Narzisstischer Selbstgefallen In diesem Buch werden wir die tief verwurzelte Verbindung zwischen Narzissmus, Selbstsabotage und persönlicher Veränderung erkunden. Wir werden uns mit den Mechanismen und Mustern befassen, die uns daranhindern, unsere wahren Fähigkeiten zu erkennen und auszuleben, und damit, wie wir diese Muster durchbrechen können, um eine positive Transformation zu erreichen.

Narzisstischer Selbstgefallen

Wenn sich in einem kleinen Moment die narzisstische Verblendung zeigt, dann kann sie Menschen wie Jenny mittels Selbsttäuschung über eine schwer erträgliche Realität hinweghelfen. Wie Jennys Idee, nicht gut genug zu sein oder ein »inneres« Problem, einen Mangel oder etwas Belastendes zu haben. Und eben die gleiche narzisstische Selbstgefälligkeit kann zur narzisstischen Selbstsabotage führen. 


Dieses Phänomen offenbart sich besonders an Schwellen und Hindernissen, die an unbewussten oder bewussten narzisstischen Gedanken anstoßen. Dann zeigt sich dieser Gedanke, die Erwartung und das Anspruchsdenken, um eine Schwelle narzisstisch zu bewältigen oder ein Hindernis, das den eigenen narzisstischen Weg blockiert, aus dem Weg zu räumen. Bei sich selbst, in der Begegnung mit anderen oder in einer Gruppe, auf der großen Ebene der Interaktion mit anderen Menschen. Die narzisstische Selbstgefälligkeit zeigt sich in einer Geste, in einer Handlung. Dann zeigt sich das narzisstische Gesicht dieser Person, voller Leidenschaft und Impulsivität, blitzt es auf. Da manifestiert es sich, in einem kleinen Moment, in dem der emotionale Engpass da ist. Wenn die Notwendigkeit da ist, sich zeigen zu müssen. Wenn keine Zeit ist, wenn kein Raum ist, oder wenn man etwas viel Wichtigeres zu tun hat, manifestiert sich der Engpass, in dem sich der Narzissmus zeigt. Dann kommt zum Alltagsnarzissmus eine besondere narzisstische Spitze hinzu, die auch manchmal sticht.


Jenny erzählte, wie unverzeihlich gemein ihr Lieblingsnarzisst manchmal zu ihr sein könne. Wie er sie strafe oder maßregele und sie spüre, wie entwürdigend es für sie sei, das zu erleben. Sei ihre Würde verletzt, sagte ich, wäre das ein eindeutiger Hinweis auf eine Grenzverletzung. Eine Grenzverletzung, die sogar seelisch verletze, eine Wunde setze und traumatisierend sei. Je größer die Dosis dieser Verletzungen, desto eher sei wahrscheinlich, es mit einer extrem-narzisstischen mindestens, und eher noch mit einer psychopathisch-narzisstischen Person zu tun zu haben.


Jenny bestätigte, ihr Lieblingsnarzisst sei wirklich problematisch. Sie selbst, sagte Jenny, könne zwar auch mal einen narzisstischen Ausrutscher haben, aber, sie lachte über sich selbst, das mache sie ja noch nicht zu einer narzisstischen Psychopathin. Das bestätigte ich ihr.


Zeigt sich nur selten narzisstische Selbstgefälligkeit, gepaart mit einem kurzen Aufblitzen der kalten Schulter der Arroganz, ist das zunächst nur eine narzisstische Geste. So wie Jenny mich ausgelacht hatte vor lauter eigener Fassungslosigkeit, ich hätte keinen inneren Kritiker. Da war auch Selbstgefallen bei Jenny gewesen. Er hatte sich in ihrer Schwierigkeit gezeigt, meine Perspektive einzunehmen und mein Erleben als real anzuerkennen. »Das glaube ich nicht!«, war aus ihr herausgeplatzt. Arrogant oder ungläubig über jemanden zu lachen, ist eine kurze narzisstische Ausdrucksweise und hat nichts Krankhaftes an sich. Was sie hätte verraten können, wäre ihre Perspektive gewesen. Wäre Jenny unverrückbar davon überzeugt, dass ich etwas Abweichendes von ihrer Realität meinte, dann wäre sie in ihrem eigenen Selbstgefallen gefangen. Würde sie sogar insgeheim meinen, nur ihre Sicht wäre die einzig richtige? Wäre diese Wahrnehmung tiefgreifend und anhaltend abweichend, dann könnte man es als persönlichkeitsimmanent bezeichnen und damit zu einer Pathologie zählen. Aber Jenny schien mir flexibel mit ihrer Perspektive umzugehen. Oder sie schaffte es, ihre tiefen Überzeugungen mit ihrer beeindruckend charmanten Erscheinung zu kaschieren.


