Killer Queen Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.
Killer Queen
David zog noch an diesem Wochenende aus. Ich hasste es, ihm beim Packen zuzuschauen. Ich wusste, ich sollte bestürzt sein. Und ich war bestürzt. Ich konnte es nur einfach nicht fühlen. Es war, als würde ich auf etwas kauen, das ich nicht schmecken konnte, was mich nur noch mehr frustrierte. »Bist du dir sicher, dass es das ist, was du willst?«, fragte er, nachdem er seine letzten Sachen im Auto verstaut hatte. »Nein.«
Er sah niedergeschmettert drein. Es erinnerte mich an unsere erste Trennung, damals als Teenager. »Ich liebe dich, Patric«, sagte er. Er legte seine Hände auf meine Hüften und drückte seine Stirn an meine, und einen Augenblick lang dachte ich, ich würde vielleicht weinen. Tat ich aber nicht. Das Gefühl tauchte auf und verschwand schon wieder, bevor ich es wirklich erleben konnte, wie schon zig Male zuvor. Irgendwann stieg David in sein Auto und fuhr davon.
Während ich da stand, ihn wegfahren sah, wusste ich, dass die Zeit gekommen war. Wenn jemals etwas in mir ein Gefühl auslösen sollte, dann wohl Davids Abschied. Jetzt oder nie. Ich stellte mich breitbeinig hin und bemühte mich, in Tränen auszubrechen. Ich stand zwanzig Minuten lang in der Einfahrt, bevor ich doch aufgab. Da wartete keine Emotion auf ihre Chance, endlich an die Oberfläche zu kommen. Ich fühlte mich wie immer. Ambivalent. Ich drehte mich um und ging zurück ins Haus. Ich schloss die Tür hinter mir und hieß die Stille meines jetzt leeren Zuhauses willkommen. Sie war schwer, wie eine Gewichtsdecke, und ich war müde. Ich setzte mich aufs Sofa und starrte den Boden an, bis sich meine Lider entspannten.
Ich musste an die Plakate denken, die man früher im Einkaufszentrum kriegen konnte, »Das magische Auge«. Gott, wie mich diese Plakate irritiert hatten. Wie sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte meinen Blick nicht so anpassen, um den Tiger oder die Rose zu sehen. Immer und immer wieder sah ich nichts außer bedeutungslose Formenmosaike. Jetzt passierte das Gegenteil. Während ich den Holzboden ohne Muster anstarrte, fühlte ich mich von meinen Gedanken abgelöst. Ich ließ sie vor sich hin treiben, während sich mein inneres und äußeres Klima wieder einander anpassten. Statt mit mir selbst genervt zu sein, weil ich etwas Verstecktes nicht sehen konnte, akzeptierte ich vielmehr, dass es schlicht nichts zu sehen gab. Wer bist du, Patric?, fragte sich mein abgekoppelter Geist. Ich wusste es immer noch nicht mit Sicherheit. Aber ich war mir wiederum sicher, dass ich jetzt nicht mehr bei anderen nach der Antwort suchen würde. Sei es die Sehnsucht nach Gleichgesinnten oder Beziehungen mit guten Menschen, die ich als Haltestricke zu einer »normalen« Existenz nutzen konnte, oder seien es Ersatzmenschen, die für meine Selbstakzeptanz förderlich waren – irgendwie war ich naiverweise immer davon ausgegangen, dass mein »Soziopfad zur Erleuchtung« eine Reise sein würde, die ich nicht allein unternehmen musste. Aber jetzt, wo ich allein war, wurde mir bewusst, was ich schon vor langer Zeit hätte erkennen müssen. »Es ist mir egal.«
Es war mir egal, dass es niemanden wie mich in meinem Leben gab. Es war mir egal, dass ich allein war. Während alle anderen ihr Leben lang versuchten, Soziopathen zu meiden, hatte ich immer gehofft, dass ich irgendwann einen treffen würde. Während die anderen Kinder in der Schule Sport machten, brach ich in Häuser ein. Während andere Mädchen Mutter-Vater-Kind spielten und davon träumten, irgendwann »diese magischen drei Wörter« zu hören, reiste ich auf anderen Pfaden durch die Welt. Auch ich wollte »magische Wörter« hören, aber es waren vier, und sie lauteten anders. »Es ist mir egal!«
