Rorschach Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.
Rorschach
Ich wachte von meinem auf dem Boden vibrierenden Handy auf. Ich blinzelte mehrere Male, um die Augen auf die fremden Wände um mich herum zu fokussieren. Einen Moment lang genoss ich den Gedanken, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich war. Dann erinnerte ich mich an alles. Mein Handy vibrierte erneut. Ich seufzte und wälzte mich über die Matratze. Jahrzehnte alte Federn protestierten lautstark, als ich mich über den Rand lehnte.
Ich drückte auf »Annehmen«, ohne auf das Display zu schauen, und presste das Handy ans Ohr. »Wie spät ist es?«, fragte ich. »Es ist Showtime!«, sang Everly. »Kannst du das glauben? Mein letzter Roxy-Gig. Ich raste aus. Wann, denkst du, bist du hier? Ich weiß, wir treffen uns normalerweise am Nachmittag, aber heute solltest du früher kommen.« Sie hielt inne. »Also, jetzt halt.« Ich legte die Hand auf die Augen und verfluchte die Morgensonne, die bereits den kleinen weißen Raum durchflutete. »Ich kann nicht«, sagte ich, genervt darüber, dass ich so lange geschlafen hatte. »Ich habe eine Schicht im Beratungszentrum und dann fahre ich mit Dad zusammen zur Show.« Everly stöhnte auf. »Keine Sorge«, sagte ich ihr. »Ich werde rechtzeitig im Roxy aufschlagen, bevor alles drunter und drüber geht.« »Na gut, aber dafür kommst du danach mit zu Dorian«, sagte sie. »Gibt keine Ausrede.«
Ich stimmte zu und legte auf, rollte mich auf den Bauch und schaute zum Fenster raus. Eine Frau ging mit ihrem Hund den Benedict Canyon hinunter und ich genoss das Wissen, dass sie mich nicht sehen konnte. So allein im Bett eines Fremden, ohne dass irgendwer da draußen von meiner Existenz wusste, fühlte
ich mich mehr zu Hause, als ich es in letzter Zeit je getan hatte. Ich liebte es, versteckt zu sein, und – mit Max’ Worten zum Abschied noch in den Ohren – glaubte langsam, dass das auch besser so war. »Es ist kein Wunder, dass ich keine Freunde habe«, sagte ich laut.
Er hatte recht. Die Sachen, die ich gern machte, mein Widerwille, mich mitzuteilen, meine Aversion gegen Zuneigung – nichts davon war beziehungsfreundlich. Zumindest nicht im traditionellen Sinne. Ich liebte Menschen. Wirklich. Aber ich liebte anders als die meisten um mich herum. Und, wenn ich ehrlich war, nicht allzu kompatibel. Ich brauchte keine Liebe von jemand anderem, um sie auch zu geben. Hatte ich nie. Ich mochte es lieber, wenn meine Zuneigung anonym blieb. Unabhängig. Und das nicht, weil es mir
egal war, sondern weil ich anders gern hatte. Ich wusste es besser als alle anderen: Mit Abstand war ich am genießbarsten. Ich lag noch eine Weile so da, nahm die Stille in mich auf, ließ mich zufrieden von meiner Apathie einhüllen. Dann stand ich auf und ging zum Wandschrank. »Ergibt keinen Sinn, nach Hause zu fahren, ist einfach zu weit weg«, sagte ich zu dem leeren Haus, als ich die Tür öffnete. Ein Schuhregal hing daran und klackerte dabei leise. Die Klamotten waren zum Großteil für Männer. Als
ich Kleiderbügel für Kleiderbügel zur Seite schob, dachte ich schon, ich würde mich mit Arbeitshosen und einem alten Hemd zufriedengeben müssen, aber dann erspähte ich das Kleid. Es hatte einen einfachen A-Linien-Schnitt mit einer niedrigen Taille und einem Spitzenkragen. Ich lächelte traurig, als ich den
Daumen am Kragen entlanggleiten ließ und mir die alte Dame, die hier gewohnt hatte, darin vorstellte. Sie sah bestimmt hübsch aus. Ich wendete mich dem Schuhregal zu. Ich beäugte ein perfektes Paar Lederpumps, legte aber bestürzt die Stirn in Falten. Meine Füße, so wusste ich, waren viel zu groß. Also gab ich mich mit einem leicht zu großen Paar Oxford-Schuhen für Männer und dicken Socken zufrieden. Ich ließ mir Zeit beim Umziehen. Danach betrachtete ich mich im Spiegel. Ich sah in dem alten Kleid mit
seinem floralen Muster und der altmodischen Silhouette eher wie eine 50er-Jahre-Hausfrau aus als eine Soziopathin im 21. Jahrhundert.
Unsichtbar, dachte ich. Meine liebste Art des Seins. Aber die Unsichtbarkeit war ein zweischneidiges Schwert. Eine selbstgeschaffene Verkleidung ist das eine, dachte ich, während ich die Falten des Kleids glättete, aber es ist etwas ganz anderes, wenn man ein Kostüm aufgezwungen bekommt. Mir war das selbst bei jenen aufgefallen, die von meiner Diagnose wussten. Die Menschen, beunruhigt von Teilen meiner Persönlichkeit, die sie nicht sehen konnten oder wollten, »verkleideten« mich gern mit ihrer eigenen Idee davon, wie eine Soziopathin fühlen oder sich verhalten oder reagieren sollte. Daraus resultierte dann eine Art Stellvertretertäuschung. Die Leute erfanden für sich selbst eine Version von mir und schoben mir dann die Schuld in die Schuhe, wenn ihre Erfindung in die Binsen ging. Das war verwirrend und destabilisierend.
Ich lief langsam die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer fiel das Sonnenlicht wie ein Wasserfall durch das Loch in der Decke. Mein Blick fiel auf das Klavier und meine Gedanken verdüsterten sich. Die Wahrheit war, dass ich besser allein war, nicht weil ich Menschen oder ihre Gesellschaft nicht mochte, sondern weil ich es für mich als schier unmöglich empfand, nicht zu der Person zu werden, von der sie dachten, dass ich sie sei. Da ich nicht auf herkömmliche Weise eine Verbindung zu ihnen herstellen konnte, hatte ich schon vor langer Zeit gelernt, dass mein Persönlichkeitstypus gut als Spiegel fungieren konnte. Zudem
wusste ich, dass ich, wenn ich dies zu meinem Vorteil nutzte, den Menschen das bieten konnte, was sie schon immer gewollt hatten.
Wo konnte man sich schließlich besser verstecken als vor den Augen aller? Die Menschen waren dann so verzaubert von meiner Spiegelung ihrer eigenen Interessen, dass ihnen mein schiefer Gesang kaum auffiel. Oder mein zu lautes Lachen. Oder mein zu seltenes Weinen. Oder mein Starren ohne Blinzeln.
Oberflächlicher Charme, dachte ich. Das war der erste Punkt auf Cleckleys Liste und wurde als Haupteigenschaft der »klassischen« Soziopathen angesehen, als Beweis für ein aalglattes, aufgesetztes
zwischenmenschliches Verhalten. Das stimmte. Allerdings schien niemand zu verstehen, dass dies nicht die Fußnote eines freiwilligen Deals mit dem Teufel war, sondern ein Bewältigungsmechanismus, der aus der Not heraus geboren worden war. Ich nutzte meinen Charme selten als Trick. Ich nutzte ihn zum Verstecken, um meine Soziopathie zu überdecken, um so zu überleben, wie auch, so stellte ich mir zumindest vor, andere meines Persönlichkeitstyps. Nicht, weil ich Angst hatte, sondern weil ich wusste, dass die anderen welche hatten. Und was der Mensch fürchtet, löscht er aus. Oder er veredelt es, dachte ich.
Mein Handy vibrierte erneut und ich wappnete mich für eine Nachricht von Max. Als ich aber aufs Display schaute, sah ich eine von meinem Vater. Ich sammel dich um 9 ein. Der Blick auf die Nachricht beruhigte mich. Mein Vater würde wissen, was zu tun war. Seine grenzenlose Geduld und seine wertfreie Art waren schon immer ein Segen gewesen. Er hatte die einzigartige Fähigkeit, offen und ehrlich mit mir zu reden und dennoch objektiv zu bleiben. Er konnte sich nicht wirklich mit mir identifizieren, aber er konnte vernünftige Schlüsse aus meinen Erzählungen ziehen. Und genau das brauchte ich jetzt: jemanden, der rational und leidenschaftslos mit mir redete. Emotionslos. Ohne eigene Agenda.
Ich saß nach einem ereignislosen Tag im Beratungszentrum auf meiner vorderen Veranda. Dad war auf dem Weg, aber ich war ruhelos. Ich zählte die Ziegelsteine der Veranda, während die Minuten ins Land zogen, bis irgendwann endlich Scheinwerfer den Vorgarten erhellten. Ich sprang auf, um ihn in der Einfahrt zu begrüßen. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, sagte er, als ich die Beifahrertür öffnete. Ich nickte, als ich mich auf den Sitz gleiten ließ und lehnte den Kopf gegen das Fenster. Dad schaute mich
neugierig an. »Alles okay?« Er hatte kaum meine Einfahrt verlassen, als ich schon erzählte. Wie immer musste ich bei ihm mit nichts hinterm Berg halten. Ich fing mit meiner Erklärung an, warum ich der Musikbranche den Rücken kehren würde. Die Wörter sprudelten nur so aus mir heraus, als ich ihm von den Gefahren erzählte, die ich bei einer Weiterführung dieser Arbeit für mich sah. Ich erzählte ihm von
all den Dingen, die ich gerade an der Uni und im Beratungszentrum lernte, und von meiner Hoffnung, wie
unorthodox sie auch immer sein mochte, dass ich vielleicht tatsächlich Menschen würde helfen können.
»Ich weiß, dass es verrückt klingt, Dad, aber bei der Arbeit dort ist es egal, dass ich eine Soziopathin bin. Verdammt, es könnte sogar von Vorteil sein.« Ich zog gedankenverloren an meinem Anschnallgurt. »Es gibt keine Erwartungshaltung, dass ich gegenüber meinen Patienten etwas empfinde oder mich ihnen
verbunden fühle oder sie verstehe oder gar mit ihnen reden muss. Ich muss nichts machen, ich muss sie nur beobachten.« Mir schoss eine gute Analogie in den Kopf. »Es ist ein wenig wie das psychologische Äquivalent des Einbrechens. Jedoch wandele ich nicht durch die Häuser anderer Leute, sondern durch ihre Köpfe.« Er sagte wenig, aber hörte genau zu. Danach atmete er tief ein. »Okay, reden wir erst einmal über die Arbeit. Ich verstehe deine Bedenken, Patric. Wirklich.« Er hielt inne. »Aber eine Kündigung
ist eine große Sache. Das ist verantwortungslos.« Ich widersprach: »Es ist unverantwortlich, wenn ich weiterhin bei etwas bleibe, bei dem ich weiß, dass es ungesund ist für mich. Du musst eins verstehen: Mich in so einer Branche schalten und walten zu lassen, wäre, als würde man einen Fuchs als Wachhund
für den Hühnerstall engagieren. Die Versuchungen sind endlos und meine Selbstkontrolle ist, wenn überhaupt, gerade mal mittelmäßig.« Ich überlegte, wie ich meine nächste Offenbarung am besten formulieren könnte. »Erinnerst du dich noch an Ginny Krusi?« Dad hörte stumm zu, als ich ihm die Geschichte ihrer Mätzchen darlegte. Ich erzählte ihm von den Erpressungs-E-Mails und – telefonaten, ließ keine Details aus. Ich gestand ihm meine Ausflüge in ihren Garten, mein Gewaltverlangen und die
Argumentation hinter meinem Widerwillen, sie anzuzeigen. »Ich weiß, dass ich mich leichtsinnig verhalten habe«, schloss ich und atmete erleichtert aus. »Und deswegen habe ich mich entschieden, zur Polizei zu gehen.« Dad sah einen Augenblick lang unbehaglich aus, antwortete aber irgendwann. »Patric«, sagte er mit leiser, angestrengter Stimme. »Wie lange geht das jetzt schon so?« »Ungefähr ein Jahr.« Er schüttelte den Kopf, versuchte, sich zu sammeln. Dann rieb er sich müde die Augen, wie er es immer in San Francisco getan hatte. Ich hatte damals schon stets das Gefühl gehabt, dass ich irgendetwas hätte verstehen sollen, aber selbst jetzt wusste ich nie, was das war.
»Dad«, sagte ich monoton. »Atme tief durch. Alles ist gut.« »Gut?«, jaulte er auf und schaute mich an, als sei ich verrückt. »Wie kannst du das sagen, wenn du die ganze Zeit mit dieser Frau, dieser …« Er verstummte. Ich schüttelte tröstend den Kopf. »Dieser Soziopathin zu tun hatte?«, lachte ich. »Das wollte ich jetzt nicht sagen«, schnauzte er mich an. »Warum nicht?«, fragte ich in leicht anklagendem Tonfall. »Sind Soziopathen nicht genau das? Menschen, die andere benutzen, ohne Konsequenzen oder Mitgefühl zu begreifen?« Er rutschte unbehaglich in seinem Sitz hin und her. »Aber so bist du nicht.«
»Bist du dir da sicher?«, fragte ich. »Denn nach all dem, was ich dir gerade erzählt habe, klingt es ziemlich sicher genau danach.« Ich verschränkte die Arme. »Siehst du? Das ist das Problem. Ich weiß genauso wenig wie du, wer ich eigentlich bin.« Er runzelte die Stirn und nahm seinen Blick einen Augenblick lang von der Straße, um mich anzuschauen. »Nein, Patric«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Das stimmt nicht.« Er schüttelte traurig, aber liebevoll den Kopf. »Ich sehe dich, Schatz. Und du bist stark und klug und loyal. Aber vor allem bist du mutig.« Ich zuckte mit den Schultern. »Mut ist einfach, wenn einem alles egal ist.« »Weißt du, was auch noch einfach sein könnte, so wie ich es mir vorstelle?«, wandte er ein. »Andauernd das Falsche zu tun. Den Weg des geringsten Widerstands zu nehmen. Aber das machst du nicht.« Er griff nach meiner Hand und drückte sie. »Aus meiner Sicht hast du immer den Weg des größten Widerstands genommen. Und das kann ein ganz schön schwieriger Weg sein, Süße. Ich weiß das. Und genau deswegen sag ich dir jetzt, dass du eben nicht allein bist.« Er schüttelte den Kopf. »Solange ich lebe, Patric, wirst du niemals unsichtbar sein für mich.« Er drehte den Kopf wieder in meine Richtung und schaute mich an. »Ich verspreche dir, dass wir zwei das immer alles irgendwie
hinbekommen werden.«
Einen Augenblick lang wusste ich, wie sich Dankbarkeit anfühlte. Wie kam es, dass ich so einen Verbündeten verdient hatte? Wie kam es, dass ich überhaupt irgendetwas verdient hatte? »Ich liebe dich, Dad«, sagte ich mit leiser Stimme. »Ich liebe dich auch.« Er lächelte, als er erneut meine Finger drückte, und legte die Hand dann wieder ans Steuer. »Deshalb werde ich mitkommen, wenn du zur Polizei gehst.«
Ich runzelte die Stirn und lehnte das Angebot dann ab. »Das ist … unnötig. Ich glaube nicht, dass du da irgendwie mit drinhängen solltest.« Er schaute mich schief von der Seite an. »Du wirst ihnen aber nicht von dem Kram erzählen, den du gemacht hast, oder?« »Nein«, erwiderte ich schnaubend. »Warum sollte ich mich selbst belasten?« »Ja, genau das dachte ich eben auch. Es ist ja offensichtlich, dass die Frau verrückt ist, oder? Du bist hier das Opfer.« Er verstummte einen Moment, bevor er hinzufügte: »Vielleicht hast du also recht. Vielleicht halten wir meinen Namen wirklich komplett aus der Sache raus.«
Ich richtete den Blick auf das Armaturenbrett. Die Beschaffenheit des Leders erinnerte mich an eins von Rothkos Bildern, das ich immer schon gemocht hatte. »Was meinst du damit?«, hörte ich mich ihn fragen.
