathie) und sekundärer Psychopathie (also wirklicher Soziopathie) unterschied – argumentierte, dass das antisoziale Verhalten der Soziopathen oftmals ein Ergebnis von Stress sei. Karpman stellte die Theorie auf, dass sekundäre Psychopathen, auch wenn sie Symptome wie primäre Psychopathen an den Tag legten, nicht aufgrund ihrer Veranlagungen zu antisozialem Verhalten tendierten und daher auf Behandlungen reagieren könnten. Er glaubte fest an seine Erkenntnisse in Bezug auf die sekundäre Kategorie, weil er davon ausging, dass sie auf die größte Anzahl Personen, die meist der Gruppe der Psychopathie zugeordnet wurden, zutrafen.
Ich fand noch eine weitere Studie von Dr. Lykken, der Karpmans Ansicht der Soziopathie teilte und dessen Forschungsergebnisse darauf hindeuteten, dass es die destruktiven Eigenschaften der sekundären Soziopathen reduzieren könnte, wenn man die Angst behandelte. Er betonte die Wichtigkeit der Sozialisierung (der Prozess, anhand dessen die Grundwerte und Glaubenssysteme des Individuums mit denen der restlichen Gesellschaft übereingebracht werden) in der frühkindlichen Entwicklung.
Meine liebste Forscherin, Linda Mealey, brachte diese Theorie mithilfe ihrer Hypothese voran, dass Soziopathie das Produkt von biologischen und umfeldbedingten Druckerfahrungen sei, was die Betroffenen zu absichtlich manipulativen und rücksichtslosen Sozialinteraktionen verleite. Wie ich auch Dr. Carlin erklärt hatte, beschrieb Mealey Soziopathen als psychologisch Benachteiligte, die mithilfe von Mogeleien versuchten, das Beste aus ihrer Situation herauszuholen. Ihre Theorie stimmte am meisten mit meinen Erfahrungen überein.
Ich entschied auf Basis dieser Recherche, dass ich in meiner Dissertation die Behandlungspläne betrachten würde, die sich auf die Ängste fokussierten. Mit dem eingeklemmten Stress im Vordergrund meines Bewusstseins widerstand ich dem Drang, zu meinen alten »Rezepten« zurückzukehren, und strengte mich stattdessen doppelt bei der Arbeit an der Uni an. Ich strukturierte meinen Stundenplan um, damit ich möglichst viel unterbringen konnte. Ich schrieb mich für jeden Kurs ein, der noch reinpasste, von der Soziologie bis zur Psychopharmakologie. Und dann vergrub ich meine Nase in jedes Forschungsergebnis, das ich in die Finger kriegen konnte. Das war kein einfaches Unterfangen, denn der Tag hat nun mal nur eine bestimmte Anzahl an Stunden. Und ich hatte zudem noch andere Verantwortungsbereiche abzudecken.
Neben der Uni arbeitete ich weiterhin als Musikmanagerin. Es war unfassbar schwierig, diese zwei gegensätzlichen Bestrebungen unter einen Hut zu bekommen, denn beide erforderten eine große Menge Energie, aber verlangten nach völlig verschiedenen Fähigkeiten. Ich wusste, dass ich irgendwann an einen Kipppunkt kommen würde. Ich konnte nicht beides weitermachen, vor allem nicht, wenn mich meine akademische Karriere auf der einen und meine professionelle auf der anderen Seite in so unterschiedliche Richtungen zogen. Die Arbeit als Managerin ließ mich meine soziopathischen Eigenschaften mit Souveränität einsetzen. Auch wenn es nicht mein Ziel gewesen war, war ich, ironischerweise aufgrund meines Persönlichkeitstyps, hervorragend für den Job geeignet und hatte mir erfolgreich eine Nische in die Musikbranche gehauen. Als gute Talentmanagerin brauchte es eine gewisse moralische Flexibilität, die ich in Unmengen hatte. Die Unterhaltungsbranche bot mir ein relativ sicheres Umfeld, um meine soziopathischen Muskeln spielen zu lassen, und ich wollte sie deswegen nicht so schnell hinter mir lassen. Aber die Seite, die ich unbedingt nähren und wachsen lassen wollte – meine »gute Seite« –, wurde von so Sachen wie dem Graduiertenprogramm und meiner Beziehung zu David, die ich unbedingt retten wollte, gestärkt. Je mehr Zeit ich an der Universität verbrachte, desto mehr verstand ich, dass viele unserer Streitereien mit Aspekten meines Persönlichkeitstyps zusammenhingen, bei denen ich nicht wusste, wie ich sie ändern sollte.
