30 Einmarsch der USA in Panama

Torrijos war tot, aber Panama nahm noch immer einen besonderen Platz in meinem Herzen ein. Da ich in Südflorida lebte, konnte ich mir aus vielfältigen Quellen Informationen beschaffen über die aktuellen Ereignisse in Mittelamerika. Torrijos’ Vermächtnis lebte weiter, obwohl es nun von Menschen aufgegriffen wurde, die nicht sein Charisma und seine Charakterstärke hatten. Nach seinem Tod wurden die Bemühungen fortgesetzt, die Probleme in der Region zu regeln, aber Panama zeigte sich weiterhin entschlossen, die USA zu zwingen, sich an die Abmachungen im Kanalvertrag zu halten.


Torrijos’ Nachfolger Manuel Noriega schien zunächst in die Fußstapfen seines Mentors treten zu wollen. Ich habe Noriega nie persönlich kennengelernt, aber nach allen Berichten setzte er sich anfangs durchaus für die Armen und Unterdrückten Lateinamerikas ein. Er ließ auch die Untersuchungen über die Realisierbarkeit eines zweiten Kanals weiterführen, der mit japanischer Finanzhilfe gebaut werden sollte. Da dieses Vorhaben sogar zu seinen vordringlichsten Projekten zählte, machte er sich keine Freunde in Washington und bei den privaten Konzernen. Noriega schrieb dazu später: Außenminister George Shultz war ehemals leitender Mitarbeiter des multinationalen Baukonzerns Bechtel; Verteidigungsminister Caspar Weinberger war als Vizepräsident bei Bechtel tätig gewesen. Bechtel hätte nichts lieber getan, als jene Milliardenbeträge einzustreichen, die für den Bau des Kanals aufgewendet worden wären … Die Regierungen Reagan und Bush fürchteten, Japan könnte bei einem möglichen Kanalbauprojekt die Federführung übernehmen; nicht nur unangebrachte Sicherheitsbedenken spielten hier eine Rolle, sondern auch wirtschaftliche Rivalität. Die US-Baukonzerne liefen Gefahr, Milliarden Dollar zu verlieren. Aber Noriega war kein Torrijos. Er verfügte weder über das Charisma noch die Integrität seines früheren Chefs. Im Lauf der Zeit wurde er immer häufiger mit Korruption und Drogenhandel in Verbindung gebracht, und man verdächtigte ihn sogar, er habe einen politischen Gegner namens Hugo Spadofora umbringen lassen.


Der Oberst Noriega hatte sich als Führer der Einheit G-2 einen Namen gemacht, einer Geheimdienstabteilung des panamaischen Militärs, die mit der CIA zusammenarbeitete. In dieser Funktion knüpfte er enge Kontakte zum damaligen CIA-Direktor William J. Casey. Die CIA nutzte diese Verbindung, um ihre Ziele in der Karibik sowie in Zentral-und Südamerika zu fördern. Als beispielsweise die Regierung Reagan 1983 Fidel Castro vorab über die bevorstehende Invasion der Insel Grenada in Kenntnis setzen wollte, wandte sich Casey an Noriega und bat ihn, die Nachricht zu überbringen. Der Oberst half dem amerikanischen Geheimdienst auch, die Drogenkartelle in Kolumbien und in anderen Ländern zu infiltrieren.


Im Jahr 1984 ließ sich Noriega zum General und zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte Panamas befördern. Als Casey damals in Panama-Stadt eintraf und am Flughafen vom Stationsleiter der CIA empfangen wurde, soll er Berichten zufolge geäußert haben: »Wo ist denn mein Junge? Wo steckt Noriega?« Als der General später Washington besuchte, traf er sich mit Casey in dessen Privathaus. Viele Jahre später sollte Noriega zugeben, daß er sich aufgrund seiner engen Beziehung zu Casey für unverwundbar hielt. Er glaubte, die CIA sei ähnlich wie seine G-2-Truppe der stärkste Teil der Regierung ihres Landes. Er war überzeugt, daß Casey ihn schützen würde trotz seiner Haltung zum Kanal und zur Frage der US-Militärbasen in der Kanalzone. Während Torrijos eine internationale Ikone für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung gewesen war, wurde Noriega zu einem Symbol für Korruption und Dekadenz. Sein Ruf wurde noch schlechter, als die New York Times am 12. Juni 1986 einen Aufmacher brachte mit der Schlagzeile: »Panamas starker Mann soll in Drogen- und Schwarzgeldgeschäfte verstrickt sein.« In dem Artikel eines mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten amerikanischen Reporters wurde behauptet, daß sich der General heimlich an mehreren illegalen Geschäften in Lateinamerika beteiligt habe, daß er eine Art Doppelagent sei und sowohl für die USA wie auch für Kuba spioniert habe, daß die G-2-Einheit auf sei-
nen Befehl Hugo Spadafora enthauptet habe und daß Noriega persönlich »das größte Drogenkartell in Panama« leite. Der Artikel wurde ergänzt durch ein wenig schmeichelhaftes Porträt des Generals, und ein Fortsetzungsartikel am nächsten Tag wartete mit weiteren Einzelheiten auf.

 

Darüber hinaus hatte es Noriega mit einem US-Präsidenten zu tun, der unter einem Image-Problem litt, das die Journalisten als den »Weichei-Faktor« von George H. W. Bush bezeichneten.68 Dies gewann besondere Bedeutung, als sich Noriega trotzig weigerte, die Erlaubnis für den Betrieb der School of the Americanium 15 Jahre zu verlängern. In den Memoiren des Generals finden sich dazu interessante Ausführungen: Während wir entschlossen und stolz waren, Torrijos’ Vermächtnis zu pflegen, wollten die Vereinigten Staaten all dies unterbinden. Sie verlangten eine Verlängerung oder eine Neuverhandlung der Genehmigung für die Einrichtung [School of the Americas], die sie aufgrund ihrer zunehmenden Kriegsvorbereitungen in Mittelamerika weiterhin
benötigten. Aber diese School of the Americas war für uns unerträglich. Wir wollten keine Ausbildungsstätte für Todesschwadronen und rechtsgerichtete Militärs auf unserem Boden.

 

Obwohl es zu erwarten gewesen war, zeigte sich alle Welt erstaunt, als die USA am 20. Dezember 1989 in Panama einmarschierten und dabei die größte Luftlandeoperation seit dem Zweiten Weltkrieg durchführten. Es war ein unprovozierter Angriff auf eine Zivilbevölkerung. Panama und seine Bewohner stellten keinerlei Gefahr dar für die Vereinigten Staaten oder für irgendein anderes Land. Staatsmänner, Regierungen und Medien verurteilten die einseitige US-Aktion als klaren Verstoß gegen das Völkerrecht. Hätte sich diese Militäroperation gegen ein Land gerichtet, dessen Herrscher Massenmorde oder andere Menschenrechtsverletzungen begangen hatten – beispielsweise gegen das Chile unter Pinochet, das Paraguay unter Stroessner, das Nicaragua Somosas, das El Salvador D’Abuissons oder den Irak Saddams –, hätte die Welt wohl eher mit Verständnis reagiert. Aber Panama hatte sich nichts dergleichen zuschulden kommen lassen; es hatte lediglich gewagt, sich den Wünschen einer Hand voll mächtiger Politiker und Firmenchefs zu widersetzen. Es hatte auf der Erfüllung des Kanalvertrags bestanden, es hatte mit Sozialreformern Gespräche geführt und es hatte die Möglichkeit geprüft, einen neuen Kanal mit japanischem Geld und japanischen Baufirmen zu bauen. Dafür mußte es büßen. Noriega schrieb hierzu:

 

Ich möchte Folgendes klarstellen: Die Destabilisierungskampagne, die 1986 von den USA begonnen wurde und 1989 zum Einmarsch in Panama führte, wurde dadurch motiviert, daß die USA unbedingt verhindern wollten, daß die Kontrolle über den Kanal wieder in die Hände des unabhängigen, souveränen Panama zurückgegeben wur-
de – das auf die Unterstützung Japans zählen konnte … Shultz und Weinberger, die in die Maske von Politikern geschlüpft waren, die im Dienste der Öffentlichkeit handelten, und denen zugute kam, daß die Bevölkerung nichts wußte von den mächtigen Wirtschaftsinteressen, die sie vertraten, arbeiteten unterdessen an einer Propagandakampagne, die darauf abzielte, mich zu stürzen. Washington verwies zur Rechtfertigung seines Einmarsches auf einen einzelnen Mann.


Die Begründung dafür, daß die Vereinigten Staaten junge Männer und Frauen in dieses Land schickten, wo sie ihr Leben riskierten und unschuldige Menschen töteten, auch eine unbekannte Zahl von Kindern, und große Teile von Panama-Stadt in Brand steckten, lautete schlicht und einfach Noriega. Er wurde als ein böser Mensch hingestellt, ein Feind des Volkes, ein skrupelloser Drogenhändler, und er lieferte dadurch der US-Regierung den Vorwand für die Besetzung eines Landes mit zwei Millionen Einwohnern – die zufällig auf einer der wertvollsten Immobilien der Welt saßen.


Die Invasion beunruhigte mich sehr und stürzte mich in eine tagelange Depression. Ich wußte, daß Noriega Leibwächter hatte, und doch konnte ich es nicht glauben, daß die Schakale ihn einfach aus dem Verkehr gezogen hatten wie Roldós und Torrijos. Die meisten seiner Leibwächter waren vermutlich von US-Militärs ausgebildet worden und waren vielleicht bestochen worden. Vielleicht sahen sie weg oder fielen Noriega sogar in den Rücken.

 

Je länger ich über die Panama-Invasion nachdachte, desto mehr festigte sich in mir die Überzeugung, daß diese Aktion eine Rückkehr der USA zu den alten Methoden imperialer Politik darstellte und daß die Bush-Administration entschlossen war, es noch besser zu machen als Reagan. Offensichtlich wollte sie der Welt demonstrieren, daß sie nicht zögern würde, ihre Ziele auch mit nackter Gewalt durchzusetzen. In Panama war es anscheinend nicht nur darum gegangen, das Vermächtnis von Torrijos auszulöschen und ein den USA freundlich gesinntes Marionettenregime einzusetzen, sondern durch dieses Vorgehen sollten auch Länder wie der Irak eingeschüchtert und fügsam gemacht werden.

 

David Harris, ein Kommentator beim New York Times Magazine und Autor zahlreicher Bücher, machte in diesem Zusammenhang eine interessante Beobachtung. In seinem Buch SHOOTING THE MOON schrieb er 2001: Von den Tausenden von Herrschern, Potentaten, starken Männern, Junta-Chefs und Warlords, mit denen die Amerikaner in den verschiedenen Teilen der Welt zu tun hatten, wurde keiner von ihnen so unerbittlich verfolgt wie General Manuel Antonio Noriega. Erst ein einziges Mal in ihrer 225-jährigen Geschichte sind die Vereinigten Staaten von Amerika in ein anderes Land einmarschiert und haben dessen Herrscher in die USA gebracht, um ihm dort den Prozeß zu machen wegen Verstößen gegen amerikanische Gesetze, die dieser Herrscher auf dem Territorium seines eigenen Staates begangen hatte.


Nach der Bombardierung fanden sich die USA plötzlich in einer schwierigen Situation wieder. Der Schuß drohte nach hinten loszugehen. Die Bush-Regierung stand zwar nicht mehr im Ruf eines »Weicheis«, aber jetzt war sie mit einem Legitimationsproblem konfrontiert und erschien als skurpellose Organisation, die bei einer terroristischen Aktion ertappt worden war. Es wurde bekannt, daß die US-Armee es den Medien, dem
Roten Kreuz und anderen außenstehenden Beobachtern drei Tage lang verwehrt hatte, die heftig bombardierten Gebiete aufzusuchen, während dort amerikanische Soldaten die Opfer verbrannten und begruben. In der Presse wurden zahlreiche Fragen gestellt, insbesondere inwieweit Beweismittel für unverhältnismäßiges Vorgehen oder Kriegsverbrechen vernichtet worden und wie viele Menschen ums Leben gekommen seien, weil ihnen medizinische Versorgung vorenthalten wurde, aber all diese Fragen wurden nie beantwortet.

 

Viele Einzelheiten dieser Invasion werden wir nie erfahren, und auch das wahre Ausmaß des Massakers wird wohl nie geklärt werden. Verteidigungsminister Cheney sprach von 500 bis 600 Opfern, doch unabhängige Menschenrechtsgruppen schätzten die Zahl der Getöteten auf 3000 bis 5000; darüber hinaus sollen rund 25.000 Menschen obdachlos geworden sein. Noriega wurde nach Miami geflogen und dort zu 40 Jahren Haft
verurteilt; zu diesem Zeitpunkt war er der einzige offizielle Kriegsgefangene in den USA.


Die Welt war empört über diesen Verstoß gegen das Völkerrecht und das brutale Vorgehen gegen eine schutzlose Bevölkerung durch die mächtigste Militärmaschinerie der Welt, aber in Amerika erfuhr man nur wenig über die internationalen Proteste und die Verbrechen, die das US-Militär begangen hatte. Die Medien berichteten kaum darüber. Dafür war eine Reihe von Faktoren verantwortlich: Zum einen übte das Weiße Haus mit Telefonanrufen Druck auf Verleger und Programmgestalter der Fernsehsender aus, zum anderen wagten Kongreßabgeordnete nicht zu widersprechen, weil sie fürchteten, dann selbst als »Weicheier« hingestellt zu werden, und nicht zuletzt glaubten auch viele Journalisten, daß man der Öffentlichkeit Helden präsentieren müsse und eine objektive
Berichterstattung nicht angemessen sei.

 

Eine Ausnahme bildete Peter Eisner, ein Redakteur bei Newsday und Reporter für Associated Press, der über die Panama-Invasion berichtete und das Thema viele Jahre lang verfolgte. In seinem 1997 veröffentlichten Buch THE MEMOIRS OF MANUEL NORIEGA, AMERICA’S PRISONER schrieb Eisner: Die Todesopfer, die Zerstörungen und die Ungerechtigkeiten, die mit dem Kampf gegen Noriega einhergingen – und auch die Lügen, die mit diesem Ereignis verbunden waren – stellten eine Bedrohung der grundlegenden demokratischen Prinzipien Amerikas dar … Den Soldaten wurde befohlen, in Panama Menschen zu töten, und man sagte ihnen, dies sei nötig, um dieses Land aus den Fängen eines grausamen und verbrecherischen Diktators zu befreien; und sobald sie damit begonnen hatten, folgte ihnen die Bevölkerung ihres eigenen Landes (der USA) blindlings. Nach ausführlichen Recherchen und Interviews mit Noriega in seiner Gefängniszelle erklärte Eisner: Ich glaube nicht, daß die Tatsachen den Schluß zulassen, daß Noriega in den ihm zur Last gelegten Punkten schuldig war. Ich glaube auch nicht, daß seine Handlungen als ausländischer Militärbefehlshaber oder als Oberhaupt eines souveränen Staates die Invasion Panamas rechtfertigten oder daß er eine Gefahr für die nationale Sicherheit der USA darstellte.


Abschließend stellte EEiissnneerr fest: Aufgrund meiner Analyse der politischen Situation und meiner Berichte über Panama vor, während und nach der Invasion bin ich zu der Auffassung gelangt, daß der US-Einmarsch in Panama ein eklatanter Willkürakt war. Die Invasion diente in erster Linie den Zielen einiger anmaßender amerikanischer Politiker und ihrer Verbündeten in Panama, wofür maßloses Blutvergießen in Kauf genommen wurde.


In Panama wurde die Familie Arias wieder eingesetzt, jene Oligarchie, die das Land seit der Abtrennung von Kolumbien bis zur Machtübernahme von Torrijos regiert hatte. Diese Clique hatte sich den USA gegenüber stets willfährig verhalten. Doch der neue Kanalvertrag entwickelte sich zu einem Streitpunkt. In Wirklichkeit aber kontrollierte jetzt wieder Washington die Wasserstraße, ungeachtet der Vereinbarungen in den offiziellen Dokumenten.

 

Als ich über diese Ereignisse und meine Erlebnisse während meiner Tätigkeit für MAIN nachdachte, mußte ich mir immer wieder dieselben Fragen stellen: Wie viele Entscheidungen – auch jene, die große historische Bedeutung besitzen und das Leben von Millionen Menschen betreffen – werden von Männern und Frauen getroffen, die von egoistischen Motiven geleitet werden, statt von dem Bestreben, das Richtige zu tun? Wie viele unserer führenden Regierungsvertreter werden von persönlicher Gier getrieben, statt von Loyalität zu ihrem Land? Wie viele Kriege werden angezettelt, weil ein Präsident nicht als »Weichei« dastehen möchte?


Trotz des Versprechens, das ich dem Chef von SWEC gegeben hatte, trieben mich Enttäuschung und ein Gefühl der Ohnmacht nach der Invasion in Panama dazu, die Arbeit an meinem Buch wiederaufzunehmen, wobei ich mich nun auf Torrijos konzentrierte. Seine Lebensgeschichte erschien mir als eine Möglichkeit, viel Unrecht anzuprangern, das in unserer Welt begangen wird, und als ein Weg, mich von Schuld zu befreien. Dieses Mal jedoch wahrte ich Stillschweigen über meine Arbeit und verzichtete darauf, bei Freunden und Kollegen Rat einzuholen.


Bei der Arbeit an dem Buch wurde mir klar, wie viel wir EHM eigentlich schon erreicht hatten, und zwar an unterschiedlichsten Orten der Welt. Ich versuchte mich auf einige besonders wichtige Länder zu konzentrieren, aber die Liste der Staaten, in denen ich gearbeitet hatte und denen es anschließend schlechter ging als vorher, war viel zu lang. Ich war auch entsetzt darüber, wie sehr ich mich hatte korrumpieren lassen. Ich hatte gründliche Gewissenserforschung betrieben, erkannte jetzt aber, daß mir bei meiner täglichen Arbeit der Blick für das große Ganze verloren gegangen war. In Indonesien beispielsweise hatte ich über jene Fragen nachgegrübelt, über die ich mit Howard Parker diskutierte, und über die Themen, die Rasys junge indonesische Freunde zur Sprache brachten. Bei meinem Aufenthalt in Panama war ich tief beeindruckt gewesen von den Dingen, die ich bei meinen Besuchen mit Fidel in den Slums, in der Kanalzone und in der Diskothek gesehen hatte. Im Iran hatten mich meine Gespräche mit Yamin und Doc stark aufgewühlt. Die Arbeit an diesem Buch ermöglichte es mir nun, mir einen umfassenderen Überblick zu verschaffen. Ich begriff, wie leicht es gewesen war, den Gesamtzusammenhang aus den Augen zu verlieren und dadurch die wahre Bedeutung meines Tuns zu verkennen.


So einfach und selbstverständlich das auch klingen mag, so heimtückisch sind diese Erfahrungen. Ich muß dabei an das Bild eines Soldaten denken. Am Anfang ist er noch naiv und unbedarft. Das Töten anderer Menschen erscheint ihm vielleicht moralisch fragwürdig, die meiste Zeit jedoch ist er damit beschäftigt, seine Angst zu bekämpfen und sich auf sein Überleben zu konzentrieren. Wenn er zum ersten Mal einen Feind tötet, ist er meist tief aufgewühlt. Vielleicht denkt er an die Familie des Toten und empfindet Bedauern. Aber wenn er im Lauf der Zeit an weiteren Gefechten teilnimmt und weitere Menschen tötet, wird er härter. Er entwickelt sich zu einem Berufssoldaten.


Auch ich war ein Berufssoldat geworden. Mir wurde jetzt klar, daß man anhand von Fakten besser begreifen kann, weshalb Verbrechen begangen oder Imperien aufgebaut werden. Ich konnte jetzt verstehen, weshalb so viele Menschen abscheuliche Taten begingen – warum beispielsweise gute iranische Familienväter für die brutale Geheimpolizei des Schahs arbeiten, warum gute Deutsche Hitlers Befehlen Folge leisten und warum gute amerikanische Männer und Frauen Panama-Stadt bombardieren konnten.


Als EHM hatte ich nie auch nur einen Cent direkt von der NSA oder einer anderen Regierungsbehörde erhalten; mein Gehalt wurde von MAIN bezahlt. Ich war ein gewöhnlicher Bürger, der von einem privaten Unternehmen beschäftigt wurde. Als ich mir dies bewußt gemacht hatte, verstand ich auch besser, daß Unternehmensmanager nun immer mehr in die Rolle von EHM hineinwuchsen. Eine völlig neue Art von Soldaten tauchte in der Welt auf: Leute, die weitgehend desensibilisiert waren für die Folgen ihres Tuns.


Ich schrieb:

Heute gehen Männer und Frauen nach Thailand, auf die Philippinen, nach Botswana, Bolivien und in viele andere Länder, wo sie Menschen zu finden hoffen, die dringend Arbeit brauchen. Sie kommen mit der erklärten Absicht, diese geschundenen Menschen noch schlimmer auszubeuten – Menschen, deren Kinder massiv unterernährt oder vom Hungertod bedroht sind, Menschen, die in Slumsiedlungen leben und die Hoffnung auf ein besseres Leben längst verloren haben, Menschen, die aufgehört haben, von einem neuen Tag zu träumen. Diese Männer und Frauen verlassen ihre noblen Büros in Manhattan, San Francisco oder Chicago, fliegen in teuren Jets über Kontinente und Meere, steigen in First-Class-Hotels ab und speisen in den besten Restaurants, die ein Land zu bieten hat. Dann machen sie sich auf die Suche nach jenen verzweifelten Menschen.


Auch heute noch gibt es Sklavenhandel. Die modernen Sklavenhändler haben es nicht mehr nötig, sich in die Weiten Afrikas zu begeben, um nach jenen vortrefflichen Exemplaren zu suchen, die bei den Auktionen in Charleston, Cartagena und Havanna dereinst Spitzenpreise erzielten. Sie heuern einfach verzweifelte Menschen an und bauen eine Fabrik, um die Jacken, Bluejeans, Autoteile, Computerbauteile und Tausende anderer Produkte herzustellen, die sie auf den Märkten ihrer Wahl verkaufen können. Vielleicht ziehen sie es auch vor, die Fabrik nicht selbst zu betreiben, sondern engagieren lieber einen örtlichen Geschäftsmann, der für sie die Drecksarbeit erledigt. Diese Männer und Frauen halten sich für rechtschaffene Menschen. Sie kehren mit Fotos von malerischen Orten oder alten Ruinen nach Hause zurück, um sie ihren Kindern zu zeigen. Sie besuchen Seminare, in denen sie sich gegenseitig auf die Schultern klopfen und Tipps darüber austauschen, wie man am besten mit den exzentrischen Sitten und Bräuchen in fernen Ländern umgeht. Ihre Vorgesetzten engagieren Anwälte, die ihnen versichern, daß alles, was sie tun, völlig legal sei. Ihnen stehen Psychotherapeuten und andere Fachleute für Humankapital zur Verfügung, die ihnen die Überzeugung vermitteln, daß sie diesen armen Menschen Wohltaten erweisenund ihnen helfen.


Die früheren Sklavenhändler glaubten, daß sie mit Lebewesen handelten, die keine vollwertigen Menschen seien, und daß sie ihnen die Chance böten, Christen zu werden. Sie wußten auch, daß Sklaven von entscheidender Bedeutung für das Überleben ihrer eigenen Gesellschaft waren und das Fundament ihrer wirtschaftlichen Ordnung bildeten. Moderne Sklavenhändler reden sich ein, daß es besser sei, wenn verarmte Menschen einen Dollar am Tag verdienen, statt gar nichts, und daß sie ihnen die Gelegenheit bieten, sich in die Weltwirtschaft einzugliedern. Auch sie wissen, daß diese Menschen unverzichtbar sind für ihre eigene Wirtschaftsordnung, daß sie die Grundlage bilden für die Aufrechterhaltung ihrer Lebensform. Stets denken sie daran, was ihre Handlungen, ihre Lebensweise und das ihnen zugrunde liegende Wirtschaftssystem für die Welt bedeuten – und wie dadurch letztlich auch die Zukunft ihrer eigenen Kinder beeinflußt werden wird.