Ich befand mich einen Monat später in der Universitätsverwaltung und besprach die Dissertationsvoraussetzungen mit meinem Betreuer. Mir war vor ein paar Tagen eine »klinische« Voraussetzung in meinen Graduiertenunterlagen aufgefallen und ich hatte im Büro zwecks einiger Nachfragen angerufen. Dr. Robert Hernandez, der Leiter meines Fachbereichs, hatte mir erklärt, dass ich – zusätzlich zu meinen Kursen und meiner Doktorarbeit – fünfhundert Stunden als Praktikantin absitzen musste, um meine Dissertation abschließen zu können. In anderen Worten: Ich musste eine unbezahlte fünfhundertstündige »Ausbildung« als Therapeutin durchlaufen. Das machte mich nicht gerade glücklich. »Na, kommen Sie schon, Patric«, beschwatzte er mich. Dr. Hernandez war ein entspannter Klinikarzt mit trockenem Humor. Er hatte meinen Psychoanalysekurs abgehalten und wir waren immer gut miteinander ausgekommen. »Sehen Sie es als spannende Lernerfahrung.« »Nur dass ich nicht lernen will«, sagte ich und verschränkte die Arme. »Ich würde mir lieber die Pulsadern aufschneiden, als einem Haufen Menschen aus der Nachbarschaft um Beverly Hills herum beim Jammern über ihre Luxusprobleme zuzuhören. Ohne Witz. Ich blute gleich hier einfach aus.« Der Doktor kämpfte gegen das Lachen an. »Machen Sie das doch bitte im Flur, denn ich kann hieran wirklich gar nichts ändern. Es ist Vorschrift. Sie können die Stunden in jeder anerkannten Praxis Ihrer Wahl erledigen. Aber wenn ich Sie wäre, würde ich einfach hier die Straße runtergehen.«
Ich schaute ihn ausdruckslos an. »Das Beratungszentrum«, erklärte er, als würde ich es nicht verstehen. »Ich weiß, was ›die Straße runter‹ bedeutet«, erwiderte ich, bevor ich meine Taktik änderte. »Es tut mir leid, aber haben Sie es vielleicht vergessen? Ich bin eine diagnostizierte Soziopathin«, erklärte ich dann. »Ihr solltet eigentlich nicht Menschen wie mich als Therapeuten oder Therapeutinnen arbeiten lassen … zumindest nicht für die normalen Menschen unter uns.« »Warum nicht?«, fragte er zurück. »Sie haben es schon dutzendmal gesagt: Sie möchten doch Menschen helfen, oder?« »Ich möchte Soziopathen helfen«, spezifizierte ich. »Am besten aus der Ferne.« »Sehen Sie es mal positiv. Es ist immer schon die halbe Miete, wenn man den Auszubildenden helfen kann, ihre eigenen emotionalen Bindungen in mentale Schubladen zu sortieren«, fuhr er fort und hatte eindeutig seine Freude an dem Gespräch. »Sie aber haben keine, da müssen wir also nicht mal das machen!«
»Es freut mich, dass Sie sich so gut unterhalten fühlen von dem Ganzen«, sagte ich zu ihm, während ich meine Tasche unter dem Stuhl hervorzog. »Nur mal so fürs Protokoll: Ich übernehme keinerlei Haftung für die ganze Sache. Was auch immer passiert, ist Ihre Schuld.« Ich drehte mich um und lief zur Tür. Später rief ich David an, um mich zu beschweren. Wir hatten seit der Trennung wieder viel miteinander gesprochen – mehr als die letzten Jahre. Unsere räumliche Trennung, wenn auch schmerzhaft zu Beginn, hatte zu einer tieferen Art der Verbindung geführt. So komisch das auch war, so hatte ich doch das Gefühl, als lernten wir uns das erste Mal in unserem Leben so richtig gegenseitig kennen. Sein Auszug hatte uns beide irgendwie befreit. Weil wir nun getrennt waren, musste er sich nicht mehr für meine Handlungen verantwortlich fühlen. Daher konnte er jetzt mit mir als die Person reden, die ich war, statt mit der Person, die er gern in mir gesehen hätte. Und im Gegenzug wollte ich ihm, nachdem ich jahrelang Aspekte von mir vor ihm versteckt hatte, wieder alles erzählen. Das war schön.