Ich hoffte insgeheim, dass Jennys Selbstgefallen tatsächlich ein flexibler narzisstischer Persönlichkeitszustand war. Das wäre die prognostisch bessere Perspektive für sie gewesen. Ich beobachtete während unseres ersten Termins keinen Wechsel im Strom ihres Wachbewusstseins in einen völlig anderen Persönlichkeitszustand. Sie blieb gefestigt in ihrem Persönlichkeitsstil, mit ein paar kleinen Outbursts. Ja, sie war deutlich aus sich herausgekommen, als sie laut aufgelacht und »Nein, das glaube ich nicht!« ausgerufen hatte. Aber Jenny hatte nichts Pathologisches an sich. Sie besaß nur diese Tendenz, sich in einem emotionalen Engpass anders, deutlicher und egoistisch abweichend von der Norm und ein wenig unverträglich im Verhalten zu anderen zu zeigen. Das war noch normal.


Jennys kurzen emotionalen Engpass hatte ich ihr mit meiner Aussage gebaut, dass ich keinen inneren Kritiker hätte. Diese Information hatte Jenny kurz aus ihrer Mitte gebracht, gefestigt durch ihre unbewussten Annahmen über die eigene innere Ordnung und die Ordnung der Welt (ihr Realitätsmodell), die sie umgab. Von der ich ein Teil war. Das war keine Störung. Nur eine Singularität, dann emotional zu reagieren, wenn man in emotionale Bedrängnis kam. Eine Irritation. Bei der sich mögliche Affekte zeigen.


Diese Nuance ihrer charakterlichen Eigenschaft, die sich unter Druck zeigte, gefiel mir sehr. Eine charmante Regung, die just in diesem einen Moment auffiel. Da sah ich sie, wie sie auch wirklich war. Das mochte ich an Jenny. Wie sie unbewusst meinen provokativen Test bestand. Das war nett. Als Therapeut bin ich für diese auslösenden Momente sensibilisiert, gerade dann auf aufblitzende Narzissmen zu achten, wenn sie sich ereignen können. Ich bin wie ein Grizzlybär in Alaska, der sich an einen Fluss stellt und wartet, bis ein Lachs über die Stromschwelle springt. Weil der Lachs eben an dieser Schwelle springen muss, um sie zu überwinden. Nicht anders kann. Ebenso kann ein narzisstisch tickender Mensch nur narzisstisch über Schwellen springen, die sich wie Hindernisse in seinem Leben aufstellen. In dieser psychischen Bewegung, diesem narzisstischen Sprung, zeigt sich diese menschliche Seite. Und ich stehe halb im Wasser und warte, bis ein schöner Lachs mir direkt ins Maul springt. Warum eigentlich Alaska, dachte ich und ja, weil Jenny von dort kam, dort noch ihre Eltern lebten. So unauffällig leise vermischen sich im therapeutischen Prozess langsam die Perspektiven des Therapeuten und seiner Patientin. War das noch gut, dass ich mich gedanklich so sehr auf Jennys Erleben einließ, fragte ich mich während der Sitzung. Dass sogar meine eigenen Metaphern von ihrer Präsenz kontaminiert waren? Das würde sich doch mit Sicherheit irgendwie übertragen. Auf Lotti und mich.


Zum Glück hatte ich ja meine Ausbildung, und die beschützte mich. Vor Gedanken, die sich wie trojanische Pferde in einen schleichen und dann noch mehr als Sympathie für Klientinnen wie Jenny auslösen. Darin gefiel ich mir, dass mich mein therapeutisch geschärfter Alltagsnarzissmus davor bewahrte, vollends hinabzusteigen auf die Ebene der Klienten. Ich blieb lieber hier, im Nationalpark Katmai in Alaska, und schaute, wie die Menschen den Brooks Falls Trail entlanggingen, unwissend und ahnungslos, mit Wanderstöcken bewaffnet, auf der Suche nach dem Bären, aber eigentlich auf der Suche nach sich selbst.