»Na ja, du bist diejenige, die erpresst wird«, sagte Dad jetzt mit einem beunruhigten Tonfall. »Mich da mit reinzuziehen, wird alles nur noch komplizierter machen, weißt du, was ich meine?« »Nein«, traute ich mich jetzt direkt zu sagen. Er seufzte. Ich sah ihm an, dass ihn meine Antwort genervt hatte, weil er gehofft hatte, ich würde die Verbindung selbst herstellen. »Ich glaube einfach, dass es besser wäre, wenn du ihnen sagst, dass sie Bilder von dir hätte«, sagte er dann. »Ich meine ja nur, das ergibt doch mehr Sinn, oder etwa nicht? Warum sollte sie dich schließlich mit Bildern von mir erpressen wollen?« Die Luft im Auto war auf einmal sehr dünn geworden. Mein Puls verlangsamte sich, als mich mein Blick weiter in die Falten des Leders hineinzog. »Ich weiß es nicht«, erwiderte ich vorsichtig. »Aber genau das hat sie getan.« »Stimmt«, sagte er mit übertrieben zwangloser Stimme. »Aber wenn du sagst, dass die Fotos, die sie behauptet zu haben, von dir seien, dann bin ich aus der Sache raus. Dann hört alles bei dir auf und ich muss keine schwachsinnigen Fragen beantworten.« Ich saß eine Weile still da, bevor ich antwortete: »Du möchtest also, dass ich für dich lüge.«
»Liebling«, drängte er. »Du hast doch eh gesagt, dass du ihnen nicht die ganze Wahrheit sagen willst.« Dad schaute mich mit erwartungsvollem Gesichtsausdruck an. »Natürlich würde ich dich darum nicht bitten, wenn es dir unangenehm wäre.« Er holte Luft. »Aber ich weiß ja, dass dir solche Sachen nicht unangenehm sind. Außerdem würdest du mir damit echt helfen.« Er lächelte und zwinkerte mir zu, als er zum Anhalten ansetzte. »Aber genug davon, jetzt ist erst einmal Showtime!«
Ich machte gerade den Mund auf, um noch etwas zu erwidern, als meine Tür abrupt geöffnet wurde.
»Willkommen im Roxy«, sagte der Mann vom Parkdienst. Ich brauchte einen kleinen Moment, um das Geschehen zu verarbeiten. Ich schirmte die Augen von den Lampen ab, die am Vordach flackerten. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass wir schon angekommen waren, fühlte mich desorientiert. Desorientiert und taub und wünschte mir jetzt nichts sehnlicher, als von meinem Vater wegzukommen, dem eindeutig nicht bewusst war, wie dreist seine Bitte gewesen war. Der Mann vom Parkservice bot mir seine Hand an und ich stieg aus. Ohne einen Blick zurück lief ich zur Abendkasse, vorbei an der Schlange, die sich um das Gebäude gebildet hatte. Ich nickte dem Türsteher einen kurzen Gruß zu, als er das Seil aus Samt
aushakte, um mich reinzulassen. Drinnen war ich sofort umgeben von Menschen. Ich blinzelte in die Dunkelheit, als ich mich zur Lobby aufmachte. Ich fühlte mich unsichtbar, aber nicht so, wie ich es gern hatte, sondern nebulös. Der Boden unter meinen Füßen schwankte. Auf dem Weg zur Bar scannte ich die Masse an Menschen nach einem bekannten Gesicht ab – oder wenigstens nach jemandem, der zumindest meine Existenz quittieren würde.Aber ich war allein.
Ich dachte kurz darüber nach zu schreien. Oder die Frau vor mir so hart zu schubsen, dass ihr Genick nach hinten durchbrechen würde. Oder die Haarnadel aus ihrem Haarknoten zu ziehen, um sie dem Typen neben ihr in den Hals zu rammen. Irgendetwas, um es aufzuhalten. Den eingeklemmten Stress. Die kriminelle Taubheit. Die emotionale Armut. Dann sah ich ihn. »David!«, schrie ich.
Er stand an einem Bartisch, den Ellbogen elegant neben seinem charakteristischen Gin Tonic aufgelehnt. »David!«, schrie ich erneut, fast schon kreischend, als ich ihm über die Menge hinweg zuwinkte. Das dichte Gedränge brachte mich kurz aus dem Gleichgewicht und ich wurde zur Seite abgedrängt. Aber wir
hatten bereits Blickkontakt aufgenommen. Er streckte seine Hand nach meiner aus. Ich erlaubte ihm, mich aus dem Gedränge zu retten, und sammelte mich einen Moment lang. Dann warf ich die Arme um ihn. Ich sagte nichts, während ich einfach nur da stand und mich festklammerte. Ich gestattete es mir, einfach festgehalten zu werden, aus der Strömung gezogen und von Davids Existenz zeitweise wiederbelebt. »Hey«, sagte er nach einiger Zeit. »Geht’s dir gut?« »Nein«, flüsterte ich an seinem Hals. »Nein. Nein. Nein. Nein.« Aber der Lärm der Menschenmenge schluckte meine Stimme.
David wich zurück, um mich anschauen zu können. »Geht’s dir gut?«, fragte er erneut. Als ich nach oben zu ihm aufschaute, das Neonlicht der Bar Schatten auf sein Gesicht warf, brauchte ich all meine
Willensstärke, um ihm nicht alles zu beichten. Ihm nicht in die Arme zu fallen und ihn anzuflehen, mich zu erretten. Ihm nicht die Wahrheit zu sagen. Dass ich ihn liebte. Ihn brauchte. Mich nach ihm sehnte. Und das nicht nur, weil er der einzige Mensch war, bei dem ich mich wirklich sicher fühlte. Und nicht nur, weil
sich seine Umarmung wie mein Zuhause anfühlte. Sondern weil er mein Zuhause war. David war der beste Mensch, den ich je kennengelernt hatte, den ich je kennenlernen würde. Wer aber war ich?
»Ich weiß es nicht«, sagte ich leise. Das war das Problem. Die Wirklichkeit war, dass es keine Wirklichkeit gab, zumindest nicht, solange ich keine erfand. Die Wahrheit war, dass ich niemals die Wahrheit sagte, nicht die ganze Wahrheit. Warum also sollte ich jetzt damit anfangen?
»Hey«, sagte er noch einmal, mit sorgenvollem Gesicht. »Was meinst du damit, du weißt es nicht?« Er legte eine Hand auf meine Taille. »Was ist los?« Ich starrte ihn mit leicht geöffnetem Mund an, überlegte, wie ich reagieren sollte. Wie die Felder auf einem Farbkreis schossen mir emotionale Möglichkeiten durch den Kopf. In der einen Variante war ich traurig und verwundbar, mit dem Kopf auf seiner Schulter, ihn schwach fragend, ob er mich nach Hause bringen könnte. In einer anderen war ich charmant und verführerisch, zog ihn in das nahegelegene Büro, um ihn mit Begierde abzulenken, uns beide mit einer Performance erfüllend, die ich körperlich genießen, aber womöglich nie wirklich fühlen würde. Genereller Mangel an wichtigen affektiven Reaktionen, dachte ich. Der zehnte Punkt auf Cleckleys Liste, der die Unfähigkeit der Soziopathen erklären sollte, bestimmte Gefühle zu erleben. Das erste Mal begriff ich nun die Tragweite dieser genauen Formulierung. So »wählte« ich alle meine Gefühle aus. Mich zog kein Gewissen zu einem bestimmten Feld. Sie waren einfach nur mögliche Optionen, wie Klamotten, die ich aus dem Schrank einer Fremden geklaut hatte, die schlaff und leblos vor sich hinhingen, ohne einen Funken Leben in sich. Das war meine Erfahrung mit Gefühlen: ein bunter Strauß affektiver Reaktionen, der zweifellos mithilfe einer Lebenszeit voller Beobachtungen zusammengestellt worden war.
David runzelte die Stirn und mir wurde bewusst, dass ich zu lange mit meiner Antwort brauchte. Und noch bewusster wurde mir sein Grad des Nichtwahrhabenwollens. Er war demselben Zauber zum Opfer gefallen wie alle anderen, er projizierte sich selbst auf mich, statt mich zu sehen. David war schließlich ein
guter Mensch und wollte, dass ich auch ein guter Mensch war. Was aber machte ich mit guten Menschen? Ich nahm ihnen Energie. Ich beschmutzte sie. Ich verdarb sie. Aber das würde ich nicht mit ihm machen. Nicht mehr. Ich zwang mich zu einem schwachen Lächeln, suchte mir ein Feld auf der gegenüberliegenden Seite von Davids Spektrum aus, stützte mich aggressiv auf Indifferenz.
»Alles ist gut«, sagte ich abrupt mit entspannter Stimme. »Ich wollte mich nur an die Menge des Merchandise erinnern, die wir anliefern mussten.« Ich zeigte auf den Tisch, der praktischerweise
in einer Ecke des Raums zu sehen war. »Den vergesse ich immer«, fügte ich lässig hinzu. David runzelte die Stirn. Ich sah ihm an, dass er nicht überzeugt war, also warf ich noch etwas mehr Unehrlichkeit in den Ring, um die Kanten weiter zu glätten. »Sorry, falls ich wie neben mir wirkte. Wir sind gerade erst von Everly hergekommen und ich habe den ganzen Tag getrunken.« Ich grinste und schüttelte den Kopf, als müsste ich über einen Insider lachen. Ich tat ihm jetzt weh, wählte meine Worte, um genau die Gefühle in ihm auszulösen, die er am meisten fürchtete: Ausgrenzung. Verwirrung. Irrelevanz. Er holte tief Luft. »Ich dachte, du arbeitest donnerstags im Beratungszentrum?«
Die Botschaft war glasklar. Er sagte mir damit, dass er mich liebte und ließ mich auf seine subtile Art wissen, dass er zugehört hatte, als ich ihm von meinem Zeitplan am Telefon erzählt hatte. Er wollte mir damit zeigen, wie sehr er immer noch versuchte, mich zu akzeptieren. Aber es reichte jetzt. Und es war mir egal. Unempfänglichkeit bei allgemeinen zwischenmenschlichen Beziehungen, dachte ich. Der zwölfte Punkt auf Cleckleys Liste, der die soziopathische Abneigung beschreiben sollte, auf Wärme oder Vertrauen in gleicher Weise zu reagieren. Ich rollte mit den Augen. »Ja, nee«, erwiderte ich, Genervtheit
vorgebend. »Ich hatte mich entschieden, wegen der Show heute auf die Arbeit zu scheißen«, log ich mühelos. Dann richtete ich eine weitere Rakete gegen seine schon bröckelnde Abwehr. »Was
machst du eigentlich hier?«
Er wurde blass, und ich dachte, er würde gleich vor mir zerbrechen. Aber er riss sich zusammen. »Darüber haben wir vor Wochen gesprochen«, sagte er und versuchte es erneut. »Es ist Everlys letzte Show. Ich wusste, dass das wichtig ist. Und wollte hier sein. Weißt du?« Dann, leise: »Für dich.« Ich nickte gedankenverloren und zog eine Schnute, als sei ich enttäuscht über mich selbst. »Hmm. Daran erinnere ich mich gar nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Aber ist total süß, dass du hier bist.«
Dann beobachtete ich, wie er versuchte, mit meiner Täuschung klarzukommen, die ihn viel langsamer als erwartet umbrachte. Ich sah ihn zappeln, aber griff nicht ein, um zu helfen. Ich grinste, so breit ich konnte, streckte die Arme aus und ging nach vorn, um ihn zu umarmen. Diese offensichtlich ungeschickte
Zurschaustellung öffentlicher Zuneigung würde, da war ich mir sicher, zweierlei bewirken: Sie würde meine Unaufrichtigkeit als authentisch bestätigen und jegliche Aufrichtigkeit auslöschen, die die erste Umarmung offenbart hatte. Als ich aber seine Arme fest um meine Taille spürte, erfasste mich eine Lawine der Traurigkeit. Ich legte den Kopf auf seiner Schulter ab und atmete mehrere Male tief ein. Es fühlte sich so gut an, von ihm umarmt zu werden. So ehrlich. So sicher. »Ich liebe dich«, sagte ich so leise, dass er es nicht hören konnte.