Ich wollte ihm meine Forschungsergebnisse zeigen. Wenn ich ihn dazu bringen könnte, dass wir unsere Beziehung aus wissenschaftlicher statt emotionaler Sicht besprechen könnten, dann könnte ich ihn vielleicht zu der Einsicht bringen, dass all diese Punkte nichts mit mir persönlich zu tun hatten, und ihn vielleicht endlich davon abbringen, mich ändern zu wollen. Da wir aber beide rund um die Uhr arbeiteten, aßen wir kaum mehr gemeinsam zu Abend und hatten noch weniger Zeit für tiefe Gespräche über Soziopathie.
Und dann war da natürlich auch noch Max. Trotz meines vollgepackten Kursplans, meiner eigenständigen, intensiven Recherche, meinem Vollzeitjob und der Tatsache, dass ich mir ein Haus mit meinem Freund teilte (wie belastet die Beziehung auch sein mochte), war die Freundschaft zu dem Musiker nur noch inniger geworden. Die Stärke unserer platonischen Verbindung war nichts gewesen, womit ich gerechnet hatte, und ich genoss sie auch nicht immer. Tatsächlich frustrierte es mich, wie einfach mich Max in seine Umlaufbahn zog. Er war in seinen Ablenkungstechniken unverbesserlich und meisterhaft, tauchte oft unangekündigt nach Feierabend bei mir im Büro auf, obwohl er wusste, dass ich lernen wollte.
»Hör auf damit!«, sagte ich und schob seine Hand vom Bildschirm. »Ernsthaft. Ich brauche nur noch fünfzehn Minuten.« Ich war lange im Büro geblieben, um für eine Prüfung zu lernen, was ich in diesen Tagen häufig tat. Ich konnte mich zu Hause nicht konzentrieren, denn dort gab es immer etwas zum Putzen oder Kochen oder Spielen oder Aufräumen. Mein Büro hingegen war wie eine sensorische Deprivationskammer … oder war es zumindest, bis Max mit seinen Besuchen anfing. »Aber ich bin ab morgen weg«, jammerte er. »Du wirst mich monatelang nicht zu Gesicht bekommen.« Max und seine Band gingen zur Albumpromo durch mehrere Städte in Nord- und Südamerika sowie durch Teile Europas auf Tour. Mein Telefon klingelte und das Display zeigte die Nummer seines Managers an. »Was zur Hölle?«, fragte ich ihn. »Warum ruft Brian mich an?« Es war nicht ungewöhnlich, dass sich Max’ Managementteam bei mir meldete, wenn sie ihn mal wieder nicht finden konnten. Er zuckte mit den Schultern und ich warf ihm einen Blick resignierter Genervtheit zu, bevor ich widerwillig dranging. »Hallo?« »Hey Patric. Ich muss noch Reisedetails für die Tour finalisieren, erreiche meinen schwer zu fassenden Klienten aber nicht. Könntest du ihm netterweise ausrichten, er solle mich mal anrufen, falls du ihn siehst?« »Mache ich liebend gern.« Ich legte auf und starrte Max wütend an. »Antworte mal deinem Manager, damit er den Reisekram finalisieren kann«, befahl ich. »Warum zur Hölle nervt er mich überhaupt damit? Ich bin nicht für dich verantwortlich.« Max schnaufte und stand auf, um sich gegen meinen Schreibtisch zu lehnen. Er fing an, meine Sammlung dekorativer Stifte umzusortieren, was mich, wie er wusste, wahnsinnig machte. »Vielleicht hat er Angst, dass ich mir eine neue Managerin suche«, flüsterte er provokant. »Kein Interesse«, erwiderte ich scharf. Es war nicht das erste Mal, dass er so etwas erwähnte, und meine knappe Antwort – wie so vieles, wenn es Max betraf – vermittelte nicht die gesamte Geschichte. In Wahrheit verspürte ich keinerlei Verlangen, seine Managerin zu werden. So, wie es jetzt war, gab mir die Beziehung zu Max genau das, was ich wollte: soziale Narrenfreiheit. Seine Ablehnung jeglicher Grenzen und meine ethische Flexibilität erschufen zusammen den perfekten Sturm aus beflügeltem Chaos, das sowohl berauschend als auch explosiv war. Aber ich wusste auch, dass ich den Bogen nur bis zu einem bestimmten Grad spannen konnte, denn meine Liebe zu David bedeutete schon immer, dass meine Zeit mit Max irgendwann ihr Ende finden würde. Ich mochte es so. Es fühlte sich sicher an.
