IZ: 1 Ein Loblied auf kluge Zellen und kluge Studenten

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1.1 Ärger im Paradies

An meinem zweiten Tag in der Karibik stand ich vor über hundert offensichtlich erwar­tungsvollen Studenten, und mir wurde klar, daß diese Insel nicht für jeden ein wunder­barer Ort zum Entspannen ist. Für diese nervösen Studenten war Montserrat kein Feri­enparadies, sondern ihre letzte Chance, ihren Traum vom Arztberuf zu verwirklichen.

 

Mein Kurs bestand zum größten Teil aus Ostküsten-Amerikanern aller Rassen und Al­tersgruppen, bis hin zu einem siebenundsechzig Jahre alten Rentner, der mehr aus sei­nem Leben machen wollte. Auch der persönliche Hintergrund war breit gestreut – es gab frühere Lehrer, Buchhalter, Musiker, eine Nonne und sogar einen Drogenschmugg­ler. Trotz all ihrer Unterschiedlichkeit waren ihnen zwei Dinge gemeinsam. Zum einen waren sie in dem beinharten Konkurrenzkampf auf der Strecke geblieben, mit dem die begrenzten Ausbildungsplätze an den medizinischen Fakultäten der Vereinigten Staaten vergeben werden. Zum anderen waren sie »Streber« in dem Sinne, daß sie wild ent­schlossen waren, ihre Qualifikation unter Beweis zu stellen. Die meisten hatten für diese Ausbildung ihre gesamten Ersparnisse hingelegt oder sich hoch verschuldet. Viele wa­ren zum ersten Mal in ihrem Leben völlig allein, ohne Familie und Freunde. Sie lebten auf dem Campus unter höchst spartanischen Bedingungen. Doch trotz all der Schwierig­keiten und Hindernisse ließen sie sich nicht davon abbringen, sich um ihren medizini­schen Abschluß zu bemühen.

 

Nun, das galt zumindest bis zu unserer ersten Kursstunde. Vor meiner Ankunft hatten die Studenten bereits drei verschiedene Professoren für Histologie genossen. Der erste Dozent hatte die Studenten nach drei Wochen wegen einer persönlichen Angelegenheit Knall auf Fall verlassen. Die Schule fand schnell einen angemessenen Ersatz, der jedoch ebenfalls drei Wochen später ausschied, weil er krank wurde. In den vorangegangenen Wochen hatte ein Mitglied eines anderen Fachbereichs der Fakultät den Studenten aus einem Lehrbuch vorgelesen. Das hatte die Studenten natürlich zu Tode gelangweilt, aber damit erfüllte die Schule zumindest die Vorgabe, eine bestimmte Anzahl von Stun­den pro Thema anzubieten.

 

Jetzt stand also zum vierten Mal in diesem Semester ein neuer Professor vor diesen Stu­denten. Ich sprach kurz über meinen Hintergrund und meine Erwartungen an diesen Kurs. Ich stellte klar, daß ich von ihnen das Gleiche erwarte wie von meinen Studenten in Wisconsin und dass das gut für sie sei, denn schließlich müßten sie ja auch die gleiche Prüfung bestehen. Dann zog ich einen Stapel Fragebögen hervor und teilte den Studen­ten mit, dass wir nun eine kleine Überprüfung ihres Wissenstands durchführen würden. Schließlich war schon das halbe Semester herum, und ich erwartete, daß ihnen die Hälf­te des Stoffs für diesen Kurs vertraut sei. Der Test bestand aus zwanzig Fragen, die in Wisconsin bei den Halbsemester-Prüfungen gestellt werden. Die ersten zehn Minuten der Prüfung herrschte Grabesstille. Dann fing einer nach dem anderen an, nervös her­umzurutschen. Als die angesetzten zwanzig Minuten herum waren, herrschte allgemeine Panik. Als ich »Stop« sagte, brach die nervöse Anspannung in hundert aufgeregte Ge­spräche aus. Ich beruhigte die Studenten wieder und begann, die Antworten vorzulesen.

 

Die ersten fünf bis sechs Antworten riefen unterdrückte Seufzer hervor. Nach der zehn­
ten Antwort kam noch gequältes Stöhnen. Der beste Student hatte zehn der zwanzig
Fragen richtig beantwortet, ein paar weitere hatten sieben richtig, und die meisten hatten
sich durchgeraten, aber zumindest ein oder zwei Antworten richtig. Als ich von den Fragebögen wieder aufsah, blickten mir schreckensstarre Gesichter ent­gegen. Die »Streber« fühlten sich auf verlorenem Posten. Das halbe Semester war vor­bei und sie mußten offensichtlich mit dem Stoff ganz von vorne anfangen. Sie verfielen in Trübsinn, denn die meisten hatten ohnehin schon großeMühe mit ihrenanderen anspruchsvollen Kursen. Dieser Trübsinn steigerte sich rasch zur reinen Ver­zweiflung. Es wurde totenstill, ich sah die Studenten an und sie mich. Ihre aussichtsloseLage versetzte mir einen Stich – die Studenten vor mir erinnerten mich an die Greenpe­ace-Bilder von jungen Seehunden mit großen Kulleraugen, die gleich darauf von bruta­len Pelzhändlern mit Knüppeln erschlagen werden.

 
 

Ihre Not ging mir zu Herzen. Und vielleicht machten mich ja auch die salzige Luft und die herrlichen Blumendüfte großmütiger. Jedenfalls versicherte ich ihnen, ich würde mich persönlich dafür einsetzen, daß jeder der Studenten die Abschlußprüfung schaffen würde, vorausgesetzt, sie setzten sich ebenfalls entsprechend ein. Als sie erkannten, daß mir ihr Erfolg wirklich am Herzen lag, fingen ihre schreckgeweiteten Augen wieder an zu funkeln. Plötzlich fühlte ich mich wie ein kampfbereiter Mannschaftstrainer, der sein Team auf ein großes Spiel vorbereitet. Ich erklärte ihnen, sie seien meiner Meinung nach genauso intelligent wie meine Studenten in den Staaten. Jene seien nur ein bißchen geschickter im Auswendiglernen und hätten es deswegen bei den Aufnahmeprüfungen leichter.