Das war eine Ruhe, die ich zwar nie aufrechthalten, aber manchmal spüren konnte, wenn er mich festhielt. Eine Zukunft mit David war meine Version der Phantomschmerzen, sie war gleichermaßen so real und irreal, dass es mich verrückt machte. Ich wollte für immer hierbleiben, auf ewig gefangen in dieser Stille, wusste aber, dass ich das nicht konnte. David, wie alle anderen auf dieser Welt, brauchte mehr als nur Stille. Er brauchte mehr als emotionale Armut und nachgeahmte Reaktionen. Er brauchte eine Frau, der Liebe nicht einfach nur angeboren, sondern für die sie allumfassend war, tief verankert
in ihrem gesamten Wesen. Ich nahm all meine Kraft zusammen und ließ ihn los, signalisierte, dass ich bereit war zu gehen. Aber er drückte einfach weiter, stellte meinen Bluff mit einem letzten Akt der
Zuneigung infrage. Und es glückte ihm fast. Einen Augenblick lang dachte ich darüber nach, was es bedeuten würde, nicht loszulassen, unserem Traum einer gemeinsamen Lebenszeit nachzugeben, einer Lebenszeit voller Liebe und Lachen, voller Musik und Bücher, und allem Gutem auf dieser Welt. Meine
Entschlossenheit schwand – ich wollte das so sehr –, als etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Da war eine Bewegung auf der anderen Seite des Raums, etwas, das ich sofort aus dem Augenwinkel wahrnahm, das ich mir aber erst verzögert, dann als es unvermeidbar wurde, bewusst machte. Da war Max und starrte mich an. Er stand schief, mit einem Arm aufs Geratewohl über die Schultern einer mir unbekannten Blondine gelegt. So, wie er schaute, wusste ich, dass er uns beobachtet hatte. »Himmelherrgott nochmal«, zischte ich und ließ die Arme von Davids Hals fallen. Ich trat einen Schritt zurück. »Ich bin gleich wieder da«, sagte ich ihm, dann stürmte ich durch den Raum. »Was zur Hölle machst du hier?«, fragte ich und machte keinen Hehl aus meinem Zorn. Max grinste. »Ich bin hier für eine Show«, scherzte er, David mit einer Bierflasche am anderen Ende des Raums grüßend. »… Auch
wenn sie anscheinend schon losgegangen ist.« Max kicherte und lehnte sich nach vorn, dabei den Hals der Blondine mit seinem Gewicht unangenehm verdrehend. Er war eindeutig betrunken. Ich brachte ein dünnes Lächeln für seine Begleitung zustande und drehte dann den Kopf in Richtung Bar. »Könntest du uns netterweise kurz allein lassen?«, fragte ich. Sie nickte und nutzte anscheinend dankbar die Möglichkeit für den Abgang zur Bar im Eingangsbereich. Währenddessen hatte Max mit einer Tirade
losgelegt. »War ich langweilig?«, fragte er mich höhnisch. »War es das? War es dir irgendwann zu doof, mit mir rumzuspielen, also spielst du jetzt wieder mit Mister Wonderful rum?« Er zeigte demonstrativ mit einer Hand auf mich und hob die andere, als würde er David ein High Five geben wollen. Ich drehte mich
angeekelt gerade noch rechtzeitig um, um Davids Hinterkopf in der Menge verschwinden zu sehen. Sein Longdrink stand verwaist auf dem Tisch. »Fick dich«, zischte ich durch zusammengepresste Zähne. »Nee«, erwiderte er grinsend. »Ich bin mir recht sicher, das steht nicht mehr zur Debatte.« »Es stand niemals zur Debatte, du lädiertes Stück Scheiße«, fauchte ich ihn an. »Schau dich doch mal an! Herrgott, ich hätte wissen müssen, dass du so was abziehen würdest.« »Nein, ich hätte das!«, schrie er und zog damit weitaus mehr Aufmerksamkeit auf sich, als er, wie ich wusste, wollte. »Ich weiß nicht, warum es mich überrascht. Du hast es mir von Anfang an gesagt. Du bist eine verdammte Soziopathin!« Er lachte. »Du liebst niemanden. Du magst nicht mal wirklich jemanden … nicht mal dich selbst.« Seine Provokationsversuche waren erbärmlich. Es war, als würde er denken, er könnte mich mit diesen Ködern so handeln lassen, wie es eine Soziopathin seiner Meinung nach sollte. So wie es seiner langweiligen, banalen, stereotypischen Vorstellung dessen entsprach. »Sieh’s doch mal positiv«, sagte ich, seine Beleidigung hinnehmend. »Immerhin kannst du daraus wieder annehmbares Material für deine Musik ziehen.« Er verdrehte die Augen und sagte: »Jetzt bilde dir mal nicht zu viel auf dich ein.« »Ooh, arme Maus«, erwiderte ich in einem spielerisch abscheulichen Singsang. »Vergiss nicht, Schmeichelei und
Einbildung sind deine Baustelle.« »Fick dich«, spuckte er aus und zeigte mit dem Finger auf mein
Gesicht. »Ich habe dich verdammt noch mal geliebt.«
»Verschone mich.« Ich schob seine Hand weg. »Du wusstest genau, worauf du dich eingelassen hast.«
Er lehnte sich weit genug zu mir nach vorn, dass ich nicht nur das Bier in seinem Atem, sondern auch den Scotch darunter riechen konnte. »Nein, du wusstest das«, sprach er mit rauer, aber überraschend ruhiger Stimme. Er schüttelte langsam den Kopf. »Du bist vielleicht beschissen darin, Gefühle zu haben, aber du
bist eine Expertin in ihrer Ausnutzung. Du nimmst dir, was du siehst, und nutzt es für dich. Ich habe dich beobachtet.« Er ging einen Schritt zurück, sodass er seinen Blick auf meine Augen richten konnte. »Du wusstest verdammt noch mal, was ich für dich empfand«, sagte er. »Du wusstest, in welche Richtung sich
das Ganze entwickeln würde, und hast mich ausgenutzt … so wie alle Soziopathen Menschen ausnutzen. Aber dir ging es nicht ums Geld oder Ruhm oder Macht.« Er beugte sich wieder näher zu mir hin. »Es ging dir um Gefühle. Und du hast mich ausgesaugt wie ein verdammter Vampir.«
Ich stand still, während mich ein komisches Gefühl überkam. Was war das? Ich konnte es nicht zuordnen. Es kam von weit her, ein unerwarteter Geruch, der eine lang vergessene Erinnerung wieder hervorrief. Ich drehte hektisch an meinem Farbkreis der Emotionen, um das passende Feld zu finden. Ich fand selten etwas Passgenaues, konnte aber meist doch mit etwas dienen, was nah genug dran war, um meinen Mangel zu übertünchen. Das hatte ich schon so viele Male gemacht. Warum ging das jetzt nicht? Und
dann realisierte ich es plötzlich. Ich starrte Max an, als ich die Reue verstand, die mein Bewusstsein überwältigt hatte. »Es … tut mir leid«, stammelte ich gerade noch. Max hatte recht. Ich war schuld. Ich hatte nicht die mir zugeschriebene Rolle gespielt, sondern die für mich komfortabelste. Wie ich es schon mein gesamtes Leben lang getan hatte. »Es tut mir leid«, sagte ich erneut. Und meinte es auch so. Er starrte mich einfach nur an und schaute nach einigen Sekunden weg. Er hob die Flasche an die Lippen und leerte sie in einem Zug, dann drehte er sich wieder zu mir. »Nee«, sagte er leise und schaute mir dabei in die Augen. »Aber du kannst es ziemlich gut faken.« Er ging davon und ließ mich allein zurück, damit ich die Ironie seiner letzten Spitze würdigen konnte.
Irgendwie schaffte ich es, mich inmitten all der wirbelnden Lichter und der Menschenmenge wieder zu sammeln. Ich lief schnurstracks zum Backstagebereich, quer durch die Menge und rempelte die Menschen auf dem Weg ein wenig doller an, als es nötig gewesen wäre. Ich stieg die Stufen zu Everlys Umkleide nach oben. Sie warf mir einen ungeduldigen Blick zu, als ich mich auf das Sofa neben ihrem Schminktisch fallen ließ. »Oh Mann«, sagte sie, während sie mich von oben bis unten betrachtete. »Was ist denn mit dir passiert?« Ich hob die Hände. »Im Ernst, ich wüsste nicht mal, wo ich anfangen sollte, das zu beschreiben«, sagte ich kopfschüttelnd zu ihr.
»Na ja, ich würde wirklich gern alles darüber erfahren«, begann sie, mit gütiger Neugier, »aber ich muss jetzt da raus und eine Show abliefern!« Sie sprang von ihrem Sitz auf und strahlte mich an. »Willste zuschauen?« Mit ausdruckslosem Gesichtsausdruck nickte ich in Richtung des Alkovens im Flur, von dem aus man von oben auf die Bühne schauen konnte. »Darf ich das von hier oben?« Everly lachte. Natürlich! Ich mag es, wenn du hier oben bist. Wie mein Schutzengel.« Ich stand mühsam vom Sofa aus. »Es tut mir leid, ich will keine Spielverderberin an deinem wichtigen Abend sein.« »Sei nicht albern. Ich bin wirklich froh, wenn es bald vorbei ist.«Sie lächelte. »Je schneller ich damit durch bin, desto schneller
können wir feiern.« Ich akzeptierte eine obligatorische Umarmung, als Everly sich für ihren Gang nach unten bereit machte. Dabei erhaschte ich einen Blick auf mein Spiegelbild.
»Bäh!«, sagte ich, davor zurückzuckend. »Ich seh ja aus, als hätte ich einen Exorzismus hinter mir.« Ich schüttelte den Kopf, als ich näher an den Spiegel herantrat. »Ernsthaft, ich habe das Gefühl, ich sollte mich taufen lassen oder so.« Everlys Gesicht tauchte oberhalb meiner Schulter im Spiegel auf. Sie legte den Kopf schief und grinste. »Was für eine entzückende Idee.«
Von Dorians am Hang gelegenen Infinity-Pool auf Stelzen überblickte man die Hollywood Hills, schwebte über der City, die wie eine Decke vom Himmel gefallener Sterne ausgebreitet unter einem lag. Ich holte tief Luft und tauchte ab, durchschnitt die Wasseroberfläche, bevor ich schließlich auf dem Boden des Pools zur Ruhe kam. Oh Mann, wie gern ich einfach dort unten geblieben wäre. Ich zählte, so lange und weit ich konnte, und stieß mich dann wieder in Richtung Oberfläche ab, schwamm zu Everly, die am
Rand des dazugehörigen Whirlpools saß. Sie sah traurig aus. »Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagte sie. Ich zog eine verdrossene Schnute. Es war fast drei Uhr morgens. Everly und ich waren nach dem bittersüßen Ende der letzten offiziellen Show zum Haus ihres Bandkollegen gefahren, um dort in den Konzertendorphinen zu baden. Die Stimmung war erst beschwingt gewesen. Everly und ihre Band waren feierwütig und überschwänglich, noch im siebten Himmel des Auftrittsrausches schwebend. Und ich ließ mich gern in ihrem Kielwasser der Emotionen treiben. Sobald aber ihr Adrenalin absank, tat dies auch meine Stimmung. Kurz nachdem wir für eine nächtliche Schwimmeinlage in den mondbeschienenen Pool gesprungen waren, erwischte ich mich dabei, wie ich wieder in die bekannte Apathie verfiel. Also nutzte ich die Gelegenheit, um das Pflaster in einem Rutsch abzureißen und Everly meine anstehende
Kündigung zu beichten.
»Ich wusste, dass du enttäuscht sein würdest«, sagte ich und schaute zu meiner Freundin hoch. »Aber ich kann das einfach alles nicht mehr.« Ich hielt inne und fügte noch hinzu: »Ich würde es verstehen, wenn du nicht mit mir befreundet bleiben wollen würdest.« Everly schaute mich an, als sei ich verrückt geworden. »Was zur Hölle, Patric? Du denkst, ich würde deswegen nicht mehr mit dir befreundet sein wollen?« Sie stupste mich für meine volle Aufmerksamkeit mit dem Fuß an: »Sei mal ehrlich. Fühlst du denn gar nicht, was ich dir gegenüber fühle? Weißt du nicht tief in dir drinnen, dass du – mehr noch als alles andere – meine beste Freundin bist und ich dich liebe?«
»Es ist nicht so, als würde ich das nicht fühlen«, erwiderte ich. »Ich traue dem eher nicht. Du verstehst es vielleicht nicht, aber nicht nur meine Interpretation von Liebe ist kaputt. Auch die der anderen.« Ich schüttelte den Kopf. »Menschen haben mich noch nie geliebt, Everly. Sie lieben die Finsternis in mir. Sie sehen sie und die Rücksichtslosigkeit und die emotionale Freiheit, und das zieht sie an. Sie wollen das auch für sich, also nehmen sie es sich. Sie nutzen mich dafür aus. Sie stehlen meine Ich-Stärke. Sie schwimmen auf meiner dunklen Welle mit. Und ich nutze sie im selben Zug genauso aus.« Ich legte den Kopf schief. »Aber irgendwann passiert eine von zwei Sachen: Entweder nervt es mich und ich kappe die
Verbindung, oder bei ihnen treten Schuldgefühle auf und ich werde zum Sündenbock ernannt.« Ich schaute finster, als ich die leichte Verärgerung in meiner Kehle aufsteigen spürte. Ich starrte sie trotzig an. »Und weißt du was? Ich habe die Schnauze voll davon.« »Voll von was?« »Ich habe keinen Bock mehr auf die Unsichtbarkeit«, fuhr ich fort, während mein Zorn weiter seinen Weg nach oben fand.
»Ernsthaft. Warum sollte ich diejenige sein, die sich hinter einer ›Maske der Vernunft‹ versteckt? Schließlich bin nicht ich die Verrückte.« Ich zeigte auf die Stadt zu unseren Füßen. »All diese
Menschen da draußen? Das sind die Verrückten. Die, die ihre eigene Finsternis leugnen. Die so tun, als sei Soziopathie eine ekelhafte Krankheit, die sie nie betreffen könnte. Diejenigen, die Scheiße über das Wort labern, als sei es nicht das unnahbare Mädchen in der Schule, das sie alle heimlich ficken wollen. Oder nachahmen wollen.«
Ich schaute wieder zu Everly und grinste höhnisch. »Ich mag eine Soziopathin sein, aber immerhin kann ich es akzeptieren. Aber die Leute da draußen?« Ich zeigte erneut auf die Skyline. »Die brauchen das echt gar nicht kommentieren. Genauso wenig wie die Depressionen … oder Angstzustände … oder PTBS. Und weißt du auch, warum? Weil ich kein verdammter Rorschachtest bin. Ich bin nicht dafür da, die Projektion ihres zugrunde liegenden Schwachsinns zu sein. Ich bin kein Selbstobjekt für
irgendeine verrückte Interpretation der Liebe, die sie für die einzig wahre halten.« »Aber die sind nicht alle verrückt, Patric«, beharrte Everly. »Ob du es nun glaubst oder nicht, aber es gibt Menschen auf der Welt,
die dich lieben. Menschen wie mich. Menschen wie David.« Ich ließ den Kopf hängen und dachte über diese unleugbare Tatsache nach, zeitweise abgelenkt von den glitzernden Reflektionen des Mondlichts auf der Wasseroberfläche. »Ich weiß«, gab ich zu. »Und tief in mir drin weiß ich auch, dass du mich liebst. Und ich weiß, dass David das auch tut.« Ich zuckte hilflos mit den Schultern. »Aber er akzeptiert mich nicht.« »Du hast aber mal gesagt, Max würde dich akzeptieren«, erinnerte mich Everly. »Und das hat nicht funktioniert.« »Weil er nur meine Finsternis akzeptiert hat«, erwiderte ich und hielt die Hände hoch. »Es ist, als wäre David zu weit links und Max zu weit rechts.« Ich hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Ich
muss die goldene Mitte finden.«
Everly sah verwirrt aus. »Und dort ist dann was?« »Ich.« Ich verstummte, während wir den Ernst dieser Aussage sacken ließen. »Ich bin eine Soziopathin. Ich befinde mich genau in der Mitte des Spektrums. Aber ich habe mein gesamtes Leben Nicht-Soziopathen als Kompass genutzt.« Ich schüttelte den Kopf.