Eingegrenzt.
Ich schlug auf seine Hand, damit er aufhörte, mit meinen Stiften zu spielen. Er erwiderte die Geste mit ausgestreckten Armen. »Komm doch mit«, gurrte er verspielt. »Dann betrittst du … eine Welt der reinen Fantasie …« »Himmelherrgott«, murmelte ich in gespieltem Horror. Max verschränkte die Arme vor der Brust. »Komm schon«, sagte er ungeduldig. »Du kannst doch auch morgen noch lernen.« Ich klappte den Laptop zu. »Na gut«, sagte ich, sammelte meine Bücher zusammen und tat so, als sei ich entnervt. »Du hast gewonnen.« Ich atmete aus. »Was würdest du denn gern machen?«
Sein Gesichtsausdruck wandelte sich zu grenzenloser Freude. »Irgendwas«, erwiderte er. »Alles! Lass uns ein Abenteuer erleben. Uns steht die Welt offen. Streng doch mal dein soziopathisches Hirn ein wenig an.« »Na ja«, fing ich langsam an. »Wir könnten irgendwo richtig teuer essen gehen, auf deine Kosten.« »Oooooodeeer«, fuhr Max fort, meinen Vorschlag ignorierend. »Wir könnten auch in der Innenstadt schnell etwas essen und dann das Cecil erkunden gehen.« »Das Cecil« war ein berüchtigt-makabres Wahrzeichen in LA, ein verruchtes Hotel, das man vor allem mit den dort verübten Suiziden und Gewalttaten assoziierte. »Das ist bei dir das Ergebnis eines angestrengten soziopathischen Gehirns?«, erwiderte ich unbeeindruckt. »Vielleicht sollten wir auf dem Weg bei der Mall anhalten, da kannst du dir dann Kampfstiefel und ein Jack-Daniel’s-T-Shirt kaufen.« »Na gut, was wäre denn dein Vorschlag?« »Ich habe keinen!«, lachte ich. »Ich wollte eigentlich die ganze Nacht lernen, weißt du noch?« Mein Telefon klingelte und ich warf Max einen weiteren aggressiven Blick zu. »Hast du dich bei Brian gemeldet? Ernsthaft. Wenn er jetzt die ganze Nacht hier anruft, werde ich ihm sagen, dass er deine Provision aufteilen soll.« »Ist mir recht«, grummelte Max.