 

Ich versuchte sie auch davon zu überzeugen, daß Histologie und Zellbiologie keine intellektuell schwierigen Fächer sind, da sich die Natur in ihrer ganzen wunder­vollen Harmonie an sehr einfache Muster hält. Mir gehe es nicht so sehr darum, daß sie Fakten auswendig lernten, sondern ich wolle ihnen durch einfache Prinzipien ein echtes Verständnis für die Zellen vermitteln. Außerdem bot ich ihnen zusätzliche Abendvorträ­ge an, die ihre Ausdauer nach den langen Seminar- und Labortagen auf die Probe stellen würden. Nach meiner zehnminütigen Ansprache waren alle wieder hellwach. Als die Vorlesung beendet war, stürmten sie mit Feuereifer aus dem Saal, wild entschlossen, sich von diesem System nicht unterkriegen zu lassen.

 

Als die Studenten draußen waren, dämmerte mir, worauf ich mich da eingelassen

hatte, und mir kamen ernste Zweifel. Ich wußte, daß eine gewisse Anzahl dieser Studenten keine wirkliche Eignung für ein Medizinstudium mitbrachte. Andere waren zwar gute Studenten, aber ihr persönlicher Werdegang hatte sie nicht auf diese Herausforderung vorbereitet. Ich fürchtete, meine Inselidylle könnte zu einer hektischen, zeitaufwendigen akademischen Hauruck-Aktion werden, die sowohl für die Studenten als auch für mich in einer Niederlage enden könnte. Ich dachte an meine Arbeit in Wisconsin zurück, die mir auf einmal einfach erschien. Dort gab ich nur acht von den rund fünfzig Vorlesun­gen unseres Fachbereichs. Wir teilten uns die Arbeit in der Anatomie-Abteilung unter fünf Kollegen auf. Natürlich mußte ich mit dem gesamten Stoff vertraut sein, um die Studenten in ihren Laborstunden fachlich begleiten und alle Fragen beantworten zu kön­nen, aber den Stoff zu kennen und ihn in Vorlesungen zu präsentieren sind immer noch zwei verschiedene Dinge!

 

Ich hatte ein drei Tage langes Wochenende, um mit der Situation fertig zu werden, in die ich mich gebracht hatte. Zuhause hätte mich solch eine Situation wahrscheinlich fix und fertig gemacht. Doch als ich hier am Pool saß und dem karibischen Sonnenunter­gang zusah, verwandelte sich meine potenzielle Angst und Nervosität in die angespann­te Erwartung vor einem Abenteuer. Ich konnte mich immer mehr dafür begeistern, dass ich zum ersten Mal in meiner Karriere als Lehrer die Gelegenheit hatte, einen solchen gesamten Kurs ganz allein zu gestalten, ohne dabei auf andere Kollegen Rücksicht neh­men zu müssen.

1.2 Die Zellen als Mini-Menschen

Dieser Histologiekurs entpuppte sich als die aufregendste und intellektuell sehr

inspirie­rende Periode meiner akademischen Karriere. Da ich frei wählen konnte, wie ich diesen Kurs lehren wollte, ließ ich mich auf einen Ansatz ein, den ich schon ein paar Jahre lang im Sinn hatte. Mich faszinierte die Idee, daß es einfacher sei, die Physiologie und das Verhalten von Zellen zu verstehen, wenn man sie als »Mini-Menschen« betrachtet. Während ich mir eine neue Strukturierung des Stoffs für den Kurs überlegte, packte mich zunehmend Begeisterung.

 

Die Idee, Zellbiologie und Humanbiologie miteinander zu verknüpfen, inspirierte mich wieder so sehr für die Wissenschaft wie damals als Kind. Auch in meiner Laborforschung hatte ich diese Begeisterung empfunden, aller­dings verließ sie mich sofort, sobald ich mich mit dem Verwaltungskram einer akademi­schen Fakultät herumplagen mußte und mich in endlosen Sitzungen oder auf den für mich quälenden Fakultätspartys langweilte.

 

Der Gedanke, mir Zellen als Mini-Menschen vorzustellen, hatte sich aus meiner jahre­langen Tätigkeit hinter Mikroskopen, in der ich immer wieder von der Komplexität und Kraft dieser unscheinbaren, beweglichen Teilchen beeindruckt war, ergeben In der Schule lernt man zwar die grundlegenden Komponenten der Zelle kennen: den Zellkern mit dem genetischen Material, die energieproduzierenden Mitochondrien, das Zytoplas­ma dazwischen und die schützende Membran als Außenhaut.

 

Aber in diesen anatomisch simpel anmutenden Zellen liegt eine komplexe Welt verborgen. Die Zellen, intelligent und klug wie sie sind, haben Technologien entwickelt, von denen unsere Ingenieure nur träumen können. Die meisten Biologen würden meine Betrachtungsweise von Zellen als Mini-Menschen für »unwissenschaftlich« halten. Wenn jemand etwas Nicht-Menschli­ches aus der Natur durch etwas aus dem menschlichen Bereich erklärt, nennt man das Anthropomorphismus. »Echte« Wissenschaftler halten Anthropomorphismus für eine Art Todsünde und verachten Kollegen, die so einen Aspekt wissentlich in ihre Arbeit einbringen.