»Erst wollte ich für meine Mom gut sein. Dann für David. Aber diese Strategie schlug jedes Mal fehl.« Ich atmete langsam ein. »In Wahrheit muss ich für mich selbst gut sein wollen. Ich muss für mich selbst gesunde Entscheidungen treffen wollen, weil ich deren Vorteile erkennen kann, und nicht, weil mich jemand dazu drängt.«
Ich kehrte Everly den Rücken zu und legte den Kopf auf der Poolkante ab. Ich starrte auf die riesige Betonplatte, die eine Seite des Hauses umgab, und musste wieder an Rothko und seine expressionistischen Farbfelder denken. »Es ist genauso, wie du mal gesagt hast. Ich bin eine Person mit
David, aber eine andere mit dir. Und letztlich fast schon unsichtbar für alle anderen. Das muss aufhören. Ich muss mich selbst akzeptieren, und zwar immer. Ich muss die Person sein, die ich immer bin. Nur so werde ich irgendwann mein Leben stabilisieren können.« Ich hielt inne und fügte dann hinzu: »Nur so werde ich jemals mein Leben mit jemand anderem teilen können.«
Ich schaute wieder aufs Wasser und realisierte: Es würde schwer werden, die Unsichtbarkeit vollständig aufzugeben. Dieser ultraviolette Aspekt meiner Persönlichkeit hatte auf so viele Arten meine Existenz geprägt. Er hatte mir Zugang zu den Menschen und Orten und Abenteuern gewährt, für deren Erleben viele andere alles geben würden. Ein Kaleidoskop an Erinnerungen schoss mir durch den Kopf. Die Beschaffenheit von Backsteinen in einem Untergrundtunnel, der Ausblick vom Balkon eines verlassenen Hotels. Ich lächelte bei der Erinnerung an Samsons Fell, durch das ich die Hand gleiten ließ, mit seinem Kopf in
meinem Schoß, einen gestohlenen Nachmittag genießend. Oder die
Nächte, in denen ich den von den Felsen des Laurel Canyons
zurückgeworfenen Klang von Miles Davis’ Trompete aus
geliehenen Lautsprechern vernahm, während ich durch die Hügel
raste. Ich schloss die Augen und bettelte mich selbst an, doch
einfach dankbar zu sein – für die Tatsache, dass mich die langen
Strecken des Alleinseins nicht störten, oder das Gefühl eines
Kleids einer Fremden auf der Haut. Es war definitiv ein
außergewöhnliches Leben. Unorthodox, aber außergewöhnlich.
»Und wann denkst du, legst du damit los?«, fragte mich Everly
und unterbrach verspielt meine Gedankengänge.
»Morgen«, antwortete ich. Und grölte dann die Songzeile aus
»Jane says« von den Jane’s Addiction: »Gonna kick tomorrow!«
Everly musste lachen. »Na, da hab ich Neuigkeiten für dich,
Süße. Wir haben schon morgen.«
Ich lehnte mich trotzig über die Seitenwand des Pools und ließ
ein schelmisches Grinsen aufblitzen. »Na, dann würde ich mal
sagen, sollte ich wohl besser loslegen.«
Daraufhin lachte Everly und schupste mich zurück, sodass ich
wieder unter die Wasseroberfläche rutschte.
Ich war schon komplett untergetaucht, bevor mir einfiel, dass
ich keine Luft geholt hatte. Ein Gefühl, wie mir dann bewusst
wurde, das schon vor langer Zeit mein Grundzustand geworden
war. Das Wasser schwappte über mir zusammen,
überschwemmte die Panoramasicht auf die Stadt. Unter der
Wasseroberfläche blitzte vor meinem inneren Auge noch einmal
diese künstlich wirkende Landschaft auf. Die Ränder des Bildes
flackerten kurz, dann sank es langsam in die Dunkelheit des
Wassers, bis es auch nur noch eine Erinnerung war.
EPILOG
Moderne Liebe
»Tante Patric«, fragte der kleine Junge. »Kann ich dir eine Frage
stellen?«
Über zehn Jahre waren ins Land gegangen und ich war bei
meiner Schwester. Wir hatten gerade das Thanksgiving-Essen
hinter uns und mein Neffe Harrison war ins Wohnzimmer
gelaufen gekommen, um sich neben mich zu setzen. Er betrachtete
mich neugierig, seine großen Augen konnten ebenso wenig wie die
Harlowes das Funkeln verbergen, das ich im Laufe der Jahre so
viele unzählige Male darin gesehen hatte.
»Ich weiß es nicht«, neckte ich ihn. »Kannst du das?«
Er runzelte die Stirn, über die sein weiches braunes Haar wie ein
Vorhang fiel.
»Hallo?«, stupste ich ihn mit sarkastischem Ton an. »Ich habe
nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Den ganzen Tag Zeit für was?«, fragte Harlowe, als sie und ihr
Ehemann Gibson sich dazugesellten. Sie ließ sich auf den Stuhl
neben mir fallen und griff nach meinem Weinglas. »Worüber redet
ihr?«
»Genau das würde ich auch gern wissen«, sagte ich. »Dein Sohn
sagt, er würde mir gern eine Frage stellen.«
»Oh, wirklich?«, spornte Gibson ihn an.
Harrison, der krampfhaft versuchte, ein Grinsen zu
unterdrücken, schaute mich mit leicht geneigtem Kopf von der
Seite an. »Tante Patric«, setzte er erneut an und schaute dabei
zögerlich seine Mutter an. »Bist du wirklich eine Diebin?«
Ich riss den Mund in falscher Überraschung auf und griff mir
mit der Hand an die Brust. »Eine Diebin?« Ich zog ihn zu mir auf
den Schoß. »Nein, ich bin keine Diebin!« Dann, ihm gerade laut
genug ins Ohr flüsternd, dass meine Schwester es auch hören
konnte, fügte ich hinzu: »Aber ich bin eine Lügnerin …«
»Ach du grüne Neue«, schnaubte Harlowe und nahm einen
großen Schluck Wein. Sie verdrehte die Augen und warf mir einen
wissenden Blick zu, als ihr Sohn sich kichernd von meinem Schoß
runterwand. »Das liegt an dem Artikel. Alle reden die ganze Zeit
darüber«, erklärte sie mir.
»Der Artikel« war ein Essay, den ich für die New York Times
geschrieben hatte, mit dem Titel: »He Married a Sociopath: Me«.
Er war vor einem Monat erschienen und hatte für ein wenig
Aufruhr gesorgt, denn darin hatte ich meine Diagnose der
Soziopathie offenbart – und einen plastischen Einblick in meine
Ehe gegeben.
»Redet ihr über die Kolumne?«, fragte meine Mutter, die gerade
den Raum betrat. Mein Vater tauchte aus der Küche neben ihr auf.
Ich hatte es immer zu würdigen gewusst, dass sich die beiden
trotz ihrer Scheidung weiterhin so nahestanden, aber noch nie so
sehr wie in den letzten paar Wochen. »Ich hab sie geliebt«, sagte
Mom. »Das war so spannend.«
»Liest du dir die ganzen Kommentare durch?«, fragte Dad und
setzte sich neben Harlowe.
Ich schüttelte den Kopf.
»Nicht?«, fragte Harlowe ungläubig. »Das sind Tausende! Der
Artikel wird überall auf Facebook und Twitter geteilt.«
»Oh, ich weiß das!«, rief mein Mann aus der Küche. Einen
Augenblick später gesellte er sich zu uns und schwang sich ein
Geschirrtuch über die Schulter. »Ich will ja wirklich cool bleiben«,
sagte David. »Aber ey, ich möchte ein paar von diesen
Arschlöchern einfach nur verprügeln.«
Ich lächelte ihn an. »Mein sensibler Mann. Was würde ich nur
ohne dich machen?«
Das war eine Frage, deren Antwort ich, wie ich vor langer Zeit
realisiert hatte, niemals erfahren wollte.
»Leck mich am Arsch«, grummelte ich vor mich hin.
Everlys letzter Gig im Roxy war einige Wochen her, ich stand im
Garten meiner Nachbarn und starrte auf den Balkon im zweiten
Stock. Ich wusste, dass sie kürzlich in einen »Last-Minute-
Skiurlaub« gefahren fahren. An dem Morgen ihrer Abfahrt legte
ich großen Wert darauf, ihnen zuzulächeln und
hinterherzuwinken.
Ihr Haus stand schon seit Jahren auf meiner Wunschliste. Ich
konnte von meinem Schlafzimmer aus auf ihren Balkon schauen
und hatte schon viele Nächte damit verbracht, mich dorthin zu
fantasieren. Direkt an meinem Fenster stand ein Zitronenbaum,
der unsere Grundstücke trennte. Ich konnte spätabends die Äste
am Glas entlangstreifen hören. Klopf-klopf-klopf. Es klang, als
würde ein Liebhaber vorsichtig anklopfen, um mich in
Versuchung zu führen. Und dem wollte ich mehr als gern
nachgeben.
Meine Ruhelosigkeit war seit Everlys letztem Konzert stetig
angestiegen. Trotz meines Entschlusses konnte ich meine Disziplin
nur schwer aufrechterhalten. Also dachte ich, wäre ein
Balkonausflug einfach genug – harmlos genug. Niemand käme
dabei zu Schaden und ich hätte, sobald ich damit durch war,
psychologisch gesprochen, eine saubere Leinwand zum Arbeiten.
Ich erinnerte mich kurz an meine Kiste voller gestohlener
Gegenstände in meiner Kindheit. Aber dann, während ich hier im
Garten stand und auf den Balkon starrte, überkam es mich. »Ich
bin kein verdammtes Kind mehr.«
Entnervt drehte ich mich um und ging zum Haus zurück. Ich rief
von meinem Handy aus Dr. Carlins Notfallnummer an.
Eine Woche später saß ich in ihrem Büro. »Ich will so nicht mehr
leben«, sagte ich. »Ich will nicht mehr andauernd das Gefühl
haben, dass ich auf destruktive Rezepte, also auf
Verhaltensweisen, die ich mir als verdammtes Kind zur Lösung
überlegt habe, zurückgreifen muss.« Ich seufzte. »Aber noch
wichtiger: Ich möchte nicht länger das Gefühl haben, dass so
Sachen wie Beziehungen und Liebe und Familie außerhalb meiner
Reichweite liegen, nur weil ich Gefühle nicht so wie alle anderen
›internalisiere‹.« Ich hielt inne. »Niemand mit irgendeiner
Diagnose sollte sich so fühlen.«
Ich wollte nicht länger Zeit verschwenden. Ich wollte ein
»normales« Leben führen. Ich wollte anderen dabei helfen, das
auch zu tun. Also einigten wir uns. Ich unterschrieb einen neuen
»Behandlungsvertrag«, in dem ich versprach, keinerlei illegalen
Handlungen mehr nachzugehen. Nur wollte ich mich dieses Mal
auch wirklich daran halten. Ich hoffte, ich würde gesündere
Bewältigungsstrategien finden. Ich wappnete mich für das
Gewicht der Apathie und wir machten uns an die Arbeit.
Mit den Armen voller Bücher und Kopien jeder einzelnen Studie,
die ich über die Behandlung von Soziopathie, Psychopathie und
Antisozialer Persönlichkeitsstörung finden konnte, erschien ich
bei meiner Therapeutin zu unserer (teils zweimal) wöchentlich
stattfindenden Sitzung. Gemeinsam steckten wir die Köpfe über
meine Fundstücke zusammen, diskutierten verschiedene
Therapiemethoden und Behandlungen.
Dr. Carlin, die ihre Ausbildung in der Psychodynamik gemacht
hatte, glaubte, dass unser Verhalten von unseren innersten
Gedanken, Erinnerungen und Trieben gelenkt würde. »Man kann
sein Verhalten erst ändern, wenn man das eigene
Unterbewusstsein erforscht hat«, sagte sie gern.
Obwohl das durchaus effektiv war, so kollidierte dieser
traditionelle Ansatz dann doch mit meiner nicht ganz so geringen
Ungeduld nach einer Lösung. Ich argumentierte, dass der erste
Schritt in jedem Plan zur Soziopathiebehandlung die Reduktion
des destruktiven Verhaltens sein musste.
»Ich stimme Ihrer Aussage zwar im Prinzip zu«, widersprach ich
nicht zum ersten Mal. »Aber Sie können doch nicht wirklich von
einem Soziopathen verlangen, dass er erst einmal die
Psychoanalyse durchläuft. Zur Hölle, nicht mal ich habe das!« Ich
hielt die Handflächen nach oben. »Alles ist das reinste
Zuckerschlecken, bis der Stress plötzlich ansteigt, und dann, das
kann ich Ihnen versprechen, ist es egal, welcher Therapie
zugestimmt oder welcher Vertrag unterzeichnet wurde oder bla
bla bla.« Ich schüttelte den Kopf. »Die Psychoanalyse kann Jahre
dauern. Und das ist auch okay, aber nur, wenn das Verhalten
unter Kontrolle ist.« Ich fuhr beharrlich fort: »Glauben Sie mir,
wir müssen erst das Verhalten angehen.«
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf entschied ich mich für die
kognitive Verhaltenstherapie (KVT). Statt nur unbewusste
Vorgänge zu identifizieren, sollen sich KVT-Patienten mit
bewussten Gedanken und Handlungen auseinandersetzen, sobald
sie auftreten. Es ist eine zielorientierte, realitätsbezogene
Herangehensweise, die klar und gut definierte Ziele und Aufgaben
braucht, um ungesunde Bewältigungstaktiken aufs Minimalste zu
reduzieren. Die kognitive Verhaltenstherapie konzentriert sich
zuerst auf das Management problematischer Verhaltensweisen
und spart sich die Erklärung für ihr Auftreten für einen späteren
Zeitpunkt auf. »Das ist eine vernünftige Herangehensweise an die
Psychologie«, argumentierte ich. »Perfekt für Soziopathen.«
Dr. Carlin blieb standhaft bei ihrem Glauben, dass die
Untersuchung des Unterbewusstseins in einer Therapie der beste
Weg sei, um Soziopathie effektiv behandeln zu können. Allerdings
gestand sie mir irgendwann zu, dass es hilfreich wäre,
gleichzeitig die unmittelbaren Probleme anzugehen. Im Gegenzug
stimmte ich ihr zu, dass die Untersuchung des Unterbewusstseins
enorm wertvoll für eine langfristig wirkungsvolle Behandlung der
Soziopathie sei. Letztlich vereinten wir unsere Kräfte.
Aus Tagen wurden Wochen. Ich füllte mein wissenschaftliches
Leben mit jedem Kurs, den ich zur kognitiven Verhaltenstherapie
und der Psychoanalyse finden konnte. Das, in Kombination mit
meiner selbstständigen Recherche zur Soziopathie und meiner
Arbeit im Beratungszentrum, ließ wenig Zeit für irgendetwas
anderes.