»Das ist gewissenloses psychologisches Handeln!«, sagte ich, während ich mir etwas Bourbon einschenkte. »Er weiß, dass ich eine Soziopathin bin, aber es ist ihm egal! Er will mich einfach so auf unwissende Opfer loslassen.« »Ich glaube, dass es gut für dich sein wird«, sagte David. »Na ja, alles ist besser als die verdammte Musikbranche.« »Nur dass eine Therapeutin im Idealfall ein Interesse an den Leben ihrer Patienten und Patientinnen haben sollte, meinst du nicht?« »Ach, jetzt komm schon. Du interessierst dich mehr für das Leben der anderen als alle, die ich sonst kenne. Captain Apathy, so ein Quatsch.« Ich musste lachen. »Es macht Spaß, mit dir zu reden«, sagte ich zu ihm und meinte es auch so. Wieder stundenlang mit David zu telefonieren, fühlte sich an, als würde ich mich mit jemandem frisch anfreunden. Ich überlegte inzwischen, ob es ein Fehler gewesen war, dass wir so schnell nach seiner Ankunft in LA zusammengezogen waren. Zu sehr auf die Bindung aus unserer Kindheit vertrauend, hatten wir die Gelegenheit verpasst, als Erwachsene eine neue zu knüpfen. Ich fragte David, ob er das auch so sah. »Du hast wahrscheinlich recht«, erwiderte er. »Ich wünschte, wir könnten einfach noch mal von vorn beginnen, weißt du? Bei null. Ich wünschte, wir könnten uns halt einfach in einer Bar begegnen.« Ich lächelte. »Wie so zum ersten Mal?« »Ja«, erwiderte er. »Ich schwöre, wenn ich dich da einen Martini trinken sähe,« – ich hörte ihn tief einatmen – »dann würde ich zu dir rüberlaufen und sagen: ›Hey, ich heiße David. Ich bin ITler und Krebs.‹« »Genau. Und ich würde antworten: ›Ich heiße Patric. Ich arbeite in der Musikbranche und bin eine Soziopathin.‹« Er lachte. »Also sehe ich das richtig, dass du es Everly noch nicht gesagt hast?« Ich seufzte. »Nein.«
Aber es war an der Zeit. Nach fast einem Jahr mit wöchentlichen Auftritten im Roxy näherte sich Everlys Engagement dort seinem Ende zu. Das war zwar deprimierend, aber nicht überraschend. Musik war für die meisten dort eher eine Art Hobby, etwas, das sie in den Pausen von ihren eigentlichen Berufen machten. Bei Everly aber war das anders. Sie war einmalig und brauchte ein Management, das dies auch widerspiegelte, das ihr Talent zur Schau stellte und ihr bei dem helfen würde, was sie gleich zu Anfang hätte tun sollen: die Band hinter sich lassen und solo durchstarten. Es war an der Zeit, mir einzugestehen, dass ich nicht dieses Management war. In Wahrheit wollte ich auch nicht mehr länger Managerin sein, nicht für meine beste Freundin, nicht für irgendwen. Nach einer jahrelangen Grätsche hatte ich mich entschlossen zu kündigen. Leider wusste ich noch nicht, wie ich das Everly beibringen sollte. David hatte recht. Die Musikbranche, lukrativ und sensationell, war kein gesundes Umfeld für jemanden wie mich. Von den feuchtfröhlichen Mittagessen bis zur kreativen Buchhaltung – die Unterhaltungsindustrie war immer irgendwie gesetzlos. Es ließ sich nicht vorhersehen, wo ich, völlig ungehindert, enden oder welche ungesunden Rezepte ich finden würde.
Die Psychologie hingegen war bedeutungsvoll. Die Wissenschaft der Soziopathie war wichtig, nicht nur für mich, sondern für alle wie mich. Aus karmischer Sicht war es eher ein positives als ein negatives Netto. Und je mehr Zeit ich im Beratungszentrum verbrachte, desto offensichtlicher wurde das. Das Aloe Center bot Menschen, die entweder ohne Krankenversicherung unterwegs waren oder sich teure Einzelsitzungen nicht aus eigener Tasche leisten konnten, psychologische Dienstleistungen an. In vielen Fällen waren die Sitzungen kostenlos. Die Patientenlandschaft war dementsprechend abwechslungsreich, sowohl in Bezug auf die Demografie als auch auf die Psychologie. Bei uns klopften alle an, vom verarmten Veteranen, der mit einer PTBS zu kämpfen hatte, bis hin zu wohlhabenden Opfern häuslicher Gewalt, die nicht in der Nähe ihrer Beverly-Hills-Adressen bei der Therapie gesehen werden wollten. Die Studierenden wurden letztlich ins kalte Wasser geworfen, in einen Crashkurs der Behandlung so ziemlich aller erdenklichen Probleme.
