Schmidt: Organon der Heilkunst

Vorwort zur Edition

Vor genau 150 Jahren, im Februar 1842, hat der Begründer der Homöopathie, Samuel Hahnemann (1755-1843), das Manuskript für die sechsteAuflage seines „Organons der Heilkunst“ fertiggestellt. Als Vorlage zu der endgültigen Fassung dieses bedeutendsten seiner Werke benutze er ein durchschossenes Exemplar der 1833 erschienenen fünften Auflage, in das er seine Änderungen, Streichungen und Ergänzungen handschriftlich eintrug.


Nachdem dieses Manuskript zunächst 79 Jahre lang unveröffentlicht geblieben war, gaben Richard Haehl 1921 und William Boericke 1922 eine deutsche bzw. englische Ausgabe dieser sechsten Auflage des Organons heraus. Während Boericke zur Anfertigung seiner englischen Übersetzung das Originalmanuskript tatsächlich vorlag, mußte sich Haehl bei seiner deutschen Edition dagegen mit einer Abschrift desselben begnügen. Sämtliche seitdem erschienenen deutschen Ausgaben der sechsten Auflage beruhen ihrerseits wiederum auf der von Haehl.* – Eine textkritische Edition von Hahnemanns eigenhändig verfaßtem Manuskript ist bislang nicht erstellt worden, obwohl es sich bei diesem für die Homöopathie und ihre Geschichte grundlegenden Werk um ein medizinhistorisches Dokument ersten Ranges handelt.


Die Authentizität der erhaltenen Handschrift ist sowohl aufgrund autographischer und inhaltlicher Kriterien als auch durch Hahnemanns eigene schriftliche Äußerungen zu diesem Werk gesichert. So schrieb dieser im Juni 1841 an seinen Freund Clemens von Bönninghausen: „Ich bereite die sechste Ausgabe des Organons, wozu ich nur etliche Stunden, Donnerstags und Sonntags anwenden kann“ …

 

Im Februar 1842 bot Hahnemann das fertige Manuskript seinem Verleger, Herrn Schaub in Düsseldorf, an: „So eben habe ich, nach 18 monatlicher Arbeit die sechste Edition meines Organons vollendet, welche nun die möglichst vollkommne geworden ist. Sie wird nach dem bisherigen Drucke des Organons 20 bis 22 Bogen betragen, jezt aber nach liberalerem Drucke, wie ich wünsche, wenigstens 24. Das weißeste Papier und die neuesten Lettern wünsche ich zu ihrer Ausstattung, da sie wahrscheinlich meine lezte seyn wird. Ist es Ihnen gefallig, eine solche schöne / Herausgabe zu übernehmen, so bestimmen Sie selbst das Honorar entweder überhaupt oder nach Bogenzahl – wie Sie wollen – nur daß wir Ehre damit einlegen. Da Hr Arnold ein Bild von mir jeder Ausgabe vorsetzen ließ, was wenig oder keine Aehnlichkeit von mir hatte, so werde ich dafür sorgen, daß Sie wenigstens eine genaue Zeichnung von meinem Gesichte erhalten sollen, die Sie in Düsseldorf gravieren lassen, damit die Nachwelt sich doch einigen Begriff von meinen Gesichtszügen machen könne. Ich bitte mir nur 10 Freiexemplare aus. Ist Ihnen dies gefällig, so schreiben Sie mir umgehender Post“


Im August 1842 rechnete Hahnemann, wie ein Brief an einen Kollegen bezeugt, mit dem baldigen Erscheinen seines Werkes, indem er von „meiner nächsten Ausgabe (der sechsten) meines Organons“ sprach, „welche nächstens erscheinen wird“. Im September 1842 entschuldigte er in einem Brief an von Bönninghausen die Verzögerung der Veröffentlichung, … „Mein Organon in der 6ten Ausgabe hat noch nicht erscheinen können weil die französische Bearbeitung anfangs nicht in guten Händen war und der deutsche Text kann (wegen Ursachen) nicht vorher erscheinen“ … und im März 1843 hatte sich laut eines weiteren Briefs an denselben seine Hoffnung auf ein baldiges Erscheinen weitgehend zerschlagen. Ich … „mach Sie auf eine, so Gott will, bald, wenigstens französisch erscheinenden sechsten Ausgabe meines Organons aufmerksam, die Sie in jeder Hinsicht zufrieden stellen wird. Deutsch kann sie wenigstens bei Arnold ihrem alten Verleger schwerlich erscheinen“ …  Soweit Hahnemanns eigene schriftliche Zeugnisse zu der von ihm geplanten Herausgabe einer sechsten Auflage des Organons der Heilkunst.


Nach Hahnemanns Tod im Juli 1843 ging das Manuskript zunächst in den Besitz seiner Witwe Melanie Hahnemann d’Hervilly über, die zeit ihres Lebens allerdings keines der mehrfachen Angebote für eine Publikation desselben anzunehmen bereit war. Laut eines Briefes an Constantin Hering ließ sie 1865 jedoch eine Abschrift des Organon-Manuskripts anfertigen.“ Als im Rahmen des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 Frau Hahnemann, ihre Adoptivtochter Sophie und deren Gemahl Carl von Bönninghausen Paris verließen und auf dessen elterliches Gut in Darup (Westfalen) übersiedelten, wurde auch der gesamte Nachlaß Hahnemanns (einschließlich des Organons) dorthin gebracht. So kam nach Frau Hahnemanns Tod 1878 die Familie von Bönninghausen in den Besitz des sogenannten „Schatzes von Darup“. Zwar ließ auch Sophie von Bönninghausen dort 1879 eine Abschrift der sechsten Auflage des Organons fertigstellen, doch nach wie vor verliefen alle zum Zwecke einer Veröffentlichung desselben geführten Verhandlungen erfolglos.


Erst 1920, unter den veränderten politischen und ökonomischen Bedingungen im Anschluß an den Ersten Weltkrieg, gelang es Richard Haehl, mit finanzieller Unterstützung von William Boericke und James W. Ward aus San Francisco, den Nachlaß Hahnemanns (einschließlich des Organon-Manuskripts und einer Abschrift desselben) von der Familie von Bönninghausen zu erwerben.

 

Nachdem Haehl das Organon Ende April 1920 in Darup abgeholt hatte, sandte er dieses offenbar umgehend nach New York, wo es bereits Mitte Mai 1920 von Boericke persönlich abgeholt wurde. Dieser präsentierte es im Juni 1920 auf den Jahrestagungen sowohl des American Institute of Homoeopathy in Cleveland als auch der International Hahnemannian Association, deren Mitglieder das Buch auch anfassen durften.

 

Danach brachte Boericke das Manuskript nach San Francisco, wo er seine 1922 erschienene englische Übersetzung erstellte. Ursprüngliche Erwägungen, das Original später dem American Institute of Homeopathy bzw. der Smithsonian Institution für ihre Homöopathie Ausstellung in Washington zu übergeben, wurden nicht verwirklicht. Nach Boerickes Tod 1929 hatte zunächst Ward das Organon in seiner Praxis aufbewahrt, bis dieser es 1933 der Homoeopathic Foundation of California (deren Büroräume sich im gleichen Gebäude befanden) überreichte.

 

Die gesamte, seit dem Tod Wards 1939 nach demselben benannte Bibliothek der Foundation22 wurde im Juli 1940 in den Neubau des wiedereröffnete Hahnemann Hospitals verlagert. Das Organon selbst deponierte der damalige Chefarzt, Howard M. Engte, erst in den Safe des Krankenhauses und, nachdem selbst hieraus ein wertvolles Buch verschwunden war, in den Safe seiner eigenen Praxis. Möglicherweise nahm er es im Juni 1941 sogar mit auf die Jahrestagung des American Institute of Homeopathy in Virginia.

Aus Platzgründen wurde das Manuskript schließlich in den Tresor des Rechtsanwalts und Direktors der Foundation John L. McNab ausgelagert, bis es nach dessen Tod im März 1950 wieder in Engles Safe zurückkehrte. Als Howard Engle im Oktober 1952 starb, mietete nun dessen Schwägerin und damalige Sekretärin der Foundation, Elsa K. Engle, auf eigene Kosten einen Safe zur Aufbewahrung des Organons, erst bei der Bank of America und ab Mai 1969 bei der Crocker Citizens National Bank.

 

So konnte Pierre Schmidt, der im Juni 1959, zusammen mit Jost Künzli von Fimmelsberg, zur Jahrestagung der International Hahnemann Association nach San Francisco kam, das Manuskript nur deshalb nicht einsehen, weil Frau Engle gerade anderweitige Verpflichtungen hatte. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz sandte sie ihm allerdings 1960 und 1962 eigens für ihn angefertigte Dias der gewünschten Passagen.


Als einzigem Homöopathen in all den Jahren gewährte Frau Engle lediglich ihrem Hausarzt Frederic W. Schmid 1969 einmal die Möglichkeit, das Organon in ihrer Wohnung eigenhändig zu begutachten. 1971 wurde anläßlich einer Anfrage von Heinz Henne ein Mikrofilm des gesamten Manuskripts erstellt und eine Kopie davon nach Stuttgart gesandt. Danach übergab Otto E. Guttentag, der ehemalige dortige Professor für Homöopathie, im Einverständnis mit Frau Engle das kostbare Werk der University of California, San Francisco, wohin 1961 auch die gesamte Bibliothek der Homeopathic Foundation of California gelangt war.

 

So konnte Guttentag im Rahmen einer dort organisierten Ausstellung im Juni 1974 Teilnehmern des International Homoeopathic Congress‘ unter anderem auch das Original von Hahnemanns Organon zeigen. Ob in der Zwischenzeit jemals irgendjemand bemerkt hat, daß dieses dort verwahrte Manuskript seit nunmehr über zwei Jahrzehnten nicht mehr vollständig war, ist nicht bekannt. Bei seinen Vorarbeiten an einer Mikrofilm Kopie entdeckte der Bearbeiter dieser textkritischen Ausgabe jedenfalls, daß bereits bei der Mikroverfilmung des Buches offensichtlich ein ganzes Blatt mit der Handschrift Hahnemanns gefehlt haben mußte.

 

Über eine in Stuttgart aufgefundene Fotokopie eben dieser Seite und den maschinengeschriebenen Vermerk darauf führte die Spur nach San Francisco, wo der Herausgeber im Nachlaß des 1984 verstorbenen Frederic Schmid tatsächlich das Original der vermißten Organon-Seite fand. So konnte im Januar 1992, im Einvernehmen mit der Witwe Irmgard Schmid-Maybach, dieses handschriftliche Ausführungen Hahnemanns enthaltende Blatt wieder in das Organon-Manuskript eingefügt werden.


Im Gegensatz zu der von Haehl für seine Organon-Ausgabe benutzten Abschrift, die heute als verschollen gilt, befindet sich das Original inzwischen also in sicherer Verwahrung. Gegen Vorlage eines Ausweises ist es Benutzern der Bibliothek grundsätzlich möglich, die Handschrift unter Aufsicht in den Special Collections einzusehen.

 

Angesichts des Zustandes der darin enthaltenen zahlreichen handbeschriebenen, oft mehrfach aneinandergeklebten Blätter, deren Länge in entfaltetem Zustand die Höhe des Buches teilweise um ein Vierfaches übersteigt, sollte allerdings, wann immer möglich, zunächst der Mikrofilm benutzt werden. Für die Bearbeitung der vorliegenden textkritischen Edition des Organons hat sich letzterer allerdings als unzureichend erwiesen.

 

Zum einen wurden bei der Verfilmung nicht in allen Fällen, in denen handschriftliche Eintragungen Hahnemanns durch darüber eingeklebte Blätter verdeckt werden, diese auch hochgeklappt und der nur auf diese Weise sichtbare Text eigens abgebildet. Zum anderen sind Streichungen von Worten oder Satzteilen auf der Vorderseite eines Textblattes oft ebenso ausgeprägt sichtbar wie auf dessen Rückseite und daher allein im Original der tatsächlich beschriebenen Seite zuzuordnen.

 

Darüber hinaus sind Ausradierungen von Satzzeichen, Klammern oder Buchstaben als solche auf einem Film ebensowenig zu erkennen wie verschiedene Farbstifte, Bleistiftstärken oder Tintenfarben zu unterscheiden. An einzelnen Stellen ist die fotographische Wiedergabe durch die Überlagerung von vergilbtem Klebefilm oder sonstigen Klebstoffresten so eingeschränkt, daß hier praktisch keine Entzifferung möglich ist. Schließlich wurden auch mehrfach zusammengelegte Papierstreifen nicht immer weit genug entfaltet und geglättet, was manchmal – aufgrund eines bei der Verfilmung zurückgebliebenen Knicks – die Unleserlichkeit einer oder mehrerer Zeilen nach sich zog.

 

Die genannten Unzulänglichkeiten des Films verdeutlichen hinreichend, warum eine seriöse textkritische Bearbeitung dieser Handschrift allein unter konsequenter Benutzung des Originals, also nur im Rahmen eines längeren Studienaufenthalts vor Ort verwirklicht werden konnte. Dementsprechend sei an dieser Stelle der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die dem Herausgeber im Rahmen seiner Forschungen zur Geschichte der Homöopathie in San Francisco derzeit einen neunmonatigen Aufenthalt ebenda ermöglicht, somit also in doppelter Hinsicht gedankt. Nur so konnte, neben der Arbeit an der hiesigen Feldstudie, auch Hahnemanns Organon-Manuskript allmählich bis ins kleinste Detail untersucht und das Ergebnis nunmehr der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.


Der vorliegenden Edition liegt ausschließlich und durchgängig die von Hahnemann für die sechste Auflage vorgesehene Fassung des „Organons der Heilkunst“ zugrunde. Über die bloße Wiedergabe dieser endgültigen Version hinaus wurden hier erstmals aber auch all die Änderungen, welche der Begründer der Homöopathie gegenüber der vorhergehenden Auflage vornahm, als solche abgegrenzt und dargestellt.

 

Sowohl für die historische als auch die medizinische Beurteilung von Hahnemanns letzter „Vervollkommnung“ seiner Lehre ist es ja gleichermaßen bedeutsam, differenzieren zu können zwischen denjenigen Abschnitten und Formulierungen, die er nachweislich änderte oder verwarf und denen, die er beibehielt. In textkritischer Hinsicht erschien die Kennzeichnung derjenigen handschriftlichen Abschnitte, die sich auf eingeklebten Blättern befinden, angebracht, da diese bzw. deren Anordnung zweifellos einen gewissen Unsicherheitsfaktor darstellen, welcher in der inhaltlichen Einschätzung der entsprechenden Passagen berücksichtigt zu werden verdient.

 

Aus demselben Grund mußten auch sämtliche der von Hahnemanns Schrift abweichenden Handschriften als solche kenntlich gemacht und (nach Möglichkeit) unterschieden werden. Gleiches galt erst recht für die Stellen, an denen das Originalblatt mit Hahnemanns Schrift offensichtlich abgerissen und statt dessen ausschließlich Text aus fremder Feder eingefügt worden war. Auch bei den teilweise bis ganz herausgeschnittenen Durchschußblättern, die hier ebenfalls als solche aufgelistet wurden, ist es letztlich nicht sicher, ob diese von Hahnemann selbst oder von späterer Hand entfernt worden sind.


Bezüglich der Editionsrichtlinien dieser Ausgabe wurde versucht, nach Möglichkeit die für die geplante sukzessive Herausgabe der Krankenjournale Hahnemanns bereits festgelegten Sonderzeichen zu verwenden. Während diese dort allerdings in voller Größe gedruckt werden, um die Form des Originaldokuments weitgehend beizubehalten, steht hier dagegen das Ziel einer flüssigen Lesbarkeit des Textes im Vordergrund, was eine dezentere Gestaltung derselben und damit ihre Verkleinerung gebot.

 

Einige der in den Krankenjournalen benutzten Zeichen mußten allerdings geringfügig modifiziert werden. Um die Abweichungen der sechsten gegenüber der fünften Auflage graphisch darzustellen, wurden sämtliche handschriftlichen Einfügungen und Ergänzungen kursiv gesetzt sowie alle Tilgungen durch „ r ^ “ an ihrem ursprünglichen Ort vermerkt und in einer entsprechenden Anmerkung aufgeführt.

 

Demgegenüber wurde kursiver Druck im Original nun in Form von KAPITÄLCHEN44 und dort gesperrter Druck hier fett wiedergegeben. Unterstreichungen durch Hahnemann wurden im Falle von gedrucktem Text auch hier unterstrichen, innerhalb einer handschriftlichen Ausführung jedoch kursiv und fett gesetzt.

 

Nachträgliche Einfügungen Hahnemanns wurden, je nachdem, ob sie über oder unter die Zeile geschrieben sind, mit „…/“ bzw. „/ …“ wiedergegeben. Zur Kennzeichnung nicht oder nicht sicher lesbarer Buchstaben, Worte oder Satzteile wurde hier das Sonderzeichen „ “ verwendet.

 

Griechische Schrift konnte zwar grundsächlich als solche, aus drucktechnischen Gründen allerdings nur ohne Akzente wiedergegeben werden. Bemerkungen des Herausgebers schließlich stehen zwischen doppelten Klammern. Obwohl die zahlreichen, oft überlangen Fußnoten Hahnemanns sich in der zweiten bis fünften Auflage des Organons stets unterhalb des Haupttextes am Ende der jeweiligen Seite befinden, wurden sie hier dennoch so angeordnet wie in der ersten Auflage.

 

Tatsächlich scheint die Positionierung von Anmerkungen als Ganze unmittelbar zwischen die entsprechenden Zeilen des Haupttextes die Übersicht über die Gesamtstruktur des Werkes um einiges zu erhöhen. Auf eine Randpaginierung bzw. Zeilenzählung wurde zum einen deshalb verzichtet, weil die dem Manuskript zugrundeliegende fünfte Auflage des Organons ja allgemein zugänglich ist, und zum anderen, weil eine minutiöse Erfassung etwa auch des Seiten- und Zeilenumbruchs der handschriftlichen Ausführungen Hahnemanns mit dem Primat der praktischen Benutzbarkeit dieser Ausgabe nicht vereinbar wäre.

 

Dagegen wurde allerdings die Original-Orthographie und -Interpunktion des Manuskripts konsequent beibehalten, einschließlich der zweifachen Schreibweise der Fußnotenziffer „‘)“ bzw. „!)“ – je nachdem, ob dieselbe im Haupttext oder in der Anmerkung steht. Auf redundante Wiederholungen einzelner Zeichen wurde hier jedoch verzichtet.

 

Als eine der schwierigsten Aufgaben dieser Edition erwies sich die Differenzierung und Identifizierung sämtlicher im Manuskript vorfmdbarer Autographen. Zwar konnten neben Hahnemanns charakteristischer Sütterlinschrift mindestens sieben verschiedene Handschriften unterschieden werden, von denen fünf den eigentlichen Text betreffen, doch wäre bei einigen derselben auch eine noch weitergehende Unterteilung denkbar.

 

Melanie Hahnemanns Handschrift ließ sich jedenfalls an keiner Stelle sicher nachweisen. Grundsätzlich beruht die hier vorgenommene Abgrenzung der Autographen voneinander vor allem auf einem systematischen Vergleich des jeweiligen Schriftbildes als Ganzen, der spezifischen Schreibweise einzelner Buchstaben, der verwendeten Federstärken und Tintenfarben sowie auf der Hinzuziehung von Schriftproben in Frage kommender Personen. Zum Teil verriet auch eine ungewöhnliche Orthographie die fremde Hand. Für die Einschätzung der Zuverlässigkeit jener nicht von Hahnemann geschriebenen Textstellen (bezogen auf dessen vermeintlich autorisierte Version) empfiehlt sich eine abgestufte Betrachtung der einzelnen Sachverhalte: So gibt es zwar einzelne Hinweise, daß die Änderungen, die durch eine bestimmte „fremde Handschrift“ vorgenommen wurden, bereits zur Zeit Hahnemanns vorlagen, doch muß hier letztlich offenbleiben, wer diese geschrieben bzw. diktiert hat. Andererseits zeigt aber die selektive Musterung dieser Handschrift, daß sie fast ausschließlich stilistische Verbesserungen des Textes betrifft und praktisch nichts am Inhalt des Werkes verändert. Dasselbe gilt – mit Einschränkung – auch für zwei „weitere fremde Handschriften“.


Die in „Kanzleischrift“ verfaßten Ausführungen wiederum enthalten nicht selten zusätzliche Einfügungen oder Änderungen in Hahnemanns eigener Handschrift. Offensichtlich handelt es sich hier also um Diktate, die von ihm eigenhändig revidiert wurden und deshalb – zumindest in diesen Fällen – als authentisch angesehen werden können.60 Abschnitte in dieser Schrift, die keine Ergänzungen Hahnemanns enthalten, sind zum größten Teil bloße Neufassungen von auch in Hahnemanns Schrift vorliegendem Text61 oder aber rein stilistische Korrekturen. Die einzige inhaltlich relevante Ausnahme hiervon bildet die in § 284, Anm. * zu findende Aussage (in Kanzleischrift), daß „Psora“ auch erblich sein könne – was allerdings im Einklang mit einer anderen, von Hahnemann eigenhändig verfaßten Bemerkung steht.


Haehls handschriftliche Eintragungen schließlich sind zwar als solche eindeutig zu identifizieren, doch erweisen sie sich, was die Beurteilung ihrer Treue zum Original angeht, am problematischsten. Zum einen hinterließ der frühere Herausgeber der sechsten Auflage des Organons neben zusätzlichen Bemerkungen zur Verdeutlichung schwer lesbarer Zeichen und Silben auch solche, die etwa die Zuordnung von Anmerkungen zu bestimmten Textstellen oder die Reihenfolge der von Hahnemann beschriebenen Seiten eines eingeklebten Blattes festlegen.

 

Die Richtigkeit dieser editorischen Entscheidungen ist zwar anzunehmen, entzieht sich jedoch einer nachträglichen Verifikation. Darüber hinaus hat Haehl nicht nur von ihm vollbeschriebene Blätter („zur besseren Verständigung“ oder „weil schwer leserlich“) ergänzend in das Manuskript eingeklebt, sondern an mehreren Stellen auch offenbar bestehende größere Lücken des Originals mit eigenen handschriftlichen Eintragungen ausgefüllt. So liegen etwa die Anm. * des § 284 sowie die Anm. 7 und 6/x des § 270 im Original-Manuskript größtenteils bzw. vollständig überhaupt nur in Haehls Schrift vor.

 

Wollte man hier die Echtheit der nicht mehr nachprüfbaren, weil verschollenen Quellen oder gar Haehls Seriosität anzweifeln, so hätte dies in der Tat auch inhaltliche Konsequenzen. Nur in dem ausschließlich von Haehl erhaltenen Teil von § 270, Anm. 7 wird etwa als materieller Verdünnungsgrad einer dritten Potenz die Zahl 1,25 x 10~20 und bloß in der Anm. 6/x desselben Paragraphen die Bedingung genannt, unter der ein Arzneimittel speziell auf ein Lokalübel passend verordnet werden sollte. Darüber hinaus ist der allein durch Haehl überlieferte Teil von § 284, Anm. * die einzige Stelle in Hahnemanns Gesamtwerk, an der eine prophylaktische „antipsorische Cur“ bei Schwangeren empfohlen und seine jüngste Lehre zur Behandlung chronischer Krankheiten als „Psora-Theorie“ bezeichnet wird.

 

Selbst wenn diese späteren Modifikationen des Manuskripts, die im übrigen auch Boehckes Organon-Übersetzung zugrunde liegen, exakt den Wortlaut der von Haehl verwendeten Abschrift widerspiegeln sollten, bleibt letztlich die Frage nach deren Herkunft und Zuverlässigkeit unbeantwortet.


Die Angabe Haehls, beim sorgfältigen Vergleich von Original und Abschrift deren wortgetreue Übereinstimmung festgestellt zu haben, relativiert sich zum einen angesichts der äußerst kurzen Zeit, die diesem das Manuskript überhaupt zur Verfügung stand. Zum anderen gab es bei den hier interessierenden Lücken des Originals naturgemäß ohnehin nichts zu vergleichen.

 

Spekulationen schließlich, ob das von Haehl hier angeführte „Diktat Hahnemanns“ etwa eine zusätzliche, von der genannten Abschrift verschiedene Quelle war, bringen, solange keines dieser Dokumente auffindbar ist, keine weitere Erkenntnis. Abgesehen von den genannten, allein durch Haehls Eintragungen überlieferten Abschnitten beruht die hier vorliegende Edition durchweg auf dem ansonsten vollständig erhaltenen Original-Manuskript.

 

Aus diesem Grunde erschien es nicht nur unnötig, sondern im gebotenen Rahmen auch praktisch undurchführbar, sämtliche Abweichungen der (nach der Abschrift verfaßten) HaehIschen Ausgabe hiervon aufzusuchen und anzumerken. Stichproben haben allerdings gezeigt, daß sich jene seit nunmehr Jahren benutzte Ausgabe nicht nur durch eine veränderte Orthographie, Interpunktion und Absatzgliederung, sondern teilweise auch durch die Vertauschung, Einfügung und Auslassung einzelner Silben, Worte und Satzteile vom Original unterscheidet. Demgegenüber enthält – neben der authentischen Widergabe von Hahnemanns Manuskript – die jetzige Edition aufgrund der Berücksichtigung selbst vorläufiger, nicht gedruckter Einträge auch über den endgültigen Text hinausgehende Informationen zur Genesis des Werkes.


Formal ist die Ausgabe in drei Teile gegliedert, von denen der mittleredas eigentliche „Organon der Heilkunst“ (samt Vorrede, Inhaltsverzeichnis und Einleitung) in seiner letzten Fassung enthält. Der vorausgehende Teil bietet neben einem knappen Einblick in die Geschichte des Buches sowie einer Darstellung der Editionsprinzipien und verwendeten Sonderzeichen auch die Abbildung sämtlicher Manuskriptblätter der §§ 270 und 284 einschließlich ihrer Anmerkungen und Hahnemanns eingangs zitierten Brief an Schaub.

 

Der abschließende Teil besteht zum einen aus textkritischen Anmerkungen, in denen sich unter anderem all die Streichungen Hahnemanns von früheren Textabschnitten vollständig abgedruckt finden. Zum anderen gibt ein tabellarischer Anhang schließlich eine Übersicht sowohl über Ausmaß und Verteilung der fremden Handschriften innerhalb des Werkes als auch – in redaktionskritischer Absicht – über die zahlreichen an- und ineinandergeklebten handbeschriebenen Blätter, Einträge des früheren Herausgebers sowie herausgeschnittene Durchschußblätter.


Die Bedeutung der sechsten Auflage des Organons für Praxis und Geschichte der Homöopathie ergibt sich aus den (nun erstmals umfassend verzeichneten) Änderungen gegenüber der fünften. Hahnemann äußert hier neue Gedanken etwa zum Begriff des Dynamischen (§ 11, 269), der Lebenskraft (§ 22, 29, 34, 45) und von Krankheit als solcher (§ 148), zum Status verschiedener Kurarten (§ 22, 52-56) einschließlich der Aderlaßtherapie Broussais (§ 60, 74), zu Wesen und Therapie der chronischen Miasmen (§ 78, 204, 282, 284), zum Prinzip des Selbstdispensierens (§ 265), der Verordnung von Einzelmitteln (§ 273) und der Verwendung geringster Gaben (§ 276), aber auch zur therapeutischen Berechtigung des Riechens an Arzneien (§ 284), der Anwendung des Magnets (§ 287), des Mesmerismus (§ 288), der Elektrizität und des Galvanismus (§ 286) