Anpassung und Konflikt Psychoanalyse und Direktbeobachtung: vereinbar oder nicht?
Anpassung und Konflikt
Ähnliches gilt für einen vierten und letzten Unterschied beider Disziplinen. Während die Psychoanalyse sich auf den Konflikt und seine möglichen pathogenen Konsequenzen konzentriert, betrachten die Säuglingsforscher vor allem die adaptiven Potentiale des Subjekts, die wechselseitige Regulierung der
Interaktion, ihr Zusammenpassen, fast könnte man sagen, ihre Harmonie. Sie studieren die integrativen Prozesse, die Psychoanalyse die disruptiven. Diese Bemerkung bedarf einer Einschränkung. Disruptiv ist ja nur der pathogene Konflikt. Es gibt aber auch Konflikte ohne pathogenen Ausgang, und diese
Konflikte und ihre Lösungen sind es, die in der psychoanalytischen Theorie den Stoff für die normale Entwicklung abgeben (Brenner 1972, Kap. 9).
Dennoch bleibt wahr, daß Wachstum und Entwicklung in der Psychoanalyse unter dem Gesichtspunkt des Gegeneinanders, des Zusammenstoßes von Kräften betrachtet werden. In der Säuglingsforschung wird mehr betont, daß Wachstum und Entwicklung aus einem Zusammenspiel von Kräften resultieren.
Auch in diesem Punkt bin ich, ähnlich wie im vorigen Abschnitt, der Meinung, daß sich die unterschiedlichen Betrachtungsweisen eher ergänzen als einander ausschließen. Beide akzentuieren unterschiedliche Aspekte des Entwicklungsprozesses, aber deren Verwandtschaft wird deutlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß auch die Psychoanalyse – etwa im Begriff der synthetischen Funktion des Ich (Nunberg 1930) oder der Psyche (Glover 1943) – die Existenz und Notwendigkeit integrativer Prozesse von Lebensanfang an betont. Integration und Adaption einerseits, Pathologie und Konflikt andererseits sind zwei Seiten derselben Medaille, und man kann die Pathogenese sowohl unter dem Gesichtspunkt gegensätzlicher Kräfte (klassische Psychoanalyse) als auch unter dem eines Mangels an integrativen Kräften (Selbstpsychologie, Säuglingsforschung) betrachten (s.a. Sander 1983 a, b).
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