Nach nur wenigen Ausbildungswochen bildete sich für mich langsam ein Muster heraus. Als neueste Praktikantin war ich das unterste Glied der Patientenverteilungsnahrungskette, was bedeutete, dass ich oft die Patienten zugewiesen bekam, die niemand wollte. Zu diesen gehörten auch Menschen, die das Label der »exzessiven Komorbiditäten« aufgedrückt bekommen hatten, die also mehrere sich überlappende Symptome an den Tag legten, was die Diagnose erschwert. Diese Patienten passten nicht schön in eine diagnostische Schublade. Das Schema im Beratungszentrum war ziemlich geradlinig: einschätzen, diagnostizieren, behandeln, und alles wieder von vorn. Die Patienten, deren Symptome nicht zu einer eindeutigen und bestimmten Diagnose passten, wurden zu mir durchgereicht. Mir fielen auf Anhieb Persönlichkeitseigenschaften auf, die mir bekannt vorkamen. Auch wenn sie sich am Anfang nicht trauten, offen zu reden, so gaben doch viele irgendwann zu, dass sie sich manchmal »emotional leer« und zu »schlechten Sachen« hingezogen fühlten. Sie sprachen von deviantem Verhalten und einer dezidierten Unfähigkeit, Schuld zu verspüren. Diese Patienten erzählten von gewaltvollen Aktionen und mangelnder Impulskontrolle. Sie gaben zu, dass sie andere täuschten, um nicht aufzufallen. Sie erzählten mir eine Geschichte nach der anderen, in denen sie ihre emotionale Dumpfheit mit Schmerzen oder destruktiven Aktionen zu unterdrücken versuchten. Sie sprachen von dunklen Geheimnissen und zwanghaften Handlungen. Auch wenn mir einige mehrere Verbrechen gestanden, hatte doch keiner von ihnen Vorstrafen. Manche waren verheiratet und hatten Kinder. Die meisten hatten Hochschulabschlüsse. Und alle lebten die Lüge. Diese Patienten legten viele der gleichen Eigenschaften der Checkliste Cleckleys an den Tag wie ich. Sie hatten mit fehlender Reue zu kämpfen. Sie fühlten sich von ihren Gefühlen abgekoppelt. Sie fanden ihre Ruhe im Chaos, Freude in der Konfrontation. Und trotz ihrer jeweiligen Finsternis beschrieben diese Patienten intensive Gefühle der Liebe und Zuneigung. Sie verstanden das Konzept der Empathie und konnten Mitleid ausdrücken. Sie konnten offen mit mir über ihr Verlangen reden, sich selbst besser zu verstehen und den Kreislauf der negativen Verhaltensweisen zu durchbrechen. Sie zeigten sich freundlich und kooperativ. Sie waren nett. Sie spendeten für Wohltätigkeitszwecke. Sie waren gewissenhaft. Sie waren selbstkritisch. Und sie hatten Angst. Die meisten dieser Patienten kannten das Wort »Soziopath«. Auch sie hatten sich in den popkulturellen Darstellungen dieses Begriffs wiedererkannt und hatten Angst davor, was sie dort sahen. Sie hatten Angst, dass sie Monster waren. Sie machten sich Sorgen, dass ihnen die Zeit davonlief. Viele hatten schon mehrere Therapeuten ausprobiert, nur um mit dem Gefühl der Hilflosigkeit und Einsamkeit wieder zu gehen, so wie ich früher. Auch sie kämpften mit den gefährlichen Zwängen, die sich immer schlechter kontrollieren ließen. Diese Menschen brauchten jemanden, der ihnen gegenüber Empathie zeigen konnte, der bewertungsfrei zuhören konnte. Sie brauchten Hilfe. Sie brauchten Hoffnung. Sie brauchten einen Fürsprecher. Sie bekamen mich.