Ich sah Unbekannter Anrufer und seufzte auf. Das musste wieder Ginny sein. »Was ist los?«, fragte Max und reagierte auf die Veränderung meiner Laune. Ich schüttelte den Kopf in resignierter Abneigung. »Oliver Krusis Mutter.« »Das ist sie?«, fragte er nun jetzt neugierig. »Ja. Sie hatte sich eine Zeit lang zurückgezogen, vor Kurzem hat sie aber wieder damit angefangen. Egal.« Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare. »Ich sollte jetzt wohl doch mal zur Polizei gehen. Wie wär’s damit?«, fragte ich ihn mit erzwungenem Lächeln. »Bock auf einen Ausflug zum LAPD?« Er riss die Augen auf, als er überlegte, ob ich das ernst meinte. »Ich meine das bierernst«, erwiderte ich. Er grinste mit einem teuflischen Gesichtsausdruck. »Tatsächlich habe ich eine bessere Idee.« Ich parkte mein Auto auf dem Besucherparkplatz vor Ginnys Wohnsiedlung. Max saß auf dem Beifahrersitz, vor Aufregung ganz aus dem Häuschen. »Okay«, sagte ich jetzt mit ernstem Tonfall. »Das ist deine letzte Chance. Bist du dir sicher?« Er verdrehte die Augen, während er die Tür öffnete. Ohne auf mich zu warten, lief er über den Parkplatz. Ich stieg auch aus, blieb neben dem Auto stehen und legte die verschränkten Arme auf dem Autodach ab. Er hielt an, um nach mir zu schauen. »Kommst du?«
Ich lächelte sü sant. »Das kommt darauf an«, sagte ich. »Willst du zu Ginny oder wolltest du vorher noch woanders anhalten?« Ich zeigte auf die andere Seite des Parkplatzes. »Denn sie wohnt da drüben.« Max biss sich auf die Lippe, um ein Grinsen zu unterdrücken, während er zurückhuschte. Als wir ihren Garten erreicht hatten, ließ ich die Hand über die Außenmauer gleiten, während meine Schritte auf dem Kies knirschten. Es war eine Weile her, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Ich war mir nicht sicher gewesen, wie ich reagieren würde, wieder hier zu sein, aber jetzt, wo es so weit war, war ich erleichtert, dass es mich angenehm beschwingte. Dass Max hatte mitkommen dürfen, mischte dem sonst typischerweise toxischen Gang eine verspielte Energie bei. Und an der Rückseite ihres Grundstücks fiel mir auf, wie viel einfacher es mit einem Komplizen sein würde, über den Zaun zu kommen. Ich erklärte Max leise den Aufbau des Gartens. »Also hebe ich dich rüber«, flüsterte er. Ich drehte mich zum Zaun und gestikulierte einen kurzen Countdown bis drei. Max machte eine Räuberleiter, in die ich mit einem Fuß stieg. Er hob mich hoch, aber noch bevor ich hatte Schwung holen können, das Ganze wurde also eher zu einer halben Hebefigur, die uns beide aus dem Gleichgewicht brachte. Ich schaffte es gerade mal mit einem Fuß über die Latten des Zauns, während die andere Hälfte meines Körpers schlaff an der Rückseite herunterhing und Max mit Mühe und Not mein Gewicht von unten stützte.
Inmitten eines leisen hysterischen Anfalls flüsterte er noch: »Wie zur Hölle hast du es jemals geschafft, auch nur irgendwo einzubrechen? Du hast die Koordination einer Babygiraffe.« Ich atmete mehrmals langsam ein, wollte mein Lachen unterdrücken. »Halt die Fresse und schieb mich hoch!« Max tat wie geheißen, schob mich nach oben und über den Zaun. Ich landete mit einem leisen Plumps neben dem Baum und blickte schnell Richtung Terrasse. Ich schaute zu den Schiebetüren und stellte erleichtert fest, dass die Jalousien im Wohnzimmer oben waren und auch in ihrem Schlafzimmer. Wie immer brannten alle Lichter. Nachdem ich gecheckt hatte, ob die Luft rein war, gab ich Max Bescheid. Er hüpfte in einer einzigen fließenden Bewegung über den Zaun und grinste stolz. »Falls du dich das gefragt haben solltest: So macht man das«, stichelte er. »Übst du deine Dankesrede für den Grammy?« Ich lächelte voller Sarkasmus. »Und falls du dich gefragt haben solltest: Ich würde nicht dort stehen, wo dich alle sehen können.« Max senkte den Kopf und eilte unter den Baum zu mir, wo uns das Blätterdach verbarg. Er stand dicht hinter mir, wir starrten beide auf die Hinterseite des Hauses. »Und was jetzt?«, flüsterte er. »Jetzt warten wir.« Ein paar Minuten standen wir einfach dort im Dunkeln, immer wieder brachte eine Brise die Blätter zum Rascheln. Nach einigen Minuten der Fensterschau sah ich Ginny ins Wohnzimmer laufen.