Monatelang verschwand ich in diesem therapeutischen
Hyperfokus. Ich aß, schlief und atmete Psychologie. Wenn ich
nicht an der Uni oder mit meiner klinischen Ausbildung
beschäftigt war, war ich in Therapie. Dr. Carlins
psychodynamische Techniken, zusammen mit den kognitiven
Verhaltensinterventionen, stellten sich bei der Reduktion meiner
soziopathischen Ängste als überaus effektiv heraus. Wie ich
vermutet hatte, war das Verständnis der Wurzeln und die
Akzeptanz der Symptome ein riesiger Faktor dabei.
Auch wenn ich schon lange vermutet hatte, dass mein »Druck«
und der daraus resultierende Trieb zum destruktiven Verhalten
ein üblicher soziopathischer Kreislauf waren, war ich nie den
nächsten Schritt gegangen und hatte die Ursprünge untersucht.
Jetzt aber fing ich mit Dr. Carlins Hilfe an, meine Erfahrungen zu
entpacken. Wir verfolgten meine Schritte zurück, um
herauszufinden, wann ich das erste Mal den Druck verspürt
haben könnte. Ich erinnerte mich daran, dass ich andere Kinder
bei ihren emotionalen Reaktionen auf Dinge beobachtet und das
starke Gefühl hatte, ich müsste auf die gleiche Art (re-)agieren.
Diese Angst war bereits früh, während der Kindergartenzeit,
aufgetreten.
Da war schon immer ein Unwohlsein in meinem Bauch gewesen,
wenn ich mich einer Situation gegenübersah, die eine emotionale
Reaktion erforderte. Meilensteine waren da besonders schwierig.
Umstände, die bei anderen normalerweise extreme Glücksgefühle
auslösten, gingen mit der unvermeidlichen Erwartung von
gezeigten Emotionen einher. Schlimmer jedoch war meine immer
wieder zerstörte Hoffnung.
In der Therapie schilderte ich, wie ich mich an dem Tag gefühlt
hatte, als ich mein Abschlusszeugnis von der Highschool erhalten
hatte. Ich erinnerte mich an den Gedanken: Vielleicht ist heute
endlich der Tag. Er war es aber nicht. Nach der Zeremonie wollten
alle von mir wissen, wie ich mich gefühlt hatte, aber ich traute
mich nicht, ehrlich zu antworten: »Tatsächlich fühle ich einfach
gar nichts. Diese ganze Sache war wenig mehr als eine weitere
piesackende Erinnerung daran, dass ich wahrscheinlich ein Leben
lang nichts fühlen werde. Wenn du also nichts dagegen hast,
würde ich jetzt gern die Party auslassen, um stattdessen in eine
verlassene psychiatrische Klinik einzubrechen, die ich mir für
einen besonders emotionalen Schuss aufgehoben habe.«
Diese Erinnerungen stellten das Fundament für mein
wachsendes Verständnis dar. Ich ging an meine Erinnerungen ran
wie an meine Recherchen, sammelte Beweise und ordnete sie wie
zu einem Wegweiser zu mir selbst an. Dann nutzte ich das
kognitive Journaling, um die Gegenwart mit der Vergangenheit zu
verknüpfen.
Das kognitive Journaling ist in der KVT eine Technik, bei der die
Patienten ihre Handlungen, Glaubenssätze und Reaktionen
festhalten müssen, um Muster, Stimmungen und Triebe isoliert
betrachten zu können. Ich nutzte dafür ein Notizbuch und schrieb
dezidiert in Echtzeit alles auf, sobald ich Ängste verspürte, was
vor den Gefühlen gewesen war und welche Zwänge sie auslösten.
Je bewusster ich mir meiner eigenen destruktiven psychologischen
Muster wurde (das betraf sowohl die vergangenen als auch die
jetzigen), desto geschickter wurde ich darin, auf sie einzugehen.
KVT bot mir einen besseren Umgang mit meinen Zwängen. Bei den
(immer seltener auftretenden) Gelegenheiten, wenn ich das Gefühl
des Drucks (sowie den darauffolgenden Trieb, danach zu handeln)
verspürte, konnte ich jetzt gesündere Methoden zur
Stressreduktion anwenden.
Eine KVT-Technik war besonders hilfreich für mich:
Konfrontationstherapie. Dabei werden Patienten dazu ermutigt,
sich bewusst den angstauslösenden Stressoren auszusetzen,
indem sie sich absichtlich stressigen Situationen stellen. Damit
hilft man primär den Menschen, die Quellen ihrer Angst zu
erkunden, statt einfach nur auf sie zu reagieren. Jedoch entschied
ich mich für eine etwas andere Nutzung dieser Technik.
Ich wusste, dass die Angst nur ein Teil des soziopathischen
Puzzles war. Mein Bedürfnis, schlecht zu handeln (sowohl
freiwillig als auch zwanghaft), war eine andere Sache, die ich
noch verstehen und, besser noch, unter Kontrolle bekommen
musste. Ich dachte mir, dass mir das am besten durch die
wiederholte Konfrontation mit den Orten und Dingen gelänge, die
meine Triebe triggerten. So war Ginnys Haus zum Beispiel ein Ort,
an dem mein Drang, etwas Schlechtes zu tun, ohne Mühe
ausgelöst werden konnte. Dr. Carlin widersprach meinem
Wunsch, dorthin zurückzukehren, aber ich blieb eisern, dass die
wiederholte Konfrontation mit diesem Umfeld es mir erlauben
würde, meine Zwänge zu beobachten, statt ihnen untertan zu
sein. Also machte ich erneut wöchentliche Ausflüge in Ginnys
verschlafenes Vorortnest.
Gleich beim ersten Besuch fiel mir Erstaunliches auf. Ich merkte,
dass mein Magen bereits bei der Autobahnabfahrt anfing zu
flattern. Meine Hand machte instinktiv das Radio aus, um mir
einen vollständigen Fokus auf meine Sinne zu ermöglichen. Als ich
die Einfahrt in Ginnys Wohnanlage durchfuhr, überkam mich die
Apathie und verdrängte jeglichen Hauch von Gefühlen. Ich parkte
auf dem vertrauten Parkplatz und betrachtete mich im
Rückspiegel. Als Erstes fiel mir die subtil hervortretende
Halsschlagader auf. Ihre Bewegung war zwar schwach, aber
deutlich unter meiner Haut zu erkennen, als das Blut gleichmäßig
direkt unterhalb der Oberfläche durchgepumpt wurde. Meine
Wangen waren gerötet. Das einzige Geräusch im Auto kam aus
meinem Mund, weil ich meinen Atem schnell zwischen meinen
Lippen ein- und ausstieß. Auch wenn ich dem vorher nie
Aufmerksamkeit geschenkt hatte, fiel mir jetzt auf, dass meine
physische Reaktion auf den Anstieg der Apathie – und die Nähe
zur Finsternis – Erregung war. Ich war immer so sehr mit der
Reaktion darauf beschäftigt, dass ich das nie erkannt habe.
Ich umschloss den kalten Metallgriff der Autotür. »Sechzig
Minuten«, sagte ich. »Du wirst sechzig Minuten lang hier sitzen
und dann nach Hause fahren.« Und das tat ich auch.
Jede Sekunde dehnte sich zu einer Ewigkeit aus. Ich starrte auf
die Uhr, während die Zeiger weitertickten, zwang mich dazu,
meine Gedankengänge und unterbewussten Triebe zu beobachten,
während sie aus den Tiefen meines psychologischen Abgrunds
aufstiegen. Ich schrieb alles, was mir au el, in mein Notizbuch.
Nach einer Weile konnte ich mich jedoch nicht mehr
konzentrieren. Ich schaffe das nicht, dachte ich. Ich fühlte mich
gefangen und frustriert. Ich würde nicht das tun, was ich am
liebsten getan hätte, also aussteigen und das Gefühl der
psychologischen Klaustrophobie mit einem Ausflug in Ginnys
Garten loswerden. Je länger ich im Auto saß, desto schlimmer
wurde das Bedürfnis. Und ich konnte nicht schnell genug
wegfahren, als die Stunde endlich rum war.
Nach einigen Besuchen konnte ich jedoch erleichtert feststellen,
dass die Reaktion weniger ausgeprägt wurde. Der Trieb, auch
wenn er oft noch vorhanden war, fühlte sich mehr wie ein
Hungergefühl an, eher wie ein harmloses biologisches Zupfen
statt wie ein komplexer soziopathischer Zwang. Mithilfe des
kognitiven Journalings konnte ich meine Vergangenheit mit dem
eingeklemmten Stress entwirren und stellte dabei fest, dass das
Gefühl der psychologischen Klaustrophobie (sowie das daraus
resultierende Handlungsbedürfnis) ein sehr, sehr alter Kreislauf
war. Ich hatte, solange ich denken konnte, gänzlich destruktiv auf
ähnliche Gefühle reagiert.
Warum mache ich das also immer noch?, fragte ich mich. Ich
brauchte destruktives Verhalten gegen Angst so sehr wie Kinder
ihre Schwimmflügel gegen das Ersaufen im Pool. Ich muss
einfach, verdammt noch mal, schwimmen lernen.
Es sollte sich als kritischer Teil meiner soziopathischen
Behandlung herausstellen, dass ich in apathischen Wassern das
Schwimmen erlenen musste. Mein gesamtes Leben lang hatte ich
versucht, die Apathie, diese primäre soziopathische Eigenschaft,
zu vermeiden, und das aus gutem Grund. Je mehr ich darauf
achtete, desto mehr fiel mir auf, wie oft »Apathie«,
»Gefühlsmangel« und das Wort »Soziopath« mit etwas Bösem
assoziiert wurde. Überall. Sei es in gefeierten Büchern wie Jenseits
von Eden und Der Soziopath von nebenan bis hin zu
preisgekrönten Filmen wie Das Schweigen der Lämmer und
American Psycho, immer war die Charaktermischung eines
Soziopathen fast ausschließlich den »schlechten« Menschen
vorbehalten. Jedoch blieben diese eindimensionalen
Darstellungen nicht nur auf Fiktives beschränkt. Jedes Mal, wenn
ein sensationelles Verbrechen verübt worden war, das die Nation
in Atem hielt, oder wenn ein Politiker herzlose Indifferenz für
seine Wähler zur Schau stellte, dann beeilten sich selbst die
angesehenen Journalisten damit, eine »Soziopathie« zu
diagnostizieren – ganz ohne Ausbildung oder Qualifikation.
Soziopathische Kinder wurden ebenso verdammt, selbst von
vielen meiner Ärztekollegen, die sich lautstark zu ihren
»bevorzugten« pädiatrischen Störungen äußerten. In einer
Gruppensupervisionssitzung erklärte eine meiner
Mitpraktikantinnen: »Ich hätte lieber ein Kind mit Krebs als mit
Soziopathie.« Andere nickten in zurückhaltender Zustimmung.
Währenddessen saß ich wie eingefroren da, überrumpelt von
einem ungewohnten Gefühl: einem tiefgründigen Gefühl der
Traurigkeit.
Ihr Eingeständnis war genau die Meinung, die ich mein ganzes
Leben lang zu spüren bekommen hatte. Ob sie es nun merkten
oder nicht, aber meine Eltern, meine Freunde, meine Lehrer,
meine Liebhaber – auf irgendeinem Level fühlten sich alle unwohl
mit meinen reduzierten Emotionen. Weil es etwas Unheimliches
implizierte. Weil sie wie der Rest der Welt darauf gepolt worden
waren, zu glauben, Soziopathen seien scheußlich, seien das
Schlimmste, was Eltern passieren könnte.
In diesem Augenblick wäre ich am liebsten in der Zeit
zurückgereist, zu dem Kind, das ich gewesen war, und hätte mein
Gesicht in die Hände genommen. »Du bist nicht schlecht«, hätte
ich gern gesagt. »Ich schwöre bei Gott, dass du ein gutes Kind bist,
ein liebes Kind. Und lass dir bloß von niemandem etwas anderes
einreden. Warte auf mich«, hätte ich es gern gebeten. »Warte auf
mich und ich beweise es dir.«
Ich wusste aber, dass Zeitreisen unmöglich waren. Das Einzige,
was ich machen könnte, wäre, zum Haus meiner Mitpraktikantin
zu fahren, um mit Kochsalz die Buchstaben »B-I-T-C-H« in den
Rasen ihres Vorgartens zu brennen. Und dann später zu Hause
Bilanz über meine Selbstwahrnehmung zu ziehen. Nach einiger
Überlegung wurde mir klar, dass ich vielfach genauso häufig wie
die Menschen um mich herum in sich wiederholenden negativen
Gedankenschleifen über Soziopathie feststeckte. Ich muss
bewusster darüber nachdenken, wie ich mich selbst sehe, dachte
ich. Nur so würde ich jemals mein Identitätsgefühl als
Erwachsene neu ausrichten können: mithilfe der
Deprogrammierung eines jahrzehntealten Glaubenssystems, eines
falschen Narrativs, das mit allen möglichen unterschwelligen
Fehlinformationen aufgebaut worden war, auf deren Erhalt ich
keinen Einfluss hatte.
Dafür nutzte ich die KVT-Technik der kognitiven
Umstrukturierung, bei der die Patienten ihre ungewollten
negativen Gedanken festhalten und dann widerlegen sollen. Ich
formulierte all diese automatischen negativen Gedanken und
zwang mich dazu, einen faktenbasierten Gegengedanken
aufzuschreiben.
»Ich fühle nichts«, stand in einem Eintrag. »Und wenn ich nichts
unternehme, um ein Gefühl hervorzurufen, wird es nur noch
schlimmer. Die Apathie zwingt mich dann zu einer schlimmen
Handlung.«
»Ich fühle nichts«, schrieb ich in meinem Gegengedanken. »Aber
es gibt auch keinen Beweis dafür, dass die Apathie ein
gefährlicher Bewusstseinszustand ist. Menschen gehen zum Yoga
und geben Tausende Dollar für Meditationskurse aus, um dort zu
lernen, wie sie Sachen loslassen und nichts fühlen können. Ich
aber mache das jeden Tag. Kostenlos.«
»Ich hasse Menschen«, stand in einem anderen Eintrag.
»Ich hasse Menschen nicht«, antwortete ich mir selbst. »Ich
hasse, dass Menschen ihre Gefühle und Unsicherheiten und
Wertungen auf mich projizieren. Ich muss aber die Projektionen
anderer nicht akzeptieren und muss auch keine gefakten
Interaktionen ertragen, um meine Soziopathie zu verstecken. Ich
bin völlig zufrieden mit meinem Dasein als antisoziales Wesen.
Und ich scheiße auf alle, die damit ein Problem haben.«
Ich lächelte, strich den letzten Satz durch und korrigierte: »Und
alle, die damit ein Problem haben, sollten nicht mit mir, sondern
mit jemand anderem rumhängen.«
Je mehr ich diese – und andere – negativen Gedankenmuster
strukturierte, desto besser konnte ich mich ohne das Gewicht der
Negativität, die meinem tiefsten Inneren so eigen war, durch die
Welt bewegen. Diese Selbstbefreiung war höchst erfreulich. Als
würde ich nach Jahrzehnten des Kriechens endlich das Laufen
lernen.