 

Ich glaubte jedoch, aus gutem Grund diese unorthodoxen Wege zu gehen. Die Biologen versuchen, durch Beobachtungen der Natur und die Entwicklung von Hypothesen zu ei­nem wissenschaftlichen Verständnis darüber zu kommen, wie die Dinge funktionieren. Dann führen sie Experimente durch, um ihre Ideen zu überprüfen. Dabei erfordert die Entwicklung der Hypothese und die Gestaltung von Experimenten notwendigerweise, dass der Wissenschaftler eine Vorstellung davon hat, wie eine Zelle oder ein anderer Or­ganismus das eigene Leben »bewältigt«. Für diese von Menschen erdachten Lösungen oder diesen menschlichen Blick auf die biologischen Rätsel müßten auch diese Wissen­schaftler des Anthropomorphismus bezichtigt werden. Man kann es drehen und wenden wie man will – die biologische Wissenschaft beruht immer zu einem gewissen Teil auf einer vermenschlichten Sicht der Dinge.

 

Ohnehin halte ich das ungeschriebene Verbot des Anthropomorphismus für ein unnöti­ges Überbleibsel aus mittelalterlichen Zeiten, in denen die religiösen Autoritäten jede direkte Verwandtschaft zwischen dem Menschen und anderen Geschöpfen leugneten. Dieser Ansatz erscheint mir nur sinnvoll, wenn jemand versucht, eine Glühbirne oder ein Taschenmesser zu »vermenschlichen«, doch wenn es um lebendige Organismen geht, halte ich diese Kritik für nicht gerechtfertigt. Menschen sind multizelluläre Wesen – folglich gibt es mit Sicherheit grundlegende Verhaltensmuster, die wir mit unseren Zellen gemeinsam haben. Es ist mir jedoch durchaus bewußt, daß diese Sicht einen ge­wissen Perspektivwechsel erfordert. Unser jüdisch-christlich geprägter Glaube hat uns die längste Zeit weismachen wollen, wir seien intelligente Geschöpfe, die ganz anders erschaffen wurden als alle Pflanzen und Tiere. Diese Sichtweise hat uns gegenüber nichtintelligenten Geschöpfen hochnäsig werden lassen, vor allem gegenüber Organis­men auf den unteren evolutionären Stufen des Lebens.

 

Doch nichts liegt ferner von der Wahrheit. Wenn wir andere Menschen als Individuen oder uns selbst als individuellen Organismus im Spiegel betrachten, dann haben wir in gewisser Hinsicht Recht, jedenfalls von unserer menschlichen Beobachtungsebene aus. Doch wenn Sie Ihren Körper aus der Perspektive einer einzelnen Zelle sehen könnten, so wäre Ihre Sicht auf die Welt eine ganz andere. Aus dieser Perspektive würden Sie sich selbst nicht als Einzelwesen sehen, sondern als eine äußerst geschäftige und effizi­ent organisierte Gemeinschaft aus über 50 Billionen Einzelzellen.

 

Während ich für meinen Histologiekurs mit diesen Ideen herumspielte, kam mir immer wieder ein Bild aus einer Enzyklopädie in den Sinn, die ich als Kind verwendet hatte. Dort gab es eine Abbildung des menschlichen Körpers, die aus sieben transparenten Blättern bestand. Auf der ersten Seite war das Bild eines nackten Menschen zu sehen, auf der nächsten Seite war die Haut weggelassen und man sah die gesamte Muskulatur, und jedes weitere Blatt enthüllte mehr vom Innenleben des Körpers. So lernte man das Skelett kennen, das Nervensystem mit dem Gehirn, die Blutgefäße und die Organe.

 

Für meinen Kurs in der Karibik fertigte ich ebensolche Transparente für die einzelnen Zellstrukturen an. Die meisten dieser Zellstrukturen werden Organellen genannt, weil sie wie »Mini-Organe« in dem gallertartigen Zytoplasma angesiedelt sind. Organellen entsprechen in ihrer Funktion dem Gewebe und den Organen unseres menschlichen Körpers. Zu ihnen gehört der Nukleus als größte Organelle, die Mitochondrien, der Gol­gi-Apparat und die Vakuolen. Beim herkömmlichen Medizinstudium wird dieser Kurs so gelehrt, daß man zunächst diese Zellstrukturen vorstellt und anschließend zu den Ge­weben und Organen des menschlichen Körpers übergeht. Ich vermischte jedoch beides, um die Überlappungen zwischen dem menschlichen Körper und den einzelnen Zellen sichtbar zu machen.

 

Ich lehrte meine Studenten, daß die biochemischen Mechanismen einer Zell-Organelle im Wesentlichen die gleichen sind wie die unserer menschlichen Organe. Obwohl der Mensch aus Billionen von Zellen besteht, gibt es in unserem Körper keine einzige Funktion, die nicht bereits in der Einzelzelle angelegt ist. Jede Eukaryote (Zelle mit Zellkern) besitzt ein funktionales Äquivalent zu unserem Nervensystem, Verdauungs­
system, Atmungssystem, Ausscheidungssystem, Drüsensystem, Muskel- und

Skelett­system, Kreislauf- und Fortpflanzungssystem, sogar ein primitives Immunsystem, in dem antikörperartige Ubiquitin-Proteine eingesetzt werden.

 

Ich erklärte den Studenten auch, daß jede Zelle ein intelligentes Wesen ist, das allein überleben kann – wie uns die Wissenschaftler ständig demonstrieren, indem sie einzelne Zellen aus dem Körper entfernen und in Kulturen vermehren. Wie ich als Kind bereits ahnte, sind diese klugen Zellen ganz durchdrungen von ihrem Sinn und Zweck. Sie stre­ben aktiv nach einer Umgebung, die ihr Überleben fördert, und meiden giftige oder le­bensfeindliche Situationen. Wie die Menschen registrieren auch einzelne Zellen Tausen­de von Reizen aus ihrer Umgebung. Nach einer Analyse dieser Daten wählt die Zelle angemessene Verhaltensreaktionen, um ihr Überleben zu sichern.