»Patric«, die Rezeptionistin schwirrte in mein Büro. »Dein Vier-Uhr-Termin hat gerade abgesagt.« Ich saß auf meinem Stuhl und starrte an die Decke. Mein »Vier-Uhr-Termin« war Teri. Sie war die erste meiner Patienten gewesen, die ihre sogenannten »Mächte des Bösen« beschrieben hatte. Sie war wohlhabend und intelligent, aber hatte mit Apathie und gewaltsamen Fantasien zu kämpfen. Sie hatte das Beratungszentrum aufgesucht, nachdem ihr ein Anstieg ihres destruktiven Verhaltens aufgefallen war. Ihr vorwiegendes Ziel waren Verkehrsaufseher und Politessen. Diese öffentlichen Bediensteten waren das perfekte Ventil für ihre Wut. Für winzige Verstöße – die sie immer auch begangen hatte – ein Knöllchen zu bekommen, brachte sie zur Weißglut. Sie verbrachte dann Stunden mit ihrer Obsession mit den Bediensteten, ob nun weiblich oder männlich, stalkte sie auf ihren Runden und folgte ihnen nach Hause. Als Teri fast einmal dabei erwischt wurde, wie sie einen Backstein auf den Wagen eines ihrer »Widersacher« geworfen hatte, entschied sie, sich Hilfe zu suchen. Mir war sie rein durch Zufall zugeteilt worden. Ich schaute auf die Uhr und seufzte. Es war ganz untypisch für sie, eine Sitzung zu verpassen. Ich rief sie an. »Warum haben Sie abgesagt?«, fragte ich, als sie dran ging. »Ich habe verschlafen«, erwiderte sie, obwohl sie hellwach klang. »Tut mir leid. Ich kam vom Fitnessstudio wieder und bin auf dem Sofa eingepennt.« »Sie sind also zu Hause?« »Japp.« »Dann schicken Sie mir ein Foto Ihres Wohnzimmers.« Diese Aufforderung war hochgradig unorthodox. Als Therapeutin war es mein Job, in den Sitzungen zu beobachten und einzuschätzen. Es war unangemessen, eine Patientin nach einem Beweis für ihren Standort zu fragen, erst recht für eine unerfahrene Therapeutin. Mein Vorgesetzter wäre verärgert darüber gewesen, wenn er das wüsste, tat er aber nicht. Und mir war es egal. »Teri?«, fragte ich, als sie nichts erwidert hatte. »Wollen Sie mir vielleicht verraten, wo Sie wirklich sind?« »Nein«, antwortete sie daraufhin. »Aber ich gehe jetzt.« »Sehr gut. Wir können uns unterhalten, während Sie fahren.« Eine Stunde später legte ich auf und lehnte mich im Stuhl zurück. Liebe Verkehrsaufseher, schlaft gut heute Nacht, dachte ich zufrieden. Die spätnachmittägliche Sonne warf lange Schatten in mein Büro und ich seufzte glücklich. Teri war mein letzter Termin gewesen und ich war froh über den Feierabend.
Was würde wohl passieren, wenn ich mal eine Nacht hierbleiben würde? Der Gedanke war verführerisch. Ist nicht gerade eine Suite im Ambassador, dachte ich grinsend. Es könnte aber interessant werden. Mein Handy vibrierte und ich sah eine Nachricht von Max. Klopf, klopf. Er war seit einigen Wochen wieder zurück in LA, auch wenn es sich kaum so angefühlt hatte, als seien wir räumlich getrennt gewesen. Tatsächlich hatten wir fast durchgängig miteinander geschrieben, seit er aufgebrochen war. Das war eine Kommunikationsform, die mir gleichzeitig befreiend und eingegrenzt vorkam. Wir hatten stundenlang Nachrichten miteinander ausgetauscht, über alles – von meinen Versuchen, andere Menschen zu therapieren, bis hin zu seinen diversen Angebeteten. Das war die Art lockere Bindung, die ich so mochte. Ich mochte den Umgang mit jemandem, der mich nicht verändern oder heiraten oder über »unsere Zukunft« oder über etwas Komplizierteres als die nächste Akkordfolge nachdenken wollte. Jedoch hatte sich seit seiner Rückkehr in die Stadt die Dynamik zwischen uns verschoben. Wir hingen jetzt mehr ab, aber ich war mir noch nicht sicher, wie ich das fand. Vor der Trennung von David wusste ich genau, wie Max in mein Leben passte, wie hoch die Dosierung bei diesem Rezept sein musste. Ich hatte einen Freund, und der hieß nicht Max. Aber jetzt lagen die Dinge anders. Unsere Beziehung war schwierig zu definieren, die Grenzen waren ungenau geworden, vielleicht waren sie es aber auch schon immer gewesen. Wieder einmal wusste ich es nicht. Meine Bürotür öffnete sich einen Spaltbreit und Max steckte seinen Kopf durch. »Klopf, klopf«, sagte er. »Herrgott!