Meine Ausflüge zu Ginnys Wohnsiedlung waren daher eine sich
entwickelnde Erfahrung. Ich fühlte mich nach wie vor nicht
schuldig dafür, dass ich dort war. Oder empfand in irgendeiner
Form Scham oder Sorge. Ich fühlte nichts. Nur, dass ich jetzt
dieses Gefühl des Nichts mochte.
»Es ist entspannend«, gab ich Dr. Carlin gegenüber zu. »Ich fahre
da einfach hin und sitze auf dem Parkplatz, ich fühle nichts dabei
und das ist wunderbar, so wie vorher. Nur dass ich mich jetzt
nicht mehr wie eine verdammte Verrückte verhalte.« Sie spitzte
die Lippen und ich lachte. »Sie wissen, was ich damit meine.«
Ich ging jetzt seit sechs Monaten wieder zur Therapie und wir
hatten gerade unsere reguläre spätnachmittägliche Sitzung. Sie
war zufrieden mit meinem Fortschritt, aber immer noch
unglücklich über meine Besuche bei Ginny.
»Und das ist auch der Grund, weshalb Sie da nicht mehr
hinmüssen«, beharrte sie. »Ich glaube, wir sind uns einig darüber,
dass Sie diesen bestimmten Trigger besiegt haben.«
Ich nickte. »Aber es ist sogar noch besser, denn es fühlt sich eher
so an, als würde ich mich in ihn hineinknien.« Ich hielt kurz inne,
um meine Gedanken zu sammeln. »Ich genieße es, nichts zu
fühlen. Wirklich. Ich glaube, das habe ich immer. Ich hatte nur so
viel Angst davor, was es bedeutete, nichts zu fühlen, was es
bedeutete, eine Soziopathin zu sein. Und der einzige Grund dafür
war die Reaktion anderer Leute auf meine Apathie. Meine Angst
vor ihrer Angst brachte mich dazu, Dinge zu tun, die ich gar nicht
tun wollte. Nicht tun musste.« Ich schaute zum Fenster raus, auf
den vertrauten Umriss der Bäume um den Park herum, und
schüttelte den Kopf. »Was für eine absolut beschissene
Zeitverschwendung.«
»Dennoch haben Sie hart daran gearbeitet, Ihre Probleme zu
überwinden. Sie sollten stolz auf sich sein, Patric«, erwiderte
Dr. Carlin und schloss ihr Notizbuch. »Sind Sie es?«
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich war zum Großteil
begeistert darüber, wie weit ich gekommen war. Ich hatte das
Gefühl, dass ich meine Persönlichkeitsstörung endlich im Griff
hatte. Endlich konnte ich effektiv mit den Herausforderungen
meiner Symptome mithilfe von gesunden
Bewältigungsmechanismen umgehen. Nur gab es ein Problem: Ich
hatte noch nichts von diesem Fortschritt in der realen Welt
getestet.
Meine neueste Therapieerfahrung war wie ein Aufenthalt in
einem schicken Rehazentrum. Das Umfeld, in dem ich meinen
gesamten jüngsten Fortschritt gemacht hatte, war, aus
psychologischer Sicht, hermetisch abgeriegelt. Eingeschlossen in
meiner kleinen Blase aus Uni, Recherche und Therapie hatte ich
mich noch keiner Versuchung des Alltags oder den Dämonen
gestellt, die in der realen Welt auf mich warteten.
Dr. Carlin war still, während ich ihr meine Bedenken darlegte.
»Was ist also Ihre größte Angst?«, fragte sie. »Welcher größte
Alltagstest macht Ihnen bezüglich einem möglichen Versagen am
meisten Angst?«
Sein Name rutschte mir über die Lippen, bevor ich richtig
darüber nachdenken konnte: »David.«
Je weiter ich in der Therapie vorankam, desto sicherer war ich
mir: Er war der Mann, mit dem ich mein Leben verbringen wollte.
Ich hatte fast sofort, als ich gegangen war, gewusst, dass ich zu
ihm zurückkehren würde. Ich wusste jedoch auch, dass es der
älteste – und bei Weitem stärkste – Trigger meiner Angst war, für
jemand anderen »gut« zu sein.
»Deswegen ist es so wichtig, dass Sie sich dem stellen«,
versicherte mir Dr. Carlin. »Glauben Sie etwas mehr an sich
selbst. Und auch an David.« Sie hielt inne, bevor sie fragte:
»Hatten Sie überhaupt Kontakt seit dieser Nacht?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
Sie lächelte. »Was könnte er Ihrer Meinung nach sagen?«
In der Nacht, in der ich genau das herausfinden wollte, machte
ich das unangekündigt. Nach mehreren Tagen des Ausspähens
wartete ich, bis ich mir sicher war, dass er allein zu Hause war.
Dann klingelte ich an der Tür.
»Schön, dich kennenzulernen«, platzte es aus mir heraus, als er
die Tür öffnete. David wollte etwas erwidern, aber ich unterbrach
ihn. »Ich heiße Patric und bin eine Soziopathin.«
Er verschränkte die Arme, aber ich sah den Hauch eines
Lächelns auf seinen Lippen.
»Ich fühle nicht so wie andere Menschen«, fuhr ich fort. »Ich bin
nicht sonderlich empathiebegabt und muss noch daran arbeiten,
die Wahrheit zu sagen. Ich mag Zuneigung nicht sonderlich doll.
Eigentlich überhaupt nicht, ehrlicherweise. Ich mache gern Unfug
und muss mich aktiv dagegen entscheiden. Und das täglich. Wie
eine Alkoholikerin. Wenn ich weine, ist es fast immer gefaket.« Ich
hielt den Finger hoch, weil ich wusste, dass ich bei ihm noch etwas
hinzufügen musste: »Außer wenn ich ›Sailing‹ von Christopher
Cross höre, weil es mich an mein erstes Haus in San Francisco
erinnert, von dem aus ich die Golden Gate Bridge sehen konnte.«
Ich holte tief Luft.
»Menschen, die unbedingt gemocht werden wollen, nerven mich
zu Tode, und ja, ich weiß, dass du jetzt denkst, dass das auf die
meisten Menschen zutrifft und dass ich mich auf der falschen
Seite dieser Diskussion befinde, aber ich kann es nicht ändern.«
Ich holte wieder Luft. »Wenn wir schon dabei sind: Freundlichkeit
wurde mir nicht in die Wiege gelegt. Ich kann sie vortäuschen,
aber nicht allzu lange, weil es mich ermüdet. Ich mag Hunde nicht
besonders gern. Oder Kinder. Ich werde nie eine dieser Frauen
sein, die ›mal das Baby halten‹ wollen, wenn das Sinn ergibt.«
David biss sich auf die Zunge, um ein Grinsen zu unterdrücken.
Ich hatte einen Lauf. »Oh! Und ich werde richtig ungeduldig mit
Leuten, die ihre Entscheidungen auf Basis anderer Meinungen
treffen. Ich schäme mich nicht, bereue fast nichts und es ist mein
Grundzustand, absolut nichts zu fühlen.« Ich schluckte nervös.
»Und da sind wahrscheinlich noch eine Million andere Sachen, die
ich jetzt vergessen habe. Aber das bin ich und mir geht’s gut
damit«, sagte ich. »Ich mag mich. Und ich habe die Hoffnung, dass
du mich vielleicht auch mögen könntest. Denn ich würde es
wirklich vorziehen, mein Leben nicht ohne dich verbringen zu
müssen.«
David zog mich an sich und küsste mich. Mein Körper
entspannte sich an seiner Brust. Nur wenige Augenblicke zuvor
waren meine Gedanken ein Haufen unsortierter Puzzleteile
gewesen, aber jetzt ergaben sie wie von allein ein Bild. Er drückte
seine Stirn an meine, als wir eine Weile stillschweigend nur
dastanden. Dann zog er mich in eine weitere Umarmung, in eine
viel innigere.
»Ich liebe dich«, flüsterte er mir ins Ohr.
Ich gab ihm einen Kuss auf den Hals. »Ich liebe dich auch«, sagte
ich. Ich ließ ihn mich noch einen Augenblick lang umarmen, bevor
ich hinzufügte: »Aber ich hasse Umarmungen.«
Seine Arme lockerten sich, aber er ließ mich noch nicht los. Er
schaute mir in die Augen und fragte: »Ernsthaft?«
»Ja!«, sagte ich und versuchte, die lockere Atmosphäre
beizubehalten, als ich mich aus seinem Griff wand. »Genau davon
sprach ich gerade«, erklärte ich. »Ich liebe dich, aber es gibt
Aspekte an mir, die sind einfach anders. Nicht falsch. Und nicht
weniger. Einfach anders.«
Aber David schaute über meine Schulter, abgelenkt. »Wessen
Auto ist das da?«, fragte er.
Ich seufzte. »Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?«
»Ja, aber wessen Auto ist das?«, fragte er erneut.
Ich warf einen Blick zurück auf die Einfahrt und zuckte mit den
Schultern. »Von irgendeinem Typen. Ich weiß es nicht. Hab’s mir
letzte Nacht geschnappt.«
David starrte mich an. »Was?!«
»Es gehört mir«, gab ich trocken zu. »Ich hab es vor ein paar
Monaten gekauft.«
»Himmel, Patric.« Er atmete lautstark aus. »Warum musst du
mir so einen Schrecken einjagen?«
»Weil ich es hasse, wenn du einfach so das Thema wechselst! Wir
befanden uns gerade mitten im Gespräch!«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist unfair.«
Ich seufzte. »Ich weiß«, erwiderte ich und nahm seine Hand.
»Und ich werde daran arbeiten. Aber du musst auch an ein paar
Dingen für mich arbeiten.« Ich holte noch einmal tief Luft. »Ich
glaube, wir sind füreinander gemacht, wenn wir aber zusammen
sein wollen, brauchen wir Hilfe.«
»Du meinst so was wie einen Therapeuten?«
»Japp.«
David runzelte zweifelnd die Stirn. »Welche Art Therapeut kann
mir denn dabei helfen, zu wissen, ob du ein Auto geklaut hast
oder darüber nur Witze machst?«
»Eine sehr besondere Art Therapeut«, sagte ich zu ihm mit
verschmitztem Grinsen. »Und ich kann es kaum erwarten, bis du
sie kennenlernst.«
David ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Ich habe schon
viel über diesen Ort gehört«, sagte er. Wir befanden uns in
Dr. Carlins Büro für unsere allererste Paartherapiesitzung. Sie
hatte der Arbeit mit uns zugestimmt, aber unter einem Vorbehalt.
»Wenn ich Ihre Therapeutin bleiben soll, dann muss David auch
Einzeltermine wahrnehmen«, hatte sie gesagt. »Es ist wichtig,
dass er sich nicht außen vor fühlt.«
David ging voller Enthusiasmus an die Abmachung heran,
überzeugt davon, dass Dr. Carlin seinen prosozialen Blickwinkel
teilen würde. Er war völlig überengagiert bei diesem ersten
Treffen.
»Mir geht’s gut«, sagte er, nachdem Dr. Carlin ihn gefragt hatte,
wie er sich fühle. »Ich liebe Patric so sehr und will, dass das hier
funktioniert. Ich sehe das Gute in ihr. Das habe ich immer.« Er
drückte meine Hand. »Ich werde alles dafür tun, dass sie es auch
sieht.«
Sie holte tief Luft und ich biss mir auf die Lippe, um ein
spöttisches Lächeln zu unterdrücken. Ich schaute nach unten,
aber ich konnte spüren, dass Davids Blick zwischen ihr und mir
hin- und hersprang.
»Was denn?«, fragte er schließlich.
Sie nickte ihm freundlich zu und begann: »Ich weiß, wie sehr Sie
Patric lieben, aber der Sinn hinter einer Paartherapie ist nicht,
Patric zu helfen.« Dr. Carlin ließ das kurz sacken. »Wir sind hier,
um uns auf Ihre Beziehung zu konzentrieren. Ich möchte, dass Sie
beide als Paar aufblühen, mit einer glücklichen, gesunden
Dynamik.«
»Ich auch!«, beharrte David. »Das ist alles, was ich je wollte.«
»Solange ich mich wie ein gutes kleines Mädchen verhalte«, sagte
ich.
Dr. Carlin warf mir einen strengen Blick zu. »David, Sie haben
gesagt, dass Sie Patric lieben und das Gute in ihr sehen.«
»Ja, genau, das tue ich. Habe ich immer«, erwiderte David.
Sie nickte und drehte sich dann zu mir: »Patric, was hören Sie,
wenn er das sagt?«
Ich atmete hörbar aus. »Ich höre dann, dass du mich liebst, trotz
all der Dinge, die du über mich weißt. Ich höre, dass deine Gefühle
mir gegenüber an Konditionen gebunden sind. Dass du mich für
all das liebst, was ich sein könnte oder wozu ich – laut dir – das
Potenzial habe, es zu sein, aber nicht für das, was ich jetzt gerade
bin.«
»Das stimmt nicht«, sagte er. Dann, an Dr. Carlin gerichtet:
»Schauen Sie, ich weiß, dass sie Probleme hat. Ich will ihr helfen.
Ich will, dass sie so an sich glaubt, wie ich das tue …«
»Aber ich glaube an mich selbst!«, platzte es aus mir heraus,
sodass er sich erschreckte. »Ich ›glaube‹ nur nicht auf dieselbe Art
wie du. Ich brauche deine Hilfe nicht, um gut oder besser oder
was auch immer du denkst, dass ich es sein ›sollte‹, zu sein. Ich
bin eine Soziopathin, David. Und keine Menge an ›Unterstützung‹
oder ›Hilfe‹ von dir wird das je ändern können. Und selbst, wenn
sie es könnte, würde ich es nicht wollen!«
Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Dr. Carlin
verärgert an.
»David. Was haben Sie gerade Patric sagen hören?«, fragte sie
ihn.
»Dass sie sich nicht verändern muss«, platzte es verärgert aus
ihm raus. »Und dass es egal ist, was ich möchte. Dass ich egal bin.
Ich bin unwichtig und es macht keinen Unterschied, wie sehr ich
sie liebe oder wie sehr ich mich sorge. Denn irgendwie zählt nur,
dass es ihr egal ist. Sie ist eine ›Soziopathin‹, also wird sie einfach
eh das machen, was sie will.«
Dr. Carlin beobachtete mich, wollte meine Reaktion sehen, aber
ich starrte nur geradeaus. Sie sah zu David hinüber, dann wieder
zu mir.