 

Einzelne Zellen sind auch in der Lage, durch die Erfahrungen mit ihrer Umgebung zu lernen, zelluläre Erinnerungen zu speichern und diese an ihre Nachkommen weiterzuge­ben. Wenn sich zum Beispiel ein Kind mit dem Masernvirus ansteckt, dann muß eine unreife Immunzelle einen schützenden Protein-Antikörper gegen dieses Virus entwi­ckeln. Dazu muß diese Zelle ein neues Gen bilden, das ihr anschließend als Vorlage dazu dient, das Masern-Antikörper-Protein zu erzeugen.

 

Der erste Schritt dazu erfolgt im Zellkern der unreifen Immunzellen. Unter ihren Genen
gibt es viele DNS-Segmente, die besonders geformte Abschnitte von Proteinen enthal­
ten. Indem die Immunzellen diese DNS-Segmente zufällig kombinieren und zusammen­
fügen, erzeugen sie eine enorme Anzahl verschiedener Gene, und jedes davon bildet ein einzigartiges Antikörper-Protein. Wenn dann also eine dieser unreifen Immunzellen ein Antikörper-Protein erzeugt, das dem angreifenden Masernvirus ungefähr entspricht, so wird diese Zelle aktiviert.

 

Aktivierte Zellen besitzen einen erstaunlichen Mechanismus namens afinity maturation (übersetzbar etwa mit: Ähnlichkeits-Reifung), mit dessen Hilfe die Zellen ihr Antikör­per-Protein so verfeinern können, daß daraus ein perfektes Gegenstück zu dem Masern­virus wird [Li et al., 2003; Adams et al., 2003]. Durch einen Prozeß namens somatische Hypermutation kann die Zelle dann ihr ursprüngliches Antikörper-Gen hundertfach ko­pieren. Doch jede neue Version des Gens weist eine geringfügige Mutation auf, so dass ein leicht abgewandeltes Antikörper-Gen gebildet wird. Die Zelle sucht dann daraus den passendsten Antikörper aus. Diese ausgewählte Version des Gens durchläuft wiederum mehrere Runden der somatischen Hypermutation, um den Antikörper gegen das Ma­sernvirus immer weiter zu vervollkommnen [Wu et al., 2003; Blanden und Steele 1998; Diaz und Casali 2002; Gearhart 2002].


Der so ausgebildete Antikörper dockt dann an dem Virus an, inaktiviert den Angreifer und markiert ihn für die Zerstörung. So wird der Körper des Kindes vor der ungehinder­ten Vermehrung der Masernviren geschützt. Die Zellen bewahren die genetische »Erin­nerung« an diesen Antikörper, so daß sie, sollte dieser Mensch noch einmal dem Ma­sernvirus begegnen, sofort die schützende Immunabwehr einleiten können. Die neuen Antikörper-Gene können auch an alle Nachkommen dieser Zelle weitergegeben werden. Auf diese Weise hat die Zelle nicht nur etwas über das Masernvirus »gelernt«, sondern auch eine »Erinnerung« daran entwickelt, die sich weiter vererbt. Diese erstaunliche ge­netische Fähigkeit ist höchst bedeutsam, denn sie offenbart einen den Zellen innewoh­nenden »intelligenten« Mechanismus [Steele et al., 1998].

1.3 Die Ursprünge des Lebens: Kluge Zellen werden klüger

Es sollte uns nicht überraschen, daß Zellen so klug sind. Schließlich waren die ersten Lebensformen auf unserem Planeten Einzeller. Durch Fossilien wissen wir, daß sie 600 Millionen Jahre nach dem Entstehen der Erde auftraten. Während der danach folgenden 2,75 Milliarden Jahre gab es nur frei bewegliche, einzellige Organismen – Bakterien, Algen und amöbenartige Protozäen bevölkerten die Welt.

 

Vor etwa 750 Millionen Jahren fanden diese klugen Zellen heraus, wie sie noch klüger werden konnten. Die ersten Mehrzeller – Pflanzen und Tiere – entstanden. Mehrzeller waren zunächst lose Zellverbände oder »Zellkolonien« von zehn bis ein paar hundert Einzellern. Doch der evolutionäre Vorteil des Lebens in Gemeinschaft führte schnell zu Verbänden von Millionen, Milliarden und Billionen von sozial interaktiven Zellen. Jede einzelne Zelle ist zwar mikroskopisch klein, doch die Größe der Mehrzeller-Verbände kann vom kaum Sichtbaren bis zum Gigantischen reichen.

 

Die Biologen haben diese or­ganisierten Gemeinschaften nach den Strukturen klassifiziert, die sich mit dem mensch­liche Auge wahrnehmen lassen. Doch auch wenn sie dem bloßen Auge als Einzelwesen erscheinen mögen – eine Maus, ein Hund, ein Mensch – sind sie alle tatsächlich hochor­ganisierte Verbände von Milliarden und Billionen von Zellen.

 

Der evolutionäre Druck, immer größere Gemeinschaften zu bilden, spiegelt den biologi­schen Imperativ des Überlebens wider: Je besser ein Organismus seine Umgebung wahrnimmt, desto größer sind seine Überlebenschancen. Wenn sich Zellen zusammen­schließen, erhöht sich ihre Wahrnehmung exponentiell. Wenn wir also jeder Zelle einen willkürlich gewählten Wahrnehmungsfaktor X zuordnen, dann hat jeder Zellverband eine potenzielle Wahrnehmung von mindestens X-Mal der Anzahl ihrer Zellen.