«, rief ich aus. Man musste durch mehrere verschlossene Türen durch, um zu den Büros der Therapeuten zu gelangen. »Wie hast du es denn nach hier hinten geschafft?« »Das Mädel vorn am Eingang hat mich reingelassen.« Er setzte sich auf das Sofa vor mir. »Na, das überrascht mich nicht«, erwiderte ich trocken. »Was geht also ab?«, fragte er. »Wo gehen wir hin?« Wir waren für ein Feierabendgetränk verabredet, aber ich fühlte mich gerade nicht mehr nach Alkohol. Ich rümpfte die Nase. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Irgendwie fühle ich mich so gar nicht nach Bar.«
»Also fahren wir zu mir«, antwortete er, etwas zu schnell. »Das ist sogar perfekt. Ich hab da einen Song, den ich dir im Musikzimmer vorspielen will.« Max’ »Musikzimmer« war eine fensterlose Höhle, ein Ad-hoc-Studio mit einer beeindruckenden Sammlung von Instrumenten und Devotionalien. Es war unmöglich, das Musikzimmer zu betreten und nicht sofort jegliches Zeitgefühl zu verlieren, eine Tatsache, die er oft genug
für sich zu nutzen wusste. »Geiseltheater«, sagte ich grinsend. So beschrieb ich oft die gefangenenähnliche Erfahrung, wenn ich mir neue Musik anhören musste. Das war für mich immer der unliebsamste Teil des Jobs als Managerin gewesen. »Leck mich am Arsch!«, erwiderte er lachend. »Ohne Witz, ihr Künstler seid alle gleich«, maulte ich. »Es ist egal, ob ihr eine Single oder zehn Millionen verkauft habt. Sobald ein Musiker einem etwas vorspielen will, ist das wie mit vorgehaltener Waffe. Aber zum Glück muss ich das nicht länger mitmachen. Ich bin keine Managerin mehr, oder schon wieder vergessen?« Max hatte im Gegensatz zu David vehement Einspruch gegen meine Kündigungsentscheidung eingelegt. »Stimmt nicht«, erinnerte er mich. »Ist die letzte Show deiner Freundin nicht morgen Abend?« Ich nickte widerwillig. Everlys letzter Auftritt im Roxy würde ganz offiziell das Ende ihrer Zeit in der Band bedeuten. Das war ein bittersüßer Gedanke, denn auch wenn ich mehr als bereit war, die Branche endlich für immer hinter mir zu lassen, so wusste ich noch nicht wirklich, wie Everly sich damit fühlen würde. »Ja«, erwiderte ich. »Also bist du eigentlich doch noch Musikmanagerin. Nicht, dass das irgendeinen Unterschied machen würde. Mich interessiert ja nicht deine professionelle Meinung.« Er grinste triumphierend und stand vom Sofa auf. »Also komm schon, du kannst mir einfach folgen.«
Ich schaute aus dem Fenster und mein Blick fiel auf die Berge, die die Nordseite von Beverly Hills umrahmten. Ich hatte eine Idee. »Weißt du was, du kannst eher mir folgen.« Ich saß auf der Klavierbank im kleinen Cottage in der Nähe des Mulholland Drive und betrachtete durch das Loch im Dach den Abendsonnenhimmel. Ein Schild im Vorgarten verkündete nun offiziell den Verkauf. Ich hörte Schritte von oben und sah Max die Treppen herunterspringen. »Das hier ist echt wild«, sagte er. »Warst du schon mal oben?« Max wartete nicht auf eine Antwort, sondern setzte sich unbehaglich nah zu mir auf die Bank. »Du stellst ja hoffentlich sicher, dass das Ding hier im Preis inklusive ist.« Ich stand auf und stromerte durch das Wohnzimmer, als er den Deckel des Klaviers anhob und mit den Tasten spielte. »Hast du ein Angebot abgegeben?« Ich schüttelte den Kopf. »Noch nicht.« »Na, dann beeil dich mal besser, sonst schnapp ich es dir vor der Nase weg.« Er spielte ein paar Akkorde. »Ist sicherlich nett, wenn man keine finanziellen Einschränkungen hat«, witzelte ich. »Ist sicherlich nett, wenn man keine moralischen hat«, gab er zurück.
