Das magische Bewusstsein

Das magische Bewusstsein hat das Weltverständnis des Menschen über eine sehr lange Zeit geprägt, wahrscheinlich über Zehntausende von Jahren. Das Wissen über diesen gewaltigen Zeitraum eines vom rationalen Denken vollständig unterschiedenen Bewusstseins setzten Wissenschaftler in einem geduldigen Puzzlespiel aus Kunstwerken zusammen, die bei Ausgrabungen ans Licht kamen: winzige Figuren und Schmuckstücke, manchmal aber auch Gegenstände, die vermutlich rituelle Bedeutung hatten.

 

Ergänzt wurden diese Fundstücke durch Zeichnungen, die in den Höhlen Südfrankreichs, Spaniens und Sibiriens entdeckt wurden, ungewöhnlich schöne, mit sicherer Hand aufgetragene Bilder von Tieren und seltener von Menschen, die mit diesen Tieren in einem rituellen Zusammenhang zu stehen scheinen. Alle diese Funde deuten darauf hin, dass die Menschen der magischen Epoche zwischen sich selbst als Person und der Umwelt noch nicht sicher unterscheiden konnten, dass sie also in einer Haltung der Verbundenheit aller Dinge lebten.

 

Wenn zwischen einer Tierherde, die in der Savanne grast, und dem Abbild der gleichen Tierart auf den Wänden einer Höhle kein grundlegender Unterschied besteht, dann liegt der Gedanke nahe, das lebende Tier mit seinem gemalten Abbild beeinflussen zu können. So wurde die Jagdmagie geboren, der Versuch, in einem Ritual die Jagdbeute gefügig zu machen, sie gleichsam zu bannen und in einer vorweggenommenen Handlung zu erlegen. Die Wirklichkeit musste dann folgen – denn zwischen dem Tier und seinem Abbild bestand ja kein Unterschied.


Für das rationale Bewusstsein ist es schwer, sich diese Weltsicht in letzter Konsequenz vorzustellen. Denn im Gegensatz zu heute, wo wir mit dem Suchscheinwerfer der logischen Verknüpfung und Einordnung frühere Bewusstseinsstufen betrachten können, fehlte den Menschen jener Zeit der Vergleich: Ihr Denken war die ausschließliche Form, die Welt zu verstehen, denn das rational-logische Bewusstsein existierte ganz einfach noch nicht.

 

Innerhalb ihres Systems konnten die Menschen der Frühzeit natürlich durchaus logische Schlüsse ziehen: Wenn die Magie erfolgreich war, dann lag das daran, dass die Zauberer den richtigen Weg gefunden hatten. Wenn sie nicht funktionierte, dann fehlte den Zauberern die Kraft, oder andere Kräfte im Netz des Lebens waren stärker. Aber von einem übergeordneten Standpunkt aus, wie wir das heute tun können, vermochten die frühen Menschen die Welt nicht zu verstehen. Ihr Denken kreiste um die Familiengruppe, zu der sie gehörten, um den Stamm, in dem sie sich bewegten, und um das überschaubare Gebiet, in dem sie jagten und sammelten. All das bildete eine Einheit, in der Gegenstände, Pflanzen, Tiere und Menschen untrennbar miteinander verbunden waren. Natürlich erkannten die frühen Menschen, dass die Welt nicht eins war, sondern offenkundig aus Teilen bestand, aber diese Teile waren vollständig miteinander verwoben.

 

Wie ein Vogelschwarm, in dem jedes einzelne Tier zwar als Individuum erkennbar ist, im gemeinsamen Flug aber vollständig in der Ganzheit aufgeht, lebten die Clans der Vorzeit in einer Haltung, die das Leben als ein schwingendes Grundmuster wahrnahm, das um das Zentrum des Stammes kreiste. Er war der Mittelpunkt und der Sinn des Lebens. Manche Autoren sprechen davon, dass die Stämme eine Art Gruppenseele ausbildeten, dass sich also ihre einzelnen Mitglieder weniger als Individuen wahrnahmen, sondern ihre Identität aus dem Zusammenhang des Stammes schöpften. Dieses Weltbild ist allerdings schon differenzierter als die Wahrnehmung in der archaischen Epoche, auf die ich später zu sprechen komme. Denn hier unterscheiden die Nomaden der vorzeitlichen Steppen und Wälder schon zwischen der Gruppe und der Außenwelt, heben also einen Teil des Ganzen deutlich hervor. Weil es diesen Unterschied gibt, braucht es ja die mächtigen Zaubermittel der Magie: Es geht darum, die Welt gefügig zu machen, sich zu schützen und zu ernähren, auch darum, das Wetter und andere Naturgewalten zu beeinflussen, um das Überleben der Gruppe zu sichern.

 

In dieser Epoche entstanden grundlegende innere Bilder der Verbundenheit zwischen dem scheinbar Getrennten und zugleich die tiefe Überzeugung, in der Auseinandersetzung mit der Welt etwas bewirken zu können – nicht nur  unmittelbar mit den Händen, sondern mit der Kraft der Gedanken und einer gleichsam spiegelbildlichen Tat, dem Ritual.

 

Viele Statuetten und Zeichnungen dieser Epoche zeigen Menschen, die keinen Mund besitzen. Die Sprache war noch nicht das alles bestimmende Zaubermittel der Lebensgestaltung, nicht das machtvolle Werkzeug, die Welt zu begreifen und zu verändern, zu dem es die Menschen späterer Zeiten machten, vor allem in der rationalen Epoche. Es war der Geist, der alle Dinge bewirkte, aber seine Kraft schöpfte er aus der Handlung. Um die Natur beeinflussen zu können, genügte es nicht, diese Veränderung einfach zu wollen, mit welcher Stärke auch immer. Die Imagination allein war kein Akt der Macht über die Welt: Es kam darauf an, mit der sichtbaren
Wirklichkeit in einer rituellen Tat in Resonanz zu treten.

 

Diese Begriffe sind natürlich Metaphern des rationalen Denkens, aber sie machen vielleicht deutlich, was damals geschah: Über die äußere Handlung formte sich ein inneres Bild, das im gemeinsamen Ritual von der ganzen Gruppe verstärkt wurde. Indem die Menschen dieses Bild lebten, begann es gleichsam zu erwachen. Dabei maßen sie dem Unterschied zwischen der rituellen Tötung eines Jagdtieres und der tatsächlichen Jagd wohl keine wesentliche Bedeutung bei, nahmen ihn vielleicht nicht einmal wahr: Bevor der tödliche Schuss fiel oder das Tier im Kampf niedergerungen wurde, war es in ihrem Bewusstsein bereits tot.


Es sind also letztendlich Handlungen, die in der magischen Epoche für die Wirkung entscheidend sind. Und so stehen die inneren Bilder, die aus dieser Zeit überliefert wurden, offenbar mit den Kräften des Wollens, der Intention und des Fokus, also der klaren Absicht und genauen Konzentration auf einen Punkt, in Zusammenhang. Innere Bilder, die diesen Dreiklang ausdrücken, leben aber in einer Zeit- und Raumlosigkeit. Auch das ist ein wichtiger Aspekt des Bewusstseins in der magischen Epoche: Das Denken kreiste mehr um die Gegenwart, auch die Vorbereitung der Jagd im Ritual war nicht als Handeln für die Zukunft zu verstehen, sondern ist Ausdruck gegenwärtigen Seins. So gab es wohl keine nennenswerte überlieferte Geschichte, nur eine Wiederbelebung von Augenblicken, die dadurch von neuem Gegenwart wurde. Als die Stämme begannen, sich auf einen gemeinsamen Urvater (oder eine gemeinsame Urmutter) zu beziehen, machten sie schon den ersten Schritt ins mythische Denken, denn Geschichten von Herkunft oder Schöpfung sind Ausdruck des Mythos.

 

Die magische Handlung nahm stets eine bestimmte, durch Wiederholungen verstärkte Form an: Rituale entstanden, deren Genauigkeit wahrscheinlich ein Gradmesser ihrer Wirksamkeit waren. In den Höhlenzeichnungen tauchen ab und zu auch Darstellungen von Menschen auf, die offenkundig die Rituale ausführten. Manche scheinen Tiermasken zu tragen oder sich gerade in ein Tier zu verwandeln, äußere Bilder innerer Zustände also. Vielleicht stellen diese Zeichnungen auch eine Art Gebrauchsanleitung dar, zeigen also den Betrachtern, wie das Ritual auszuführen ist, damit es Erfolg hat. Es ist weiter zu vermuten, dass magische Rituale das Leben der frühen Stämme ordneten und den Ablauf der Jahreszeiten gliederten (was nicht der These widerspricht, das magische Bewusstsein lebe in der Zeitlosigkeit: Auch die Veränderung der Jahreszyklen kann aus einem Bewusstsein ständiger Gegenwart erfahren werden).

 

So entstanden über Jahrhunderte und Jahrtausende innere Bilder, die den Wunsch oder Willen, etwas zu bewirken, mit spiegelbildlichen Handlungen verband, Bewegungen der Seele also mit Bewegungen des Körpers. Und diese Verbindung fördert ja nachweislich das Entstehen neuer Verknüpfungen im Gehirn und regt das Wachstum der Nervenzellen an, wie viele Beispiele in diesem Buch gezeigt haben.

 

Die uralten Bilder unserer Vorfahren haben sich ohne Zweifel im Bewusstsein der Menschen bis in unsere Zeit eingeprägt: Sie überdauerten in den grundlegenden Mustern unseres Gehirns, die jeder Mensch von Geburt an mitbringt, vor allem aber in den Regionen, die von Anfang an durch Erzählungen und frühe Erfahrungen neuroplastisch beeinflusst werden.


Magische Vorstellungen werden von Generation zu Generation überliefert und in immer neuen Geschichten erzählt. Dass die Saga des Zauberlehrlings Harry Potter die Menschen weltweit bewegte (keineswegs nur die Kinder), zeigt vielleicht am deutlichsten, dass tief im Bewusstsein auch unserer Zeit, gleichsam unter dem Firnis des rationalen Denkens, also einer eher dünnen Schicht der Vernunft, die Vergangenheit noch existiert.

 

Moderne Märchen bringen dieses alte Wissen für einen kurzen Moment zum Klingen, bis sich das rationale Bewusstsein zurückmeldet und an die Tatsachen erinnert: Das dort ist Phantasie, keine Realität. In der Wirklichkeit gibt es keine Zauberei. Aber sosehr dieser Satz für die Beeinflussung der äußeren Wirklichkeit gelten mag, so falsch könnte er sein, wenn es um die Beeinflussung des inneren Gleichgewichts und damit des Netzwerks von Körper und Seele geht.

 

Ein weiterer Schlüssel zum Geheimnis der Heilung könnte deshalb darin liegen, die magischen Bilder ernster zu nehmen, als es das alltägliche Bewusstsein zulassen möchte, und mit ihnen das Wissen über die Macht von Ritualen, die mit den verborgenen Mustern der Seele in Resonanz treten. Dieses Wissen wieder aufzuspüren ist weniger schwer, als es auf den ersten Blick scheint: Denn das magische Bewusstsein ist keineswegs in grauer Vorzeit mit all seinen Erfahrungen untergegangen, sondern hat bis heute überall auf der Welt überlebt, ist noch immer in den Stammeskulturen lebendig und leuchtet in Märchen, Sagen und Geschichten auf, die sich die Menschen in den abgelegenen Regionen der Welt erzählen. Auch in unserem Kulturkreis wurde es erst seit der Zeit der Aufklärung so weit zurückgedrängt, dass es im 20. Jahrhundert vollständig verschwunden schien. Bei genauer Betrachtung aber hat das alte Wissen genügend Spuren hinterlassen, um es rekonstruieren zu können.