»Nun gut«, sagte sie. »Sieht so aus, als hätten wir viel Arbeit vor
uns.«
David griff nach meiner Hand. »Also packen wir es an.«
»Okay«, sagte ich und holte tief Luft. »Okay.«
Es war nicht einfach. Monatelang wirkte es so, als würden wir in
der Therapie immer nur streiten. David, das musste man ihm
zugutehalten, arbeitete hart in seinen Einzelsitzungen mit
Dr. Carlin und wurde sich seiner eigenen Beteiligung an unserer
vorherigen Dysfunktionalität bewusster. Er gestand sich endlich
seine Probleme mit meiner Apathie ein und gab zu, dass er oft
herablassend und kritisch gewesen war, wenn ich nicht auf die
Weise, die er von mir erwartet – oder gebraucht – hätte, auf seine
Liebe reagierte.
»Ich glaube, was da dann passiert ist, ist Folgendes: Ich habe
meine Gefühle auf dich projiziert, weil du wie so eine weiße
Leinwand bist«, gab er zu. »Dadurch kann ich die Verantwortung
für meine eigenen Gefühle von mir weisen. Wenn ich dann also
wütend auf dich bin, tue ich so, als seist du die Wütende. Wenn ich
bestürzt bin, frage ich dich, was los sei.« Es war spannend, ihm
bei der Verarbeitung all dieser Punkte zuzusehen. Er erklärte
Dr. Carlin: »Ich glaube, ich nutze ihren Persönlichkeitstypus als
Entschuldigung. Ich will, dass sie es genauso kümmert wie mich,
und dann werde ich sauer, wenn sie das nicht tut.«
»Das liegt daran, dass du es immer noch als Entscheidung
darstellst, was mich rasend macht. Also ködere ich dich in
Streitigkeiten, denn ich weiß, wann du unehrlich zu dir selbst bist,
und das nutze ich aus. Dann kann ich destruktiv sein, weil ich
weiß, dass du dir selbst die Schuld geben wirst.«
David sah traurig aus. »Ich gebe mir wirklich die Schuld.«
»Ich weiß«, erwiderte ich. Und versprach dann: »Ich werde also
versuchen, das nicht mehr zu machen.«
Solche Eingeständnisse wurden, auch wenn sie zuerst nur in den
Sitzungen ausgelöst wurden, immer mehr zu einem Teil unserer
Alltagssprache. David hielt sein Wort und arbeitete hart, nicht
nur, um meinen Persönlichkeitstypus besser zu verstehen,
sondern auch, um mit anderen empathischer umzugehen, die
damit noch ihre Probleme hatten. Auf Dr. Carlins Vorschlag hin
recherchierte er online zur Soziopathie. Erst bot er mir an, mir
bei der Analyse der Daten für meine Doktorarbeit zu helfen. Als
ich diese dann fertig geschrieben hatte, las er jede einzelne der
hunderten Seiten unzählige Male Korrektur. Und als ich meinen
Abschluss in der Tasche hatte, recherchierte er auf eigene Faust
weiter.
Wie ich schon lange vermutet hatte, waren die empirischen
Daten über die Soziopathie Davids Weg hin zum Verständnis. Je
mehr er las und erfuhr, desto mehr unterstützte er mich. Er
begriff nun, dass ich anders, aber nicht beschädigt war. Und, was
noch wichtiger war, er nahm unsere Unterschiede nicht mehr
persönlich. Sein Verständnis meines Persönlichkeitstypus
erlaubte es ihm, die Dinge objektiv anzugehen. Er wurde weniger
reaktiv und somit empathischer.
Was mich anging: Ich erhöhte meine Anstrengungen, ihm eine
prosoziale Partnerin zu sein. Immerhin war David ein
emotionaler Mensch. Sozial. Liebevoll. Nett. Ich gab mir also
größte Mühe, ihm, so sehr ich konnte, gleichzukommen. Und dabei
wurde mir bewusst, dass ich meine eigenen Vorurteile hatte,
unterbewusste Bewertungen der Menschen, die anders waren als
ich.
»Ich vertraue Menschen nicht, die übertrieben nett sind«,
bemerkte ich eines Tages in der Therapie. »Ich meine, ich traue
ihnen wirklich nicht. Wenn jemand so richtig super nett zu mir
ist, will ich der Person ins Gesicht schlagen.«
»Mir auch?«, fragte er.
»Manchmal«, gab ich zu. »Ich glaube, weil ich instinktiv
freundliche Handlungen als Manipulation deute.«
David war geduldig und wählte seine Wörter mit Bedacht. »Aber
wenn ich nett zu dir bin, dann doch, weil ich dich liebe. Ich mache
gern nette Dinge für dich, weil ich dir das zeigen will.«
»Nein«, widersprach ich. »Du machst diese Sachen für mich, weil
du willst, dass ich dich liebe. Das ist transaktional.«
David warf Dr. Carlin einen Hilfe suchenden Blick zu. »Ich weiß
nicht, was ich darauf antworten soll.«
Sie nickte. »Das ist einer dieser Momente, in dem meiner
Meinung nach beides richtig sein kann. Denn Patric nimmt
Freundlichkeit und Vertrauen nicht wie die meisten Menschen auf.
Das ist bei Soziopathen häufig so.« Sie schaute David an. »Denken
Sie daran: Liebe ist eine erlernte Emotion und Patric lernt sie
gerade noch. Und nicht nur das Geben, sondern auch das
Annehmen. Für sie implizieren offenkundig freundliche
Handlungen immer nur ein Quidproquo.« Sie wandte sich mir zu.
»Aber das ist nicht immer der Fall. David macht nette Sachen für
Sie, weil er sie wirklich liebt. Sein Bedürfnis, Freundlichkeit gegen
Freundlichkeit einzutauschen, ist kein egoistischer Akt, sondern
die Art und Weise, wie die meisten Menschen Liebe austeilen und
annehmen.«
Das war mir neu. »Oh«, antwortete ich.
David lachte. »Himmelherrgott, Patric!«
»Was war ich doch für eine unfassbare Idiotin«, sagte ich und
wunderte mich über meine lebenslange Ignoranz.
»Nein!«, widersprach David. »Ich bin nur froh, dass wir darüber
reden. Ich verstehe das jetzt.« Er schaute Dr. Carlin an.
»Deswegen hasst sie Weihnachtsgeschenke.«
Das war eine Untertreibung. »Bäh«, stöhnte ich. »Er hat recht.
Wenn sie nicht von jemandem kommen, dem ich sehr nah bin,
haaaaaasse ich sie. Das ist doch einfach nur ein
Schuldwährungskreiswichsen.« Dr. Carlin musste lachen. »Geben
Sie es zu! Wissen Sie, was Ihre Cousine will, die Ihnen einen
beschissenen Ofenhandschuh zu Weihnachten geschickt hat? Sie
will, dass Sie sich verpflichtet fühlen, ihr etwas zurückzuschicken
oder Sie auf einen zukünftigen Gefallen vorbereiten. Das Ganze ist
komplett transaktional.«
»Das ist aber nicht immer der Fall, Patric«, sagte Dr. Carlin
daraufhin. »Manchmal geben Menschen Ihnen Geschenke, weil sie
Sie lieben, weil sie sich mit Ihnen verbunden fühlen wollen.«
»Also die können sich gern mit jemand anderen verbinden«,
brummelte ich.
Aber sie fuhr fort: »David liebt Sie. Und nett zu sein, ist einer
seiner Wege, um Ihnen das zu zeigen. Ich glaube, Sie müssen
daran arbeiten, wie Sie Freundlichkeit interpretieren.«
Ich würde es versuchen. Ich achtete nun darauf, wie meine
verschwommene Vorstellung von so was wie Vertrauen und
Großzügigkeit meine verzerrte Wahrnehmung der Handlungen
anderer beeinflusste. Ich arbeitete eng mit Dr. Carlin zusammen,
um mein Feingefühl für Sachen wie Empathie und Scham zu
verbessern. Auch wenn mir solche Konzepte niemals im Blut
liegen würden, konnte ich sie doch mit Geduld und Spucke besser
verinnerlichen.
»Ich möchte Simon nicht bei der Hochzeit dabeihaben«,
verkündete ich einige Monate später, nachdem wir uns still und
heimlich verlobt hatten.
David schob die Gästeliste bedächtig zu mir über den
Küchentisch. »Schatz, ich kenne ihn seit der Highschool.«
»Ja, aber seine Frau ist eine Arschgeige. Ich will keine Ärsche auf
meiner Hochzeit.«
Er holte geduldig Luft und fragte: »Was wäre, wenn ich wie
Simon wäre?«
Ich runzelte die Stirn. »Ein netter Mann, der mit einer
Arschgeige verheiratet ist?«
Er lächelte. »Was wäre, wenn ich von Sachen ausgeschlossen
würde, weil meine Frau eine Soziopathin ist?« Ich verzog das
Gesicht. »Denkst du, das wäre fair?«
Ich erwiderte nichts, aber setzte Simons Namen mürrisch auf die
sehr kurze Liste.
David drückte meine Hand. »Das, meine Liebe, war eine
empathische Reaktion.« Dann fügte er hinzu: »Wenn ich es nicht
besser wüsste, würde ich fast behaupten, dass du dich zu einer
einfühlsamen kleinen Soziopathin entwickelst.«
Ich war mir da nicht so sicher. Während meiner selbst
auferlegten psychologischen Reha bei Dr. Carlin hatte ich das
größte Selbstvertrauen der Welt, aber diese Überzeugung hielt
nicht lange an. David war mit seinem scheinbar endlosen Vorrat
an Liebe, Geduld, Verständnis und Mitempfinden eine
kontinuierliche Erinnerung daran, was ich weder war – noch
wahrscheinlich jemals sein könnte. Ich erwischte mich oft dabei,
wie ich mir nicht vorstellen konnte, irgendwann ein guter Mensch
zu werden, oder gar eine gute Partnerin.
Selbst nach unserer Hochzeit hegte ich immer wieder Zweifel
daran. Ich kämpfte gegen mein Bedürfnis nach dem Alleinsein
und mit Davids Vorliebe für extreme Zuneigung. Ich kämpfte
gegen mein regelmäßiges Verlangen nach Unsichtbarkeit und
gegen den gelegentlichen Rückfall ins Destruktive. Das waren
dieselben Probleme, die ich schon immer gehabt hatte – und
immer haben würde. Zum Glück war mein Ehemann ein
glühender Verbündeter.
»Es ist okay, dass du nicht wie ich bist, Schatz«, sagte David nach
einem besonders schlimmen Rückschlag. »Du musst für mich
keine andere sein als genau die, die du bist. Ich habe so viel Zeit
damit verschwendet, mir zu wünschen, dass du dich verändern
würdest. Aber ich war im Unrecht. Ich war unsicher.« Er stupste
mich an. »Aber das bist du nicht. Du bist wie niemand sonst.« Er
zog mich an sich und lächelte. »Ja, und? Was ist so schlimm
daran, dass du nicht gern umarmt wirst? Dass du nicht vor
Gefühlen überschäumst? Wen interessiert das einen Scheiß? Du
bist verdammt noch mal eine glühende, mutige, intelligente,
aufmerksame, brillante Vorreiterin. Wenn die Menschen dich
kennenlernen, vergessen sie dich nicht wieder, Patric. Weil du sie
siehst. Du bist wie Neo, nur dass du die psychologische Matrix
geknackt hast.«
Davids Fähigkeit, meine soziopathischen Symptome zu
akzeptieren – das kleine Mädchen zu sehen, das sich noch oft
zurückzog, ganz verloren und einsam in seinem leeren Haus des
eigenen Kopfes –, war nicht weniger als lebensverändernd für
mich. Ohne meine praktischen Dosen der verhaltensbezogenen
Rezepte und psychologischen Abkürzungen gab es Zeiten, in denen
ich glaubte, ich würde unter dem Druck meiner Apathie
zusammenbrechen. Mein Mangel an Gefühlen war wie ein
pechschwarzer Höhlenkomplex – der leerste Ort der Welt –, der
nur mit einer steilen psychologischen Talfahrt zu erreichen war.
Aber dann erklang das Echo von Davids Stimme durch die
Kammer. »Es ist nur Finsternis«, sagte er dann. »Jetzt gerade
fühlst du dich unwohl in deiner Apathie, du bist müde und willst
dich nicht streiten. Das ist okay. Entspann dich einfach und lass
es vorüberziehen.«
Während dieser Phasen war es David, der mich zur
Weiterführung des Journalings ermunterte und dann auch zum
Schreiben. Sein Vertrauen in mich half mir bei der Navigation
durch die Finsternis. Er half mir dabei, den Glauben nicht
aufzugeben, dass auch ich ein emotional volles Leben würde
führen können, dass ich eine gute Partnerin sein könnte … eine
liebevolle Ehefrau … eine empathische Mutter.
Ja, gut, mein Weg zur Mutterschaft war nicht gerade orthodox.
Oder so, wie ich es aus Büchern oder aus dem Fernsehen kannte.
Nach der Geburt unseres Sohns wurde ich nicht überschwemmt
von Gefühlen, ich verspürte nicht diese tiefgreifende Welle der
»perfekten« Liebe, die mir versprochen worden war. Und das
machte mich wütend. Ohne es zu merken, war ich (mal wieder)
voller Hoffnung gewesen, dass selbst ich beim ersten Anblick
unseres Sohns von einem überwältigenden Gefühl durchflutet
werden würde. Während der Schwangerschaft hatte ich heimlich
davon geträumt, dass ich dieses Mal, im Gegensatz dazu, wie es
bei allen anderen »wichtigen« Lebensereignissen bisher gewesen
war, nicht dieser natürlichsten aller menschlichen emotionalen
Erfahrungen beraubt werden würde. Als dann also unser Sohn
geboren worden war und ich wieder einmal keine Verbindung zu
irgendwelchen Gefühlen herstellen konnte, machte mich das
rasend.
»Möchten Sie ihn mal halten?«, fragte die Hebamme.
»Nein«, erwiderte ich, fuchsteufelswild über meine aberwitzige
Hoffnung.
Aber David wollte. Nur Augenblicke nach der Geburt unseres
Sohns zog sich David das Shirt aus, damit unser Baby seinen
ersten Hautkontakt erleben konnte. Es war David, der lernte, wie
man puckte, der unseren Sohn badete und lange Spaziergänge mit
ihm unternahm, und er war es auch, der alles, was anfiel, in den
ersten Wochen seines Vaterschaftsurlaubs erledigte. Und es war
David, der mich davon überzeugte, dass nicht alles verloren war.