Ich verdrehte die Augen und ließ mich auf das heruntergekommene Zweiersofa in der Ecke sinken. »Du willst jetzt ein gemütliches Haus mit weißem Palisadenzaun drum herum. Ist’s das?« Er zwinkerte mir zu. »Ich würde auch teilen.« Ich nickte unverbindlich und spürte, wie meine Lider schwerer wurden, die bluesigen Klänge machten mich leicht benommen. »Jetzt schlaf mir hier bloß nicht ein«, rief er mir zu. »Ich kann nichts dafür«, murmelte ich. Daraufhin änderte er seinen Kurs und hämmerte den energiegeladenen Refrain von Freddie Mercurys »Killer Queen« in die Tasten. Ich musste lachen. »Ich liebe dieses Lied.« »Das wundert mich nicht.« Er klimperte weiter auf den Tasten herum. Er verlangsamte das Tempo und sprang fast schon forschend von einer Tonart zur nächsten. Schließlich landete er bei einer mittelschnellen Melodie. Nachdem ich ein paar Sekunden lang versucht hatte, die Töne einem Lied zuzuordnen, legte ich den Kopf schief. »Das ist neu«, stellte ich fest. »Was ist das?« Statt einer Antwort fing er an, zu singen. Der melodische Rhythmus bildete einen perfekten Kontrast zum Text, der prosaisch und scharfsinnig war. Es war ein Liebeslied an eine Soziopathin. An mich. Ich wartete auf das Ende des Lieds. »Was hältst du davon?«, fragte er einen Augenblick später. Ich schüttelte langsam den Kopf und versuchte nicht einmal, mein Unbehagen zu verstecken. »Es ist anders«, bot ich an. »Es klingt nicht nach dir, nicht wie etwas, was du schreiben würdest. Es ist … schonungsloser.«
Er lächelte und drehte sich auf der Bank in meine Richtung. »Was soll ich sagen?«, erwiderte er. »Vielleicht entwickle ich mich ja weiter?« Ich starrte auf eine der Holzdielen. Das Holz war rissig und eine Spinne krabbelte in und um eine Lücke in der Mitte des Zimmers herum. Ich beobachtete, wie sie schließlich in der Dunkelheit darin verschwand. Ich seufzte voller Bewunderung. Ich wünschte, ich wäre eine Spinne. Nach unbehaglichem Schweigen stand Max auf und kam durch den Raum auf mich zu. Er beugte sich runter, griff nach einer meiner Hände und zog mich vom Sofa hoch. Er zog mich an sich ran, legte seine Handfläche auf meine Taille und drückte eine Wange an meine. Draußen konnte ich den Wind hören, wie er jetzt vor sich hinpfiff, während wir uns sanft tanzend hin- und herbewegten. Ich hätte am liebsten geschrien. Tat es aber nicht. Stattdessen lehnte ich resigniert die Stirn an seine Schulter, wollte die letzten paar Minuten einer Freundschaft genießen, bei der ich, tief in mir, immer gewusst hatte, dass sie dem Tod geweiht war. »Warum?«, fragte ich schließlich. »Warum hast du mir dieses Lied vorgespielt?« Ich kannte die Antwort bereits. »Weil ich dich liebe«, antwortete er. Da waren sie. Vier kleine Wörter. Oh Mann, wie einfach mein Leben gewesen wäre, wenn sie mit meinen vier kleinen Wörtern übereingestimmt hätten.
Ich wusste, wie es wäre, wenn ich mit Max zusammenkommen würde. Es wäre spaßig. Spaßig und fantasievoll und leichtsinnig und extrem und uneingeschränkt und unschuldig. Ich würde keinen einzigen Tag meines Lebens arbeiten müssen, wenn ich es mit Max verbringen würde – sowohl wörtlich als auch bildlich. Ich würde in die Existenz verschwinden können, die meiner dunklen Seite eh besser gefiel. Tatsächlich zerrte sie jetzt an mir, fast schon sabbernd im Hinblick auf die Halsschlagader der Egozentrik, die Max gerade entblößt hatte. Mach schon, drängte sie mich. Lass ihn ausbluten. Benutze ihn. Ich dachte darüber nach, wie einfach es wäre, Max’ vier kleine Wörter zu nutzen, um meine eigenen zu vertuschen. Da war keinerlei Verzagen in seiner Stimme zu hören gewesen, als er sie gesagt hatte. Nur Selbstbewusstsein. Er drehte den Kopf zu mir, seine Lippen streiften meine Schläfe. Ich hob das Kinn an, um ihm in die Augen schauen zu können. Ihr Blau erinnerte mich einmal mehr an das Great Blue Hole. Und als er mich küsste, wollte ich darin versinken. Max’ Geschmack – eine schmerzhafte Mischung aus Salz und Lakritz und Whiskey – war alles, was ich immer schon gewollt hatte, wie mir meine Schattenseite stets eingeredet hatte. Ein verführerischer Abgrund. Freiheit und Vergebungen und Ausbeute, meine Güte! Nur einen Augenblick lang fühlte ich mich unsicher auf den Füßen wegen all unserer unverkennbaren entzündlichen Chemie. Max hob die Hände und umfasste jeweils eine Seite meines Gesichts. Ich presste die Augen zu. Himmel. Warum kann das nicht einfach reichen?, fragte ich mich. Das Leben mit einem Typen wie ihm war der Weg des geringsten Widerstands. Max erfreute sich nicht an der Tugend, sondern an der Finsternis. Und da, in dieser Finsternis, wusste ich, konnte ich mich vor der Wahrheit verstecken. Denn die Wahrheit war, dass ich Max liebte, aber nicht auf gesunde Weise. Nicht auf eine Weise, die irgendwie gut war. Mit ihm konnte ich so sein, wie ich war, würde nie dafür bewertet werden, dass ich schlecht war, würde niemals je dazu gedrängt werden, mich weiterzuentwickeln. Ich wollte aber keine solche Beziehung, sondern eine richtige Partnerschaft. Schön, kooperativ, anspruchsvoll, Horizont erweiternd. Genau das, was ich mit David wollte. Das war schon immer das gewesen, was ich gewollt hatte. Punkt. Aber wenn ich nicht das haben konnte, was ich wollte, mit dem Mann, den ich wollte … Ich schob ihn sanft mit der Hand an seiner Brust von mir. »Nein«, sagte ich.