 

Um in solchen großen Zusammenballungen zu überleben, entwickelten die

Zellverbän­de strukturierte Umgebungen – Gemeinschaften, in denen sie die anfallenden Aufgaben effektiver und exakter verteilen konnten, als es das Organigramm eines Großbetriebs je vermag. Es bewährte sich, einzelnen Zellen bestimmte Aufgaben zuzuordnen. In der Entwicklung von Tieren und Pflanzen beginnt diese zytologische Spezialisierung bereits beim Embryo und ermöglicht damit den Zellen, bestimmte Gewebe und Organe zu bil­den. Im Laufe der Zeit wurde diese hochdifferenzierte Arbeitsteilung in die Gene jeder Zelle einprogrammiert, was die Effizienz und Überlebensfähigkeit des Organismus er­heblich verbesserte.

 

In größeren Organismen befaßt sich zum Beispiel nur noch ein kleiner Anteil der Zellen damit, die Umgebung wahrzunehmen und auf sie zu reagieren. Diese Aufgabe hat eine Gruppe von Zellen übernommen, welche die Gewebe und Organe des Nervensystems bilden. Das Nervensystem dient dazu, die Umgebung wahrzunehmen und das Verhalten der anderen Zellen in der riesigen Gemeinschaft zu koordinieren.

 

Die Arbeitsteilung verlieh der Zellgemeinschaft noch einen weiteren Vorteil. Ihre Effi­zienz ermöglichte es, daß mehr Zellen von weniger leben konnten. Man kann das mit dem Unterschied zwischen den Baukosten für ein kleines Haus mit einem Schlafzimmer und den anteiligen Kosten für eine Wohnung mit einem Schlafzimmer in einem zehn­stöckigen Mietshaus vergleichen. Um zu überleben, muß jede Zelle einen gewissen An­teil von Energie einsetzen. Die durch die Gemeinschaft eingesparte Energie verbessert die Überlebenschancen und die Lebensqualität. Im amerikanischen Kapitalismus er­kannte Henry Ford den Vorteil einer differenzierten Gemeinschaftsarbeit und wandte ihn auf seine Fahrzeugproduktion an. Vor Fords Idee brauchte eine kleine Gruppe von sehr vielseitigen Mechanikern ein bis zwei Wochen, um ein Auto zusammenzubauen.

 

Ford organisierte seinen Betrieb so, daß jeder Arbeiter nur noch eine ganz bestimmte Aufgabe hatte. Er stellte viele dieser spezialisierten Kräfte in einer Reihe hintereinander auf und schuf damit die Fließbandarbeit. Jeder Monteur gab das zukünftige Auto nach Erledigung seiner Handgriffe und Aufgaben an den nächsten weiter. Durch diese Spezi­alisierung konnte Ford ein Auto in 90 Minuten zusammenbauen lassen statt in ein bis zwei Wochen.

 

Leider haben wir bequemerweise die für die Evolution notwendige Kooperation verges­sen, als Charles Darwin seine radikale Theorie über die Entstehung des Lebens vor­brachte. Vor 150 Jahren erklärte er, lebende Organismen befänden sich in einem ständi­gen »Kampf ums Überleben«. Für Darwin waren Kampf und Gewalt nicht einfach nur Teil der tierischen (menschlichen) Natur, sondern die dem evolutionären Fortschritt zu­grunde liegenden Kräfte. Im Schlußkapitel seines Hauptwerkes DER URSPRUNG DER ARTEN schrieb Darwin von einem unausweichlichen »Kampf ums Überleben« und daß die Evolution durch den »Kampf der Natur gegen Hunger und Tod« vorangetrieben
werde. Zusammen mit seiner Annahme, die Evolution werde durch den Zufall be­
stimmt, ergibt das eine Welt, der Alfred Lord Tennyson in poetischer Manier »blutige
Zähne und Klauen« zuschrieb – das Leben als eine endlose Abfolge sinnloser, grausa­
mer Schlachten ums Überleben.

1.4 Evolution ohne »blutige Klauen«

Obwohl Darwin der bei weitem berühmteste Evolutionstheoretiker ist, gebührt dem französischen Biologen Jean-Baptiste de Lamarck die Ehre, als Erster die Evolution als wissenschaftliche Tatsache eingeführt zu haben [Lamarck 1809, 1914, 1963]. Selbst
Ernst Mayr, der führende Vertreter des »Neo-Darwinismus«, einer modernen Version von Darwins Theorie, die auch die Molekulargenetik des zwanzigsten Jahrhunderts mit einbezieht, hält Lamarck für den eigentlichen Pionier. In seinem Klassiker EVOLUTION AND THE DIVERSITY OF LIFE [Mayr 1976] schrieb er:»Es scheint so, als habe Lamarck sehr viel mehr Anrecht darauf, als Begrün­der der Evolutionstheorie bezeichnet zu werden, wie es auch einige französi­sche Historiker bereits getan haben […] Er war der erste Autor, welcher der Präsentation einer Theorie der organischen Evolution ein ganzes Buch gewid­met hat. Er war der Erste, der das ganze Tierreich als ein Ergebnis der Evolu­tion darstellte.«

 

Lamarck hat seine Theorie nicht nur fünfzig Jahre vor Darwin veröffentlicht,sondern auch Mechanismen der Evolution aufgezeigt, die keineswegs derart unerbittlich und hart waren. Seine Theorie ging davon aus, daß die Evolution auf einer »instruktiven«, kooperativen Interaktion zwischen Organismen und ihrer Umgebung beruht, die es den Lebensformen ermöglicht, zu überleben und sich in einer dynamischen Welt zu entwi­ckeln. Er ahnte, daß Organismen Formen der Anpassung hervorbringen und weiterge­ben und daß diese dann das Überleben dieser Organismen in einer sich verändernden Umgebung sichern. Interessanterweise passen Lamarcks Hypothesen zu den neuen Er­kenntnissen der modernen Zellbiologie darüber, wie Immunsysteme sich an ihre Umge­bung anpassen.

