9 Die Chance meines Lebens

Die eigentliche Prüfung erwartete mich bei MAIN. Am nächsten Morgen fuhr ich als Erstes zum Hauptquartier der Firma im Prudential Center, und während ich mit Dutzenden anderer Angestellter vor dem Aufzug wartete, hörte ich, daß Mac Hall, der undurchsichtige greise Vorsitzende und CEO von MAIN, Einar zum Leiter des Büros in
Portland, Oregon befördert hatte. Das bedeutete, daß ich nun offiziell Bruno Zambotti unterstellt war.


Der »Silberfuchs« wurde Bruno seiner Haarfarbe wegen genannt. Außerdem hatte er die unheimliche Fähigkeit, jeden auszutricksen, der ihm gefährlich werden konnte. Bruno hatte das blendende Aussehen eines Cary Grant. Er war sehr eloquent und hatte ein Ingenieursdiplom und einen MBA-Abschluß. Er besaß gute Kenntnisse der Ökonometrie, war Vizepräsident der Stromsparte von MAIN und zuständig für die meisten internationalen Projekte der Firma. Zudem galt er als erste Wahl für den Posten des obersten Chefs der Firma, wenn sein Mentor, der alternde Jake Dauber, in den Ruhestand treten würde. Wie die meisten Mitarbeiter von MAIN war auch ich von Bruno Zambotti einerseits fasziniert, andererseits flößte er mir auch Angst ein.

 

Kurz vor dem Mittagessen wurde ich in Brunos Büro gerufen. Nach einer kurzen Unterhaltung über Indonesien sagte er etwas, das mich zusammenzucken ließ. »Ich werde Howard Parker entlassen. Ich will hier nicht in Einzelheiten gehen, aber er hat einfach den Kontakt zur Wirklichkeit verloren.« Sein Lächeln wirkte irritierend freundlich, während er mit einem Finger auf einen Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch klopfte. »Acht Prozent im Jahr. Das ist seine Stromprognose. Halten Sie das fümöglich? In einem Land mit dem Potential Indonesiens!« Sein Lächeln verschwand, und er schaute mir in die Augen. »Charlie Illingworth hat mir mitgeteilt, daß Ihre Wirtschaftsprognose genau dem Zielbereich entspricht und ein Wachstum der Leistungsbilanz von 17 bis 20% anpeilt. Ist das richtig?« Ich bejahte es.


Er stand auf und reichte mir die Hand. »Glückwunsch. Sie sind befördert.« Vielleicht hätte ich jetzt hinausgehen und mit ein paar Kollegen in einem guten Restaurant feiern sollen – oder auch allein. Doch ich dachte an Claudine. Ich brannte darauf, ihr von meiner Beförderung und von meinen Erlebnissen in Indonesien zu erzählen. Sie
hatte mir geraten, sie nicht aus dem Ausland anzurufen, und ich hatte mich daran gehalten. Aber jetzt mußte ich bestürzt feststellen, daß sie unter ihrer Telefonnummer nicht mehr zu erreichen war und auch keine neue Nummer angegeben wurde. Ich machte mich auf die Suche nach ihr.


In ihrer Wohnung lebte jetzt ein junges Paar. Es war Mittagszeit, aber ich hatte die beiden wahrscheinlich aus dem Bett geholt; sie waren verärgert und sagten, sie würden keine Claudine kennen. Daraufhin suchte ich das Maklerbüro auf und gab mich als Claudines Cousin aus. In den Unterlagen des Büros fand sich jedoch kein Hinweis auf eine Vermietung an eine Person mit diesem Namen; der vorhergehende Mietvertrag sei mit einem Mann abgeschlossen worden, der anonym bleiben wollte. Im Personalbüro von MAIN im Prudential Center erhielt ich die Auskunft, daß keine Unterlagen über Claudine vorhanden seien. Man verwies jedoch auf eine Akte über »Spezial-Consultants«, die mir allerdings nicht ausgehändigt werden dürfe. Am späten Nachmittag war ich erschöpft und deprimiert. Zu allem Überfluß machte sich nun bei mir auch die Zeitverschiebung bemerkbar. Als ich in meine leere Wohnung zurückkehrte, fühlte ich mich einsam und verlassen. Meine Beförderung erschien mir bedeutungslos oder, schlimmer noch, lediglich als Auszeichnung für meine Bereitschaft, mich zu prostituieren. Verzweifelt warf ich mich aufs Bett. Ich war von Claudine benutzt und fallengelassen worden. Aber ich wollte mich nicht von meiner Wut und meiner Enttäuschung überwältigen lassen und verdrängte meine Gefühle. Stundenlang, wie es mir vorkam, lag ich auf dem Bett und starrte an die Decke.


Schließlich hatte ich mich wieder einigermaßen gefangen. Ich stand auf, trank ein Bier und schleuderte die leere Flasche gegen einen Tisch. Dann schaute ich aus dem Fenster. Ich blickte eine entfernte Straße entlang und glaubte, ich sähe Claudine auf mich zukommen. Ich sah zur Tür und dann wieder aus dem Fenster. Die Frau war näher gekommen. Ich sah, daß sie attraktiv war, und ihr Gang erinnerte mich an Claudine, aber es war eine andere Frau. Mich verließ der Mut, und Zorn und Wut verwandelten sich in Angst.


Ich sah Claudine vor mir, wie sie um sich schlug, wie sie in einem Kugelhagel umhertaumelte, bevor sie zu Boden fiel. Ich schüttelte das Bild ab, nahm eine Valium-Tablette und trank mich in den Schlaf. Am nächsten Morgen weckte mich ein Anruf aus dem Personalbüro von MAIN. Paul Mormino, der Personalchef, versicherte mir, er verstehe durchaus, daß ich mich ein wenig ausruhen wolle, aber er müsse mich am Nachmittag sprechen. »Gute Nachrichten«, sagte er. »Etwas, das Sie sehr freuen wird.« Ich kam pünktlich ins Büro und erfuhr, daß Bruno wirklich Wort gehalten hatte. Ich war nicht nur auf Howards alten Posten befördert worden, sondern hatte den Titel Chefvolkswirt und eine Gehaltserhöhung bekommen. Das heiterte mich ein wenig auf. Ich nahm mir den Nachmittag frei und spazierte mit einer Flasche Bier hinunter zum Ufer des Charles River. Ich beobachtete die Segelboote und verdaute den Jetlag und meinen Kater. Langsam wurde mir klar, daß Claudine ihre Aufgabe erledigt hatte und sich nun ihrem nächsten Auftrag widmete. Sie hatte stets darauf beharrt, daß wir absolut
diskret sein müßten. Sie würde mich schon anrufen. Mormino hatte Recht. Meine Niedergeschlagenheit – und meine Sorgen – schwanden allmählich. In den folgenden Wochen versuchte ich, alle Gedanken an Claudine beiseite zu schieben. Ich konzentrierte mich auf meinen Bericht über die indonesische Wirtschaft und die Überarbeitung von Howards Prognosen zum Strombedarf. Ich lieferte einen Bericht ab, der ganz nach dem Geschmack meiner Vorgesetzten war: Nach Fertigstellung des neuen Systems würde der Strombedarf zwölf Jahre lang um durchschnittlich 19% pro Jahr wachsen, in den folgenden acht Jahren würde das Wachstum auf durchschnittlich 17% sinken und dann für den Rest der 25-Jahre-Projektion bei rund 15% bleiben.


Ich präsentierte meine Erkenntnisse bei Besprechungen mit internationalen Kreditinstituten. Deren Experten befragten mich ausgiebig und gnadenlos. Unterdessen hatte mich eine grimmige Entschlossenheit gepackt, vergleichbar jener Einstellung, die mich in der Schule dazu gebracht hatte, mich im Unterricht besonders hervorzutun, statt mich aufzulehnen. Dennoch mußte ich immer wieder an Claudine denken. Als mich ein frecher junger Volkswirt, der sich bei der Asiatischen Entwicklungsbank einen Namen machen wollte, einen ganzen Nachmittag lang unbarmherzig in die Mangel nahm, erinnerte ich mich an den Ratschlag, den mir Claudine gegeben hatte. »Wer kann 25 Jahre in die Zukunft blicken?«, hatte sie gefragt, als wir vor vielen Monaten in ihrer Wohnung in der Beacon Street saßen. »Ihre Prognose ist genauso gut wie alle anderen. Es geht einzig um das Vertrauen.« Ich bestärkte mich in dem Glauben, daß ich ein Experte war, und erinnerte mich daran, daß ich mehr Zeit meines Lebens in Entwicklungsländern verbracht hatte, als viele dieser Männer – von denen einige doppelt so alt waren wie ich –, die nun meine Arbeit beurteilen wollten. Ich hatte am Amazonas gelebt und war auf Java in Gebiete gereist, in die sich sonst niemand vorgewagt hatte. Ich hatte mehrere Kurse besucht, in denen Managern und Wirtschaftsführern die Feinheiten der Ökonometrie beigebracht wurden, und ich hielt mich für einen jener neuen, statistisch orientierten und auf ökonometrische Modelle setzenden Wunderknaben, die sich Robert McNamara wünschte, der zupakkende Chef der Weltbank, der früher Präsident der Ford Motor Company und dann John F. Kennedys Verteidigungsminister gewesen war. Und hier war ein Mann, der sich mit Zahlen, Wahrscheinlichkeitstheorien und mathematischen Modellen ein gewisses Ansehen erworben hatte, aber vermutlich auch durch sein stark ausgeprägtes Selbstbewußtsein.


Ich wollte sowohl McNamara als auch meinem Chef Bruno nacheifern. Ich übernahm Redewendungen und Ausdrucksweisen des Ersteren und imitierte das großspurige Auftreten des Letzteren und ließ mit federndem Gang den Diplomatenkoffer an meiner Seite dynamisch schwingen. Rückblickend muß ich mich wundern über meine Dreistigkeit. Mein Fachwissen war ziemlich begrenzt, aber was mir an Ausbildung und Kenntnissen fehlte, machte ich durch Frechheit wett. Und es funktionierte. Das Expertenteam akzeptierte meine Prognosen. Im Lauf der folgenden Monate nahm ich an Besprechungen in Teheran, Caracas, Guatemala-City, London, Wien und Washington D. C. teil. Ich lernte berühmte Persönlichkeiten kennen, wie den Schah von Persien, mehrere ehemalige Staatspräsidenten und schließlich auch Robert McNamara. Wie die Prep School war auch dies eine Männerwelt. Erstaunt beobachtete ich, wie mein neuer Titel und die Berichte über meine jüngsten Erfolge bei den internationalen Kreditinstituten andere Menschen beeindruckten.


Zunächst stieg mir all diese Aufmerksamkeit zu Kopf. Ich kam mir vor wie der Zauberer Merlin, der mit seinem Zauberstab über ein Land fährt und dafür sorgt, daß sich dort schlagartig die Lage aufhellt und neue Fabriken und Betriebe wie Blumen aus dem Boden schießen. Aber dann kam die Desillusionierung. Ich stellte meine eigenen Motive und jene der Menschen, mit denen ich zusammenarbeitete, immer mehr in Frage. Ein klangvoller Titel hilft einem nicht, die verzweifelte Lage eines Aussätzigen zu verstehen, der neben einer Kloake in Jakarta hausen muß, und ich bezweifelte auch, daß ein versierter Umgang mit Statistiken einen Menschen dazu befähigt, in die Zukunft zu blicken. Je besser ich die Leute kennenlernte, die weltbewegende Entscheidungen treffen, desto skeptischer wurde ich hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und ihrer Absichten. Wenn ich in die Gesichter schaute, die um die Konferenztische saßen, mußte ich mich oft sehr bemühen, meine Wut zu verbergen. Aber schließlich veränderte sich auch diese Sichtweise. Ich gelangte zu der Überzeugung, daß diese Männer überwiegend in dem Glauben handelten, das Richtige zu tun. Ebenso wie Charlie waren sie überzeugt, daß Kommunismus und Terrorismus böse Kräfte wären – und nicht vorhersehbare Reaktionen auf Entscheidungen, die sie und ihre Vorgänger getroffen hatten – und daß sie ihrem Heimatland, ihren Kindern und Gott gegenüber verpflichtet wären, die Welt zum Kapitalismus zu bekehren. Sie vertraten auch das Prinzip vom Überleben des Stärkeren; wenn sie das Glück gehabt hatten, in eine privilegierte Gesellschaftsschicht hineingeboren zu werden, statt in eine Slumsiedlung, empfanden sie dies als Verpflichtung, ihren sozialen Status an ihre Nachkommen zu vererben.


Ich war unschlüssig und betrachtete diese Menschen einmal als Mitwisser einer Verschwörung und dann wieder als eine verschworene Bruderschaft, die entschlossen ist, die Welt zu beherrschen. Im Lauf der Zeit jedoch verglich ich sie immer häufiger mit den Plantagenbesitzern in den Südstaaten in der Zeit vor dem amerikanischen Bürger-
krieg. Diese Männer bildeten eine lockere Vereinigung, die durch gemeinsame Überzeugungen und Eigeninteressen zusammengehalten wurde; sie waren keine elitäre Gruppe, die sich an geheimen Treffpunkten versammelte und finstere Pläne ausbrütete. Die autokratischen Plantagenbesitzer waren mit Bediensteten und Sklaven aufgewachsen und in dem Glauben erzogen worden, daß es ihr Recht und sogar ihre Pflicht sei, sich um die »Heiden« zu kümmern und sie zur Religion und Lebensweise ihrer Herren zu bekehren. Auch wenn sie die Sklaverei vielleicht aus philosophischen Gründen ablehnten, konnten sie dieses Wirtschaftssystem doch, wie etwa Thomas Jefferson, als Notwendigkeit rechtfertigen, da die Abschaffung der Sklaverei zu einem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Chaos führen würde. Aus ähnlichem Holz schienen auch die Führer der modernen Oligarchie geschnitzt zu sein, die ich mittlerweile als »Korporatokratie« bezeichnete.


Ich begann mir auch die Frage zu stellen, wer von Kriegen profitiert, von der massenhaften Produktion von Waffen, vom Bau von Staudämmen und von der Zerstörung indigener Kulturen und Lebenswelten. Ich begann mich dafür zu interessieren, wem es nützt, wenn Hunderttausende Menschen an Hunger, verschmutztem Wasser und an Krankheiten sterben, die problemlos geheilt werden könnten. Allmählich wurde mir klar, daß dies langfristig niemandem nützt, daß kurzfristig aber jene, die an der Spitze der Pyramide stehen – meine Vorgesetzten und ich – zumindest materiell davon profitierten.


Daraus ergaben sich weitere Fragen: Warum besteht diese Situation weiter? Weshalb ist das seit Jahrhunderten so? Liegt die Antwort vielleicht in der alten Weisheit, daß »Macht gleichbedeutend ist mit Recht«, daß jene, die an der Macht sind, das System aufrechterhalten?


Doch die Annahme, daß diese Situation allein durch Macht erhalten wird, erschien mir unzureichend. Obwohl dieser Zusammenhang durchaus vieles erklärte, hatte ich doch den Eindruck, daß es noch eine stärkere Triebkraft geben müsse. Ich erinnerte mich an einen Ökonomieprofessor aus meiner Zeit an der Business School, einen Mann aus Nordindien, der in seinen Vorlesungen von begrenzten Ressourcen, vom Zwang der Menschheit zu unablässigem Wachstum und vom Prinzip der Sklavenarbeit gesprochen hatte. Diesem Professor zufolge zeichnet sich jedes erfolgreiche kapitalistische System durch Hierarchien mit rigiden Befehlsstrukturen aus: Ganz oben steht eine Hand voll Menschen, die über Untergebene auf mehreren absteigenden Hierarchiestufen herrscht,
während der Boden durch ein riesiges Heer von Arbeitskräften gebildet wird, die man in wirtschaftlicher Hinsicht auch als Sklaven bezeichnen könnte. Ich gelangte schließlich zu der Überzeugung, daß wir dieses System fördern, weil die Korporatokratie uns, den Amerikanern, eingeredet hat, Gott selbst habe uns das Recht verliehen, einige wenige Vertreter von uns an die Spitze dieser kapitalistischen Pyramide zu stellen und unser System der ganzen Welt zu oktroyieren.


Wir sind natürlich nicht die Ersten, die das tun. Die Liste unserer Vorgänger reicht zurück bis zu den alten Imperien in Nordafrika, im Mittleren Osten und in Asien, gefolgt von den Reichen der Perser, der Griechen und der Römer, den Kreuzfahrern und den Gründern der europäischen Reiche in der Zeit vor Kolumbus. Diese imperialistischen Bestrebungen waren und sind die Ursache für die meisten Kriege, für Umweltverschmutzung, Hunger, die Ausrottung von Arten und Völkermorde. Das Machtstreben hat jedoch auch von der Bevölkerung der betreffenden Imperien hohe Tribute gefordert, ihr Wohlergehen beeinträchtigt, soziale Probleme hervorgerufen und eine Situation heraufbeschworen, in der die reichsten Gesellschaften der Menschheitsgeschichte mit den höchsten Selbstmordraten, mit Drogenmißbrauch und mit Gewalt zu kämpfen haben.

 

Ich dachte intensiv über all diese Fragen nach, vermied es jedoch, meine eigene Rolle dabei zu hinterfragen. Ich versuchte mich selbst nicht als einen Economic Hit Man, sondern als einen Chefvolkswirt zu betrachten. Das erschien mir durchaus legitim, und wenn ich eine Bestätigung suchte, brauchte ich nur einen Blick auf meine Gehaltsabrechnung zu werfen: Sie stammte von MAIN, einer privaten Firma. Ich erhielt keinen Cent von der NSA oder einer anderen Regierungsbehörde. Und das überzeugte mich. Fast.


Eines Nachmittags rief mich Bruno in sein Büro. Er trat hinter den Stuhl, auf dem ich saß, und klopfte mir auf die Schulter. »Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet«, schmeichelte er mir. »Um uns erkenntlich zu zeigen, bieten wir Ihnen die Chance Ihres Lebens, eine Gelegenheit, die nur sehr wenigen Männern geboten wird, selbst wenn sie
doppelt so alt sind wie Sie.«