Ich hörte Max aufkeuchen, als sie in den Lichtkegel trat und vollständig aus dem Garten zu sehen war. »Ist sie das?«, fragte Max. »Sie sieht so …« Er brach ab. »Erbärmlich aus?«, bot ich an. »Genau.« Es stimmte. Mir war vorher so noch nie aufgefallen, wie traurig Ginny wirkte, während sie durch ihr kleines Haus lief. Sie sah nicht aus wie eine Gegnerin, die giftige Rache … oder irgendetwas in der Art wirklich verdient hatte. Wir beobachteten sie, wie sie vor sich hin werkelte und dann ins Schlafzimmer ging. Dort durchwühlte sie offensichtlich ihre Schubladen. »Sie sucht nach Zigaretten«, flüsterte ich. Offensichtlich lag ich richtig, denn ein paar Augenblicke später lief sie wieder ins Wohnzimmer und in Richtung der Schiebetüren. Mit einer Packung Mentholzigaretten und einem Feuerzeug in der Hand betrat sie die Terrasse. Dank der nun fehlenden physikalischen Trennlinien durchfuhr mich eine Welle der Erwartung, was einen unerwarteten Schub an zusätzlicher psychologischer Erleichterung auslöste. Ich atmete aus, zufrieden. Das ist es, was ich will, dachte ich. Einen Behandlungsplan, der genau diese Gefühle in mir auslöst. Ich schaute zu Max rüber. Er war eindeutig unzufrieden. Seine Augen waren starr auf Ginny gerichtet, die Zähne fest zusammengebissen. Jeder seiner Muskeln war angespannt, aber ruhig. Ginny zog an ihrer Zigarette. Ich beobachtete den Rauch dabei, wie er neblige Kreise in der Luft erzeugte und musste an die Raupe aus Alice im Wunderland denken. Ich lehnte mich nach vorn, um ihm das zu sagen, aber er brachte mich mit einer erhobenen Hand zum Schweigen. Er starrte weiter in Richtung Haus.
Ginny streckte die Arme über den Kopf aus. Dann nahm sie ein paar Schritte in Richtung des Blumentopfs, den sie als Aschenbecher benutzte. Einen weiteren langen Zug von der Zigarette genießend drehte sie träge den Kopf in Richtung Baum. Ich hielt die Luft an. Das war normalerweise mein liebster Moment: Sie würde eigentlich genau mich anschauen, ohne zu ahnen, dass ich da war. Ich wappnete mich für den Gefühlsrausch, der normalerweise auf dieses Wahrnehmen der Unsichtbarkeit folgte. Nur, dass er dieses Mal nicht eintrat. Als sie ihre Blickrichtung geändert hatte, hatte sich Max geschickt zur Seite gelehnt und mir damit vollständig die Sichtlinie blockiert. Einen Augenblick lang war ich bewegungsunfähig; die Intensität seines Schattens gab mir sowohl das Gefühl des Schutzes als auch der Schutzlosigkeit. Er wollte mich schützen. Sein Instinkt, mich vor dem zu bewahren, was er als Risiko des Entdecktwerdens ansah, war unglaublich selbstlos. Es hätte in mir das Gefühl der Geborgenheit oder wenigstens der Dankbarkeit auslösen sollen, stattdessen machte es mich unruhig. Ein schleichendes Unbehagen überfiel mich, als ich versuchte, zu verstehen, was hier gerade passierte. Es erinnerte mich an seine Einladung nach New York. Ich war nervös und orientierungslos und kannte den Grund dafür nicht. Was zur Hölle?
Krampfhaft nach Gleichgewicht suchend atmete ich mehrmals tief ein und aus. Nach mehreren qualvollen Augenblicken war Ginny mit ihrem Zigarettenstummel durch und schmiss ihn in den Blumentopf. Sie lief zum Haus zurück, von wo wir dann das deutliche Klick der Schiebetüren hörten. Ich drehte mich zu Max und sagte: »Wir gehen.« Es war spät und wir befanden uns auf dem Parkplatz vor meinem Büro, wo er sein Auto hatte stehen lassen. Allerdings machte er keinerlei Anstalten, auszusteigen und zu gehen, nachdem ich eingeparkt hatte. »Das war unglaublich«, sagte er zu mir. »Ich habe mich noch nie so gefühlt. Selbst auf der Bühne nicht. Es fühlte sich an, als würde jeder Teil meines Körpers pulsieren.« Er schaute mich an und fragte: »Fühlst du dich immer so? Gehst du deswegen dorthin?« Ich seufzte. »So ähnlich.« »Also, ich verstehe das.« Er schaute mich erwartungsvoll an. »Was passiert also jetzt?« »Jetzt passiert eins: Ich gehe zur Polizei. Das hätte ich schon vor Monaten machen sollen … statt sie als Druckventil für meine Soziopathie zu benutzen.« »Was meinst du denn damit?« Ich atmete tief ein und erklärte ihm zum ersten Mal die Einzelheiten meines lebenslangen Kampfes. Er hörte aufmerksam zu, als ich ihm von meinem Ringen mit dem Druck erzählte und dass ich schon in jungen Jahren gelernt hatte, dass destruktive Handlungen die schnellste Erleichterung brachten. Ich berichtete ihm von meinen Besuchen in Ginnys Garten, aber dieses Mal auch von der Glückseligkeit, die sie mit sich brachten. »Genau das meine ich, wenn ich sage, dass es an der Zeit ist«, fuhr ich fort.
»Ich weiß, dass es das Richtige ist, sie anzuzeigen. Aber das ist auch das Problem. Ich weiß es immer. Ich fühle es nur nicht.« Ich lächelte schwach und richtete den Blick auf Max. Ich war mir sicher, er würde mir zustimmen. So war es immer gewesen. Meine Mutter, mein Vater, meine Therapeutin, mein Freund – alle, denen ich mich mit meiner dunklen Seite offenbart hatte, hatten immer das Gleiche gesagt – das Richtige gesagt. Aber er war nicht wie all die anderen. »Scheiß auf die Polizei«, sagte er kopfschüttelnd. »Was werden die schon machen?« Ich schaute ihn an, fassungslos. »Ich mein’s ernst«, fuhr er fort. »Die werden einen Scheißdreck machen. Wahrscheinlich wird sie einfach nur verwarnt, wenn überhaupt.« Er drehte sich zu mir, um mir direkt in die Augen zu sehen. »Das weißt du doch, oder?« »Aber …«, stammelte ich um Fassung ringend. »Hast du denn gar nicht zugehört? Es geht nicht um sie. Sondern um mich. Es ist einfach nicht sicher, wenn da irgendjemand draußen herumläuft, der als praktische Zielscheibe fungieren kann. Das ist, als würde ein Alkoholiker eine Pulle ›für den Fall der Fälle‹ zu Hause stehen haben. Ich will meine Triebe verstehen, statt nur auf sie zu reagieren. Und daran habe ich die letzten Monate gearbeitet.« Ich hielt einen Augenblick inne und spielte mit den Haargummis, die um meinen Schaltknüppel gewickelt waren. »Aber jetzt, ich weiß auch nicht«, sagte ich. »Ich muss mich endlich mal mit der beschissenen Situation beschäftigen, das steht schon mal fest. Ich muss mich mit Ginny beschäftigen.« Max dachte einen Augenblick lang nach, starrte durch die Windschutzscheibe. »Dem stimme ich zu«, sagte er irgendwann. »Ich glaube, du solltest dich wirklich mit ihr beschäftigen. Aber nach deinen Bedingungen.« Dann fügte er noch hinzu: »Und ich werde dir helfen.« Ich stöhnte auf, voller Wut auf mich selbst. »Es war dumm von mir, dich dorthin mitzunehmen.« »Warum?«, entgegnete er aufmüpfig. »Weil ich sie jetzt gesehen habe? Weil ich es jetzt verstanden habe?« »Was genau verstanden?«, giftete ich ihn an. »Wie es sich anfühlt, wenn man Menschen förmlich stalken und jagen muss? Ich habe sie beim letzten Mal fast angegriffen. Hast du das schon wieder vergessen?« Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Diese Arschlochtusse hat Glück gehabt.« »Diese Arschlochtusse hat es verdient!«, erwiderte er. »Sie hat es nicht anders verdient!« »Sie haben es alle verdient«, erklärte ich frustriert. »Siehst du das denn nicht? Ich bin doch nicht dumm. Ich wähle so Leute wie sie aus, weil sie es verdient haben, weil sie Sachen machen, mit denen ich mein eigenes Verhalten rechtfertigen kann. Aber das ist nicht gut«, sagte ich zu ihm. »Keine Schuld zu spüren, meine fehlenden Gefühle … nichts von diesem ganzen Scheiß ist in irgendeiner Weise gut.«
»Da hast du unrecht«, beharrte Max. »Diese Sachen, von denen du hier redest, sind Kräfte, Patric. Fähigkeiten. Du solltest nicht versuchen, deinen Persönlichkeitstyp abzuschwächen, sondern ihn zu schärfen.« Das war genau das Gegenteil von dem, was David sagen würde. »Verbesser’ mich, wenn ich falschliege«, fuhr er fort, »aber sie hat doch damit angefangen. Und sie hält es am Laufen, nicht du.« Er hielt inne. »Verdammt, selbst ich will diese Schlampe umbringen.« Ich ließ den Kopf gegen die Rückenlehne sinken und schaute an die Wagendecke. »Ich will sie nicht umbringen.« »Das weiß ich«, erwiderte er. »Aber selbst wenn du es wolltest, würde dich das nicht zu jemand ›Schlechtem‹ machen.« Er hielt wieder inne.