»Patric, nichts davon ist einfach«, sagte er, als er sich auf seine
Rückkehr zur Arbeit vorbereitete. »Keine Filme und keine Bücher
bereiten einen auf das hier vor.« Er deutete auf unser
Schlafzimmer, das wir zum provisorischen Kinderzimmer
umfunktioniert hatten. »Wenn überhaupt dürfte es gerade jetzt
von Vorteil sein, eine Soziopathin zu sein. Du bist so unfassbar
ruhig und organisiert. Ich bin so erschöpft, ich kann nicht mal
mehr gerade denken.« Er lächelte den winzigen Jungen, der auf
meinem Arm schlief, sanft an. »Ich weiß, dass du dieses Baby
liebst. Und nur weil deine Liebe anders ist, ist sie nicht weniger
wert.«
Als David auf dem Weg zur Arbeit war, redete ich offen und
ehrlich mit meinem Säugling. »Du hast einen komischen Kauz als
Mutter, Baby. Ich kann also nicht versprechen, dass deine
Kindheit komplett normal verlaufen wird.« Ich hielt inne und gab
zu: »Ich kann auch nicht versprechen, dass ich nicht beim
nächsten Besuch im Supermarkt, wenn wir wieder diesen Hundi
in dem heißen Auto eingesperrt sehen, das Auto aufbrechen und
ich Daddy dann erzählen werde, wir hätten ihn aus dem
Tierheim.« Ich legte meinem Sohn vorsichtig seine
Spielzeugschildkröte auf den kleinen Brustkorb, als wäre es ein
Schwur. »Aber ich kann dir versprechen, dass ich dich niemals in
Gefahr bringen werden. Du wirst nirgendwo so sicher sein wie bei
mir. Und ich werde dich niemals anlügen.«
Das war ein Versprechen, das ich halten konnte.
Erneut und genau in dem Moment in meinem Leben, wo ich es
am meisten gebrauchen konnte, erschuf Davids Glaube an meine
Fähigkeit zu lieben, den Raum für das Wachstum meines
Selbstbewusstseins. Das fiel mir nicht leicht, aber ich fand mit der
Zeit heraus, dass diese grundlegenden Gefühle für meinen Sohn
nicht nicht existierten, sie waren einfach nur nicht intrinsisch. Ich
musste sie mir erarbeiten. So war es beispielsweise viel Arbeit für
mich, die einzigartige Persönlichkeit meines Sohnes
kennenzulernen.
Und dann musste ich noch etwas mehr arbeiten, als ich
realisiert hatte, dass sie meiner nicht ganz unähnlich war. Schon
vor Beginn der Vorschule verkündete er: »Ich komme mit allem,
was ich will, durch.«
»Ah, ja?«, fragte ich. »Und warum ist das so?«
»Weil ich einfach das machen kann, was ich will, und mich dann
entschuldige und ihnen Liebe schenke. Liebe lässt Menschen alles
vergessen.«
Ich gab ihm einen Kuss. »Liebe lässt Menschen auch vergeben.«
Tatsächlich war seine spitzbübische Art fast so vorherrschend
wie seine Cleverness. Aber ich machte mir nie Sorgen darüber,
dass er ein Soziopath sein könnte. Auch wenn er mit meiner
Hartnäckigkeit und einer bemerkenswerten Angstfreiheit
gesegnet war, so besaß unser Sohn doch auch das volle Spektrum
an tiefen Emotionen seines Vaters. Ich musste mich anstrengen,
um mithalten zu können.
Nach Schulbeginn musste ich sogar noch mehr arbeiten.
Allerdings eher daran, nicht seinen Klassenkameraden
nachzustellen, die ihm das Leben schwermachten.
»Weißt du, wie er den Kratzer am Bein bekommen hat?«, fragte
ich David wütend, nachdem die Schulschwester angerufen hatte.
»Dieser kleine Haufen Scheiße Casielle hat ihn von der
Kletterkuppel geschubst. Ich schwöre dir, morgen geh ich in der
Pause da hin und niete sie mit meiner Hüfte um.«
»Bitte tu keinem Kind weh«, erwiderte David trocken.
»Ich werde ihr nicht wehtun, ich werde sie nur auf den Boden
schubsen. Es wird wie ein Unfall aussehen.« Und das tat es.
Als ich mit unserem zweiten Kind schwanger war, musste ich
erneut an mir arbeiten. Allerdings eher, um mir vorstellen zu
können, dass ich ein anderes Wesen jemals so sehr lieben könnte
wie unseren Erstgeborenen. Ein Konzept, das mir einst so fremd
erschienen war, fiel mir jetzt so leicht wie atmen. Und doch war
ich bei Weitem nicht perfekt.
Heutzutage, das kann ich glücklich verkünden, muss ich mich
nicht mehr so anstrengen. Ich habe inzwischen akzeptiert, dass
meine Version von Liebe einem Mosaik gleicht: kleine Teile aus
zerbrochenem Glas, die vom Schicksal zusammengehalten
werden, damit das Licht hindurchscheinen und in stumpferen
Farben leuchten kann. Es ist nicht perfekt. Aber perfekt, befürchte
ich, wäre viel zu brav.
Die reinste Liebe wird nicht aus dem Glück heraus geboren,
sondern aus dem Scheiterhaufen gezogen. Sie ist wild und
wandelbar, leicht verdreht und köstlich. Meine Liebe, so
akzeptierend, vergebend, verstehend und nachvollziehbar
fehlerhaft, ist alles andere als perfekt. Sie ist mir am ähnlichsten.
»Mommy?«, fragte mein Ältester, als er sich zu uns in Harlowes
Esszimmer gesellte. »Wann fangen wir mit dem Turkey Bowl
an?!«
Er konnte es kaum erwarten, dass wir unsere alljährliche
Familientradition anstießen, eine Runde Fußball, die wir immer
nach dem Thanksgiving-Essen im Park spielten.
Ich lächelte und zog ihn zu mir auf den Schoß. Mein Kind hatte
sich in eine idyllische Kombination aus David und mir entwickelt:
zu gleichen Teilen wild und unerträglich leidenschaftlich. Ich gab
ihm einen Kuss auf den Kopf und atmete tief ein. Sein Haar roch
wie Schweiß und Magnolien.
»Mommy«, jammerte er und ließ seinen Körper schlaff werden,
um sich aus meinem Griff zu winden. »Können wir jetzt bitte den
Turkey Bowl starten?« Mehr ein Befehl als eine Frage.
»Fünf Minuten«, erwiderte meine Schwester, die ihre eigenen
kleinen Jungen anschaute. »Ihr zwei holt eure Brüder und seid in
fünf Minuten wieder zurück. Dann gehen wir in den Park!«
Die beiden wuselten nach draußen und riefen ihre Brüder, damit
die sich fertig machten. Harlowe leerte das Weinglas und fragte:
»Was wirst du also machen?«
»Du solltest ein Buch schreiben«, schlug meine Mutter vor.
»Selbsthilfe für Soziopathen!«
Das war keine schlechte Idee. Ich wusste, dass so etwas nicht
existiert hatte, als ich es am meisten gebraucht hatte, und selbst
jetzt war nichts Ähnliches irgendwo zu finden. Ich war nicht
allein. Als mein Artikel erschienen war, erreichten mich viele
Nachrichten mit Bitten um Informationsquellen oder Hilfen, aber
ich konnte nur wenig anbieten.
»Nix da«, tadelte mein Schwager. »Du müsstest von dir und
deinem Leben erzählen.«
»Warum?«, fragte Mom. »Das ist dann so persönlich!«
»Das müsste es auch sein«, antwortete Harlowe an meiner statt.
»Nur so würden die Leute ihr überhaupt zuhören.«
»Genau«, fügte David hinzu. »Die Ehrlichkeit des Artikels führte
überhaupt erst zur Veröffentlichung.«
Dad fragte mich: »Ist das etwas, was du schon immer mal
machen wolltest – ein Buch zu schreiben?«
Ich schaute David kurz an. In Wahrheit hatte ich genau das
bereits getan. Meiner Meinung nach war es eine sehr offene und
enthüllende Geschichte meines Lebens, die ich mit einer Auswahl
an psychologischer Forschung und Fakten über Soziopathie
verwoben hatte. Der fast fertige Text war seit über einem Jahr auf
meinem Computer gespeichert, nur wusste ich nicht, was ich
damit anfangen sollte. Ich wusste, dass meine Geschichte
potenziell vielen Menschen helfen könnte, aber auch, dass es kein
allzu gern gesehenes Anliegen war, »Soziopathen zu helfen«.
Trotz zahlreicher Fortschritte rund um die Sensibilisierung für
psychische Erkrankungen und deren Behandlungsmöglichkeiten
schien die Soziopathie immer noch ignoriert zu werden. »Wo
sollen Soziopathen sich Hilfe holen, wenn sie welche brauchen?«
Ich hatte darauf immer noch keine Antwort, tat aber mein Bestes,
die Lücke zu füllen.
Ich war nach meinem Dissertationsabschluss weiterhin als
Therapeutin tätig. Viele meiner Kommilitonen und Kolleginnen
wussten von meiner Diagnose und meinem Glauben daran, dass
man Soziopathen helfen könnte. Sie fingen also an, mir ihre
problematischen Patienten zu schicken. Ich mietete mir ein
eigenes Büro, in dem ich mir einen ungezwungenen Ruf als »die
Soziopathentherapeutin« verdiente, die mit Menschen arbeiten
wollte und konnte, die meine Kollegen verunsicherten. Meine
Praxis war wie eine Psychologie-Kneipe, von der man sich unter
der Hand erzählte. Ich, unlizenziert und unorthodox, hieß alle
Sonderlinge willkommen, mit denen sonst niemand reden wollte.
David half mir sogar beim Erstellen einer Webseite, auf der
Patienten (und Möchtegernpatienten, die außerhalb meines
Gebiets wohnten) Zugriff auf von mir gepostete Recherchen und
Essays hatten.
Meine Entscheidung, im psychiatrischen Bereich zu arbeiten,
fühlte sich immer mal wieder krass kontraintuitiv an. Immerhin
wird von Therapeuten erwartet, dass sie ein grundlegendes
Verständnis von Mitgefühl haben. Trotz meiner intensivsten
Bemühungen war Empathie (zum größten Teil) immer außer
Reichweite für mich gewesen. Aber mit zunehmender praktischer
Erfahrung fügte sich irgendwie alles zusammen. Nach unzähligen
Stunden, in denen ich den Geschichten meiner Patienten zuhörte –
von denen viele verblüffende Ähnlichkeit mit meinen eigenen
aufwiesen –, überschwemmte mich eine Welle von Verständnis.
Und dann Wut.
»Was zur Hölle?!«, beschwerte ich mich oft bei David. »Die
Menschen hassen Soziopathen dafür, dass sie keine Empathie und
kein Mitgefühl haben … aber wer zeigt ihnen gegenüber Empathie
und Mitgefühl?« Soziopathen wurden dafür diffamiert, dass sie
genau die Emotionen nicht zeigten, die ihnen wiederum auch
verwehrt wurden. »Wie kann irgendwer davon ausgehen, dass sie
ein erlerntes Gefühl meistern, wenn sie es nie selbst erleben
dürfen?« Die Scheinheiligkeit machte einen verrückt. Diese
menschlichen Wesen verdienten ernsthafte klinische Behandlung.
Stattdessen wurden sie mit Missgunst behandelt und
ausgeschlossen.
Ich gab mein Bestes, ihnen zu helfen, aber mir war durchaus
bewusst, dass mein Angebot bei Weitem nicht ausreichte. Meine
psychologischen Eingriffe waren nur genau das: meine. Sie waren
eher eine Patchworkdecke an psychologischen Mustern, die auf
meiner persönlichen Herangehensweise nach dem Zufallsprinzip
und anekdotischer Evidenz basierten – ein Pflaster auf einer
Schusswunde.
Ich wusste, dass ich mit dem Erzählen meiner Geschichte am
meisten bewirken konnte. So könnten sich Menschen wie ich in
gesunden Lebenssituationen wiedererkennen und das bekommen,
was sie meines Wissens am meisten brauchten: Hoffnung. Ich
lächelte meinen Vater an und zuckte unverbindlich mit den
Schultern. »Vielleicht eines Tages.«
David, der die Gelegenheit zum Themenwechsel ergriff, stand
auf. »Okay«, sagte er und klatschte in die Hände. »Uns geht bald
das Tageslicht aus. Raus mit uns.«
Alle stimmten zu und verließen das Esszimmer. Ich sah, dass
Harlowe argwöhnisch dreinblickte, also fragte ich sie: »Was ist
los?«
Sie ignorierte mich und pfiff stattdessen nach den Kids, damit
wir los konnten. Hektik brach aus, als Schuhe zugebunden werden
mussten und nach Jacken verlangt wurde. Die Jungs rannten wie
von der Tarantel gestochen zur Tür hinaus, und der Rest von uns
folgte ihnen mit einigen Minuten Verzögerung aus dem Haus in
die frische Nachmittagsluft. Harlowe schloss hinter uns die
Haustür ab. Als alle anderen außer Hörweite waren, drehte sie
sich zu mir und fragte: »Na, darf ich es lesen?« Die Frage
überrumpelte mich. Natürlich wusste ich, worauf sie anspielte,
aber ich gab dennoch mein Bestes bei meinem überzeugendsten
»überraschten« Gesichtsausdruck.
»Das Buch«, klärte sie mich auf und zog eine Augenbraue hoch.
»Du hast es doch bereits geschrieben, nicht wahr?«
Ich konnte meine Belustigung kaum zurückhalten und
antwortete ihr mit einer Grinsekatzenimitation. »Vielleicht«,
schnurrte ich und wandte mich in Richtung Park.
Harlowe quiekte hinter mir auf. »Ich wusste es!«, sagte sie und
holte rennend auf. »Wer weiß es sonst noch?«
»David«, erwiderte ich. »Und Everly.«
»Komme ich drin vor?«, fragte sie aufgeregt.
»Natürlich!«
Meine kleine Schwester kicherte und sprang auf und ab. »Darf
ich es bitte lesen?«, bettelte sie. »Und hast du unsere richtigen
Namen verwendet? Wenn nicht, dann will ich Harlowe heißen.«
Sie zog spielerisch an meinem Arm. »Das wäre in Ordnung, oder?
Ich habe den Namen Harlowe immer geliebt.«
»Klar.«
»Und kannst du bitte diese Szene mit einbauen?« Sie sprach
schnell, ganz aufgeregt bei dem Gedanken. »In der wir zum Park
laufen und ich frage, ob mein Name Harlowe sein könnte?«
»Ich denk darüber nach.«
»Oh, Kaat«, sagte sie und hüpfte leicht vorwärts. »Das ist so
aufregend. Hab ich jemals erwähnt, dass du wirklich die beste
Person bist, um anderen aus ihrer Finsternis zu helfen?«
»Hast du tatsächlich.« Ich musste lachen. »Keine Angst! Captain
Apathy kümmert’s nicht!«
Harlowe warf mir ihre Arme um die Schultern und wir liefen
zum Park. Der Mond hinter den Bäumen spähte durch die Blätter.
Von der Straße vor uns konnte man das Lachen unserer Kinder
hören. Das Herbstlicht warf lange, wunderbare Schatten und das
kühle Geisterwetter kam mir bekannt vor. »Die wichtigen Sachen
kümmern dich«, flüsterte sie. »Und nur das zählt.«
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