Zuerst war er verwirrt. Er blickte zur Seite und presste die Kiefer zusammen, blieb mehrere Augenblicke lang still. »Warum?«, wollte er dann wissen. »Weil ich das nicht will.« »Schwachsinn«, blafft er. »Wenn du das nicht gewollte hättest, warum sind wir dann hier?« Er war wütend. Einen Augenblick lang konnte ich sehen, wie sich meine Apathie ausweitete, sodass sie das gesamte Haus umfasste; mein Mangel an Gefühlen schluckte seinen Zorn und machte ihn zunichte.
»Was hast du dir denn gedacht?«, schnappte ich zurück, seine Stimmung übernehmend. »Dass du mir ein Lied schreibst, mir sagst, dass du mich liebst, und dann würden wir glücklich bis ans Ende unserer Tage zusammenleben?« »Vielleicht habe ich das!«, schrie er. »Was ist daran so falsch?« »Falsch ist daran, dass ich dich so nicht liebe. Dass ich niemanden so liebe, erinnerst du dich?« »Klar erinnere ich mich«, schoss er zurück. »Das liebe ich am meisten an dir.«
Und da war es. Max, das wusste ich, war nicht in mich verliebt, sondern in die Tatsache, dass er dachte, ich könnte nicht lieben, nicht wirklich zumindest. Nicht normalerweise. Max wusste, dass ich ihn nie verurteilen würde oder eifersüchtig oder anhänglich sein würde. Es wäre mir egal, wenn er monatelang weg wäre. Das machte mich zu einer sicheren Bank. Ich war für ihn ein Versprechen, das er nicht halten musste. Und er war für mich ein Versteck, das ich nicht verlassen musste. Eine dunkle und finstere Höhle, in der die Zeit nicht verging und Konsequenzen keine Rolle spielten. Solange ich Max hatte, konnte ich im Schatten verharren, konnte neue Rezepte finden und stehen bleiben, mir aber vormachen, ich würde mich bewegen.
»Komm schon«, bettelte ich. »Schieb mir jetzt nicht den schwarzen Peter zu, weil ich die Wahrheit gesagt habe. Du weißt genauso gut wie ich, dass das hier« – ich wedelte mit dem Arm vage durch die Luft – »nur funktioniert, weil wir Freunde sind.« »Freunde?«, erwiderte Max schnaubend. »Wie goldig.« »Sei kein Arschloch«, sagte ich. »Wir waren immer Freunde.« Max ging zum Klavier rüber und schlug den Deckel zu. Dann drehte er sich zu mir um. »Ausflüge in leer stehende Häuser«, sagte er mit triefendem Sarkasmus. »Spätabendliche Besuche fremder Gärten, soziopathische Beichten. Sag mal«, verspottete er mich, »ist das die Art Kram, die man mit Freunden macht?« Ich nickte. Das war es tatsächlich. Er zeigte mit dem Finger auf mich und spuckte aus: »Dann ist es kein Wunder, dass du keine hast.«
Er starrte mich einen Augenblick lang wütend an. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging. Er riss die Tür auf und marschierte zu seinem Auto, auf dem Weg stolperte er über etwas im Gras. Es war der Holzstuhl, auf dem der alte Mann immer gesessen hatte, um seiner Frau Gesellschaft zu leisten. Die Kaffeetasse daneben war inzwischen sonnengebleicht und kaputt. Ich wartete, bis er davongefahren war und schloss dann leise die Tür. Nach einigen Augenblicken stieg ich die Treppe hoch und lief ins Schlafzimmer. Ein Himmelbett war gegen die eine Wand geschoben und ich ließ mich darauf fallen. Über dem Kopfende befand sich ein Fenster, durch das man die Straße vor dem Haus sehen konnte. Ich starrte eine Weile durch die Musselinvorhänge und beobachtete heimlich die Fußgänger. Dann schlief ich ein.
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