 

Die Kirche nahm Lamarcks Theorie von Anfang an unter Beschuß. Die Annahme, der Mensch habe sich aus niederen Lebensformen entwickelt, galt als Gotteslästerung. Auch von seinen Fachkollegen, die noch unerschütterlich vom Kreationismus überzeugt wa­ren, wurde Lamarck ausgelacht. Ein deutscher Entwicklungsbiologe namens August Weismann versuchte Lamarck lächerlich zu machen, indem er seine Theorie, daß Orga­nismen überlebensorientierte, erworbene Eigenschaften weitervererben, durch Experi­mente überprüfte. In einem seiner Experimente schnitt er männlichen und weiblichen Mäusen die Schwänze ab und ließ sie sich fortpflanzen. Weismann meinte, wenn La­marcks Theorie zuträfe, müßten die Eltern ihre Schwanzlosigkeit an ihre Kinder weiter­geben. Die erste Generation von Mäusen wurde mit Schwänzen geboren. Weismann wiederholte das Experiment 21 Generationen lang, ohne daß eine schwanzlose Maus ge­boren wurde. Daraus schloß Weismann, daß Lamarcks Annahme falsch sei.

 

Doch Weismanns Experiment war kein echter Test für Lamarcks Theorie.

Lamarck setzte für solche Prozesse nämlich »sehr lange Zeitperioden« voraus, wie sein Biograph L. J. Jordanova zitiert. 1984 schrieb Jordanova, Lamarcks Theorie setze eine Anzahl von Vorbedingungen voraus, darunter:»… die Gesetze der Lebewesen haben im Laufe sehr langer Zeitperioden immer komplexere Formen herausgebildet.« [Jordanova 1984, Seite 71] Weismanns fünfjähriges Experiment dauerte eindeutig nicht lange genug, um die Theo­rie zu prüfen. Ein noch grundsätzlicherer Fehler bei Weismanns Experiment bestand darin, daß Lamarck nie behauptet hatte, jede Veränderung an einem Organismus würde sich erblich festsetzen. Lamarck meinte, daß Organismen an Merkmalen (wie zum Bei­spiel Schwänzen) festhalten, wenn sie für ihr Überleben notwendig sind. Vielleicht hielt Weismann die Schwänze der Mäuse nicht für überlebensnotwendig, aber hat jemand mal die Mäuse gefragt? Trotz all dieser Schwächen reichte die Studie über die schwanz­losen Mäuse aus, um Lamarcks wissenschaftliche Reputation zu untergraben. Und tat­sächlich wurden Lamarcks Theorien seither ignoriert und verunglimpft. C. H. Wadding­ton, Evolutions-Wissenschaftler an der Cornell University, schrieb in THE EVOLUTION OF
AN EVOLUTIONIST [Waddington 1975, Seite 38]: »Lamarck ist die einzige bedeutende Persönlichkeit der Geschichte der Biolo­gie, deren Namen mit Absicht in den Schmutz gezogen wurde. Die Beiträge der meisten Wissenschaftler waren irgendwann durch die neuere Forschung einfach überholt, aber nur wenige Werke werden noch zwei Jahrhunderte später mit solcher Vehemenz zurückgewiesen, daß man geneigt ist, zu vermu­ten, dahinter verberge sich ein schlechtes Gewissen. Tatsächlich bin ich der
Meinung, daß Lamarck Unrecht getan wurde.«

 

Diese weitsichtigen Worte schrieb Waddington vor dreißig Jahren. Heutzutage werden
Lamarcks Theorien wieder in Betracht gezogen, denn vor dem Hintergrund neuer wis­senschaftlicher Erkenntnisse scheint es so, als hätte der oft geschmähte Biologe nicht ganz Unrecht und der hochgelobte Darwin nicht ganz Recht gehabt. Der Titel eines Ar­tikels in dem angesehenen Magazin Science aus dem Jahr 2000 deutet auf eine gewisse Rehabilitierung hin: »Was Lamarck Just a Little Bit Right?« [Balter 2000]
Ein Grund dafür, daß manche Wissenschaftler sich wieder mit Lamarck befassen,

ist, daß die Evolutionsforscher uns an die unschätzbare Bedeutung erinnern, die Kooperati­on bei der Erhaltung des Lebens in der Biosphäre spielt. Schon seit langem haben die Wissenschaftler in der Natur symbiotische Beziehungen entdeckt. In seinem Buch DARWINS BLIND SPOT [Ryan 2002, Seite 16] zählt der britische Arzt Frank Ryan eine Reihe solcher Beziehungen auf, darunter eine Krabbe, die Nahrung sammelt, während ihr Partner, der Gobi-Fisch, sie vor Feinden schützt. Ein Einsiedlerkrebs trägt auf sei­nem Rücken eine rosa Seeanemone.

 

»Fische und Tintenfische fressen gerne Einsiedlerkrebse, doch wenn sie sich dieser Art nähern, schießt die Seeanemone aus ihren bunt gefärbten Tenta­keln mikroskopisch kleine giftige Pfeile ab, die den Räuber stechen und dazu veranlassen, sich woanders nach Nahrung umzusehen.«Die kriegerische Seeanemone hat natürlich auch etwas von dieser Beziehung – sie er­nährt sich von den Überresten der Beute des Einsiedlerkrebses.Das heutige Verständnis von Kooperation in der Natur geht jedoch weit über diese of­fensichtlichen Beispiele hinaus. »Die Biologen erkennen immer mehr, daß sich die Tie­re gemeinsam entwickelt haben und weiterhin gemeinsam mit diversen Zusammen­schlüssen von Mikroorganismen existieren, die sie für eine normale Gesundheit und Entwicklung brauchen«, berichtet ein Artikel in Science mit dem Titel »We Get By With A Little Help From Our (Little) Friends« [Ruby et al., 2004]. Die Untersuchung dieser Beziehungen ist das Thema eines rasch wachsenden Forschungsgebiets namens »System-Biologie«.

 

Leider wurde uns in der Vergangenheit beigebracht, gegen die Mikroorganismen mit al­lem Möglichen von antibakterieller Seife bis hin zu Antibiotika zu Felde zu ziehen. Da­bei wird jedoch völlig außer Acht gelassen, daß wir zur Aufrechterhaltung unserer Ge­sundheit viele Bakterien brauchen. Das klassische Beispiel dafür sind die Bakterien in unserem Verdauungssystem, die für uns überlebensnotwendig sind. Sie helfen uns, die Nahrung in unserem Magen und Darm zu verdauen und lebenswichtige Vitamine aufzu­nehmen. Diese Zusammenarbeit zwischen Mensch und Mikrobe wird durch den über­triebenen Einsatz von Antibiotika zerstört. Antibiotika sind Killer ohne Unterschei­dungsvermögen – sie töten unsere überlebenswichtigen Bakterien genauso effektiv wie die schädlichen.

 

Die neuen Fortschritte in der Genforschung haben einen weiteren Kooperationsmecha­nismus zwischen den Arten aufgezeigt. Lebende Organismen scheinen ihre Zellverbän­de dadurch zu integrieren, daß sie ihre Gene austauschen. Man dachte lange, Gene könnten nur an die direkten Nachkommen eines Organismus weitergegeben werden.

 

Jetzt erkennen die Wissenschaftler, daß das nicht nur bei Mitgliedern der gleichen Art, sondern auch mit Mitgliedern anderer Arten der Fall ist. Der Austausch von genetischen Informationen durch Gen-Transfer beschleunigt die Evolution, da die Organismen auf diese Weise »erlernte« Erfahrungen von anderen übernehmen können [Nitz et al., 2004; Pennisi 2004; Boucher et al., 2003; Dutta et al., 2002; Gogarten 2003]. Vor dem Hinter­grund dieses Gen-Austauschs können Organismen nicht mehr als völlig voneinander ge­trennte Wesen betrachtet werden, die Arten sind nicht durch unsichtbare Wände vonein­ander getrennt.

 

Daniel Drell, Leiter des mikrobiellen Genomprogramms im US-Ener­gieministerium stellte im Jahre 2001 in Science fest:»… wir können nicht mehr mit Sicherheit behaupten, was eine Art ist.« [Pennisi 2001] Dieser Austausch von Informationen ist kein Zufall, sondern eine Methode der Natur, das Überleben der Biosphäre zu sichern.

 

Wie bereits erwähnt, sind die Gene die physi­sche Erinnerung an das, was ein Organismus einmal gelernt hat. Der kürzlich entdeckte Austausch von Genen unter Einzelwesen verbreitet diese Erinnerungen und beeinflußt damit das Überleben aller Organismen. Jetzt, da uns dieser Gen-Transfer zwischen den Arten bewußt ist, werden die Gefahren der Gentechnologie noch offensichtlicher. Das Herumspielen an den Genen einer Tomatensorte hört nicht unbedingt bei der Tomate auf, sondern kann die ganze Biosphäre auf eine Weise verändern, die wir gar nicht ab­schätzen können. Es gibt bereits eine Studie am Menschen, die zeigt, daß die Gene von gentechnisch veränderter Nahrung durch den Verdauungsprozeß in die nützlichen Darmbakterien geraten und sie verändern [Heritage 2004; Netherwood et al., 2004].

 

Auf die gleiche Weise hat der Gen-Austausch zwischen genetisch veränderten Ackerfrüch­ten und natürlichen Arten der Umgebung zur Entwicklung von hochresistenten, soge­nannten Super-Unkräutern geführt [Milius 2003; Haygood et al., 2003; Desplanque et al., 2002; Spencer and Snow 2001]. Gentechniker haben den Gen-Austausch nie wirk­lich in Betracht gezogen, als sie ihre gentechnisch veränderten Produkte in die Umwelt entließen. Jetzt fangen wir an, die harten Konsequenzen dieser Unachtsamkeit zu spü­ren, denn die veränderten Gene verbreiten sich und verändern unsere Umwelt [Watrud et al., 2004].

 

Evolutionsforscher warnen vor den drohenden Gefahren für die Menschheit, wenn wir nicht begreifen, daß wir ein gemeinsames genetisches Schicksal haben und wie wichtig die Kooperation aller Lebewesen untereinander ist. Wir müssen über Darwins Theorien mit ihrer Betonung des Individuums hinausdenken und die Bedeutung der Gemeinschaft stärker berücksichtigen. Der britische Wissenschaftler Timothy Lenton hat Beweise da­für erbracht, daß die Evolution stärker vom Zusammenwirken der Arten untereinander abhängt als von dem Zusammenwirken der Individuen innerhalb einer Art.

 

Die Evoluti­on wird damit eher zu einer Frage des Überlebens der stärksten Gruppen als dem der stärksten Individuen. 1998 schreibt Lenton in einem Artikel in Nature: »Wir müssen die Gesamtheit der Organismen und ihre materielle Umgebung berücksichtigen, um ganz zu verstehen, welche Eigenschaften überdauern und dominieren werden.« [Lenton 1998] Lenton hält sich an James Lovelocks Gaia-Hypothese, die davon ausgeht, daß die Erde und alle ihre Arten einen gemeinsamen, interaktiven, lebendigen Organismus bilden. Die Anhänger dieser Hypothese argumentieren, daß jede Einmischung in das Gleichge­wicht dieses Super-Organismus namens Gaia – sei es durch die Zerstörung des Regen­waldes, die Schwächung der Ozonschicht oder die genetische Veränderung von Orga­nismen – sein Überleben und damit das unsrige gefährdet.

 

Jüngste Untersuchungen des britischen Natural Environment Research Council unter­stützen diese Bedenken [Thomas et al., 2004; Stevens et al., 2004]. Wir wissen von fünf massiven Katastrophen der Vernichtung von Arten auf unserem Planeten. Sie alle wur­den durch außerirdische Einflüsse ausgelöst, zum Beispiel indem ein Komet auf die Erde stürzte. Eine neue Studie kommt zu dem Ergebnis, daß »die Natur derzeit die sechste große Artenvernichtung ihrer Geschichte durchlebt« [Lovell 2004]. Diesmal ist die Ursache allerdings nicht außerirdischer Herkunft. Jeremy Thomas, einer der Autoren der Studie, meint:»Soweit wir das beurteilen können, ist dieses Mal ein einziger Tierorganismus dafür verantwortlich – der Mensch.«

1.5 Die Umsetzung der Lehre der Zellen

In den Jahren, die ich an medizinischen Hochschulen gelehrt habe, machte ich die Er­fahrung, daß Medizinstudenten untereinander konkurrierender und bissiger sind als eine ganze Wagenladung Anwälte. Sie leben einen geradezu darwinistischen Überlebens­kampf aus, um nach vier zermürbenden Jahren unter den Stärksten und Besten zu sein, die sich zur Abschlußprüfung schleppen. Das zielstrebige Erringen von Auszeichnungen ohne Rücksicht auf die Umgebung entspricht zweifellos dem darwinistischen Modell – für angehende mitfühlende Heiler erschien mir dieses Konzept allerdings schon immer etwas merkwürdig.

 

Doch während meines Inselaufenthalts in der Karibik mußte ich meine Vorbehalte ge­genüber Medizinstudenten fallen lassen. Nachdem ich sie aufgerüttelt hatte, hörte meine Truppe von Außenseitern auf, sich wie »normale« Medizinstudenten zu verhalten. Sie gaben ihren individuellen Überlebenskampf auf und verschmolzen zu einem Team, das dieses Semester gemeinsam überleben wollte. Die stärkeren Studenten halfen den schwächeren, und dadurch wurden alle stärker. Ihre Harmonie kam für mich überra­schend und war berührend zu beobachten.Und am Ende gab es auch noch ein Happy End. Ich setzte den Studenten genau das glei­che Abschlußexamen vor, das meine Studenten in Wisconsin absolvieren mußten, und dennoch bestand im Ergebnis praktisch kein Unterschied zwischen diesen zu einem nor­malen Studium nicht zugelassenen, »untauglichen« Studenten und ihren privilegierten Kolleginnen und Kollegen in den Staaten.

 

Später erfuhr ich, daß viele von ihnen bei ih­rer Heimkehr mit anderen Medizin-Studenten von amerikanischen Universitäten zusam­mentrafen und stolz feststellten, daß sie selbst ein tieferes Verständnis vom Leben der Zellen und Organismen besaßen als die anderen. Ich war natürlich stolz darauf, daß meine Studenten ein akademisches Wunder bewerk­stelligt hatten, aber erst Jahre später begriff ich, wie sie das geschafft hatten. Damals hielt ich noch den Zuschnitt des Kurses für den entscheidenden Punkt, und ich glaube noch immer, daß sich die entsprechenden Inhalte besser präsentieren lassen, wenn man Zell- und Humanbiologie zueinander in Beziehung setzt. Doch nachdem ich mich in­zwischen schon so weit in ein Terrain vorgewagt habe, das manche, wie schon gesagt, für Dr.-Dolittle-Land halten, führe ich einen Teil des Erfolgs meiner Studenten darauf zurück, daß sie sich nicht wie normale amerikanische Medizinstudenten, das heißt, wie Einzelkämpfer verhielten, sondern sich am Verhalten der intelligenten Zellen orientier­ten, die sich zusammenschließen, um noch intelligenter zu werden. Und es ist keines­wegs so, daß ich meinen Studenten etwa dazu geraten hätte, denn ich selbst war damals dem herkömmlichen wissenschaftlichen Denken noch zu tief verhaftet. Ich glaube eher, daß sie diese Richtung ganz intuitiv einschlugen, nachdem sie gehört hatten, mit wel­cher Bewunderung ich von den Zellen sprach, die sich kooperativ zusammenschließen, um komplexere und damit erfolgreichere Organismen zu bilden.

 

Heute meine ich noch einen weiteren Grund für den Erfolg meiner Studenten zu kennen. Ich hörte damals mit meinem Lobpreis nicht bei den Zellen auf – ich pries auch die Stu­denten. Sie mußten hören, daß ich sie für erstklassige Studenten hielt, um selbst glauben zu können, daß sie tatsächlich die Leistungen von erstklassigen Studenten erbringen konnten. Wie ich in den folgenden Kapiteln zeigen werde, führen viele von uns ihr ein­geschränktes Leben nicht aufgrund eines Mangels an Möglichkeiten, sondern weil sie meinen, das müsse so sein. Aber ich will nicht vorgreifen. An dieser Stelle genügt es, festzuhalten, daß ich mich nach meinen vier Monaten im Paradies, in denen ich meinen Kurs in Zellbiologie so lehrte, daß ich mir dabei gleichzeitig über meine neue Sicht auf die Zellen und auf die daraus folgenden Lehren für die Menschen klar wurde, auf dem besten Weg zum Verständnis der Neuen Biologie befand. Denn diese läßt sowohl die fa­talistische Auffassung von der genetischen und elterlichen Programmierung hinter sich als auch Darwins These vom Überleben des Stärkeren.