»Ich beneide dich. Weißt du, was ich dafür geben würde, wenn mich die Meinung anderer nicht mehr interessieren würde? Wenn ich auch nur einen Tag ohne diesen Drang nach Anerkennung leben könnte? Ich glaube, die meisten wären gern so.« »Weil du nur eine Seite der Medaille siehst«, sagte ich. »Du kennst nicht die ganze Geschichte.« »Aber du schon?«, fragte er zurück. »Du hast dein ganzes Leben lang versucht, deine Persönlichkeit zu unterdrücken. Das ist so, als würde man sagen, man wüsste, wie sich die Fahrt eines Ferrari anfühlte, ohne ihn jemals aus der Garage geholt zu haben.« Er schaute mir in die Augen. »Ich sage dir, Patric, du musst diesen ganzen Scheiß mal für dich annehmen, weil er wirklich verdammt noch mal großartig ist. Wenn ich du wäre, würde ich ihn lieben. Ich zumindest liebe ihn.« Ich brach den Blickkontakt ab und schaute auf die leere Straße draußen, wusste nicht, was ich erwidern sollte. Max legte den Kopf schief. »Nur damit eins klar ist: Ich sage damit nicht, dass ich in dich verliebt bin.« »Aha, wirklich?«, ich lachte leise. »Denn, wenn ich sie umbringen würde, wärst du definitiv ein Komplize. Du wärst ein Leben lang an mich gebunden, ob du mich nun liebst oder nicht.« Er lächelte. »Ich kann mir Schlimmeres vorstellen. Aber wie du schon gesagt hast, willst du sie ja nicht umbringen. Und deswegen sage ich: Du hast Möglichkeiten jenseits des Gangs zur Polizei.« Er fing sich und verbesserte sich: »Wir haben Möglichkeiten.« Ich schaute von oben auf ihn hinab. »Wir?« »Aber so was von«, sagte er. »Ich hänge jetzt mit drin.« Er hielt inne. »Du hast ihre Anrufe aufgenommen, oder?« Ich konnte förmlich sehen, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten. »Wir könnten sie spätabends anrufen und sie ihr am Telefon vorspielen. Wir könnten sie zurückerpressen … und das nur erstmal so zum Warmlaufen.« Ich grinste unwillkürlich und sagte zu ihm: »Du musst nach Hause.« »Gib’s zu«, sagte er mit verschwörerischem Lächeln. »Es macht schon Spaß, so mit einem Komplizen zusammen.« Ich schaute ihn an und schwebte einen Moment lang über der Oberfläche des Great Blue Hole, meine Finger berührten seicht das Wasser und ich köderte die Monster raus zum Spielen. Ich lächelte leicht. »Geh jetzt«, sagte ich erneut, dieses Mal entschlossener.
Er nickte und atmete lautstark durch die Nase ein. »Du schreibst mir besser, während ich weg bin«, sagte er. Dann ging er ohne ein weiteres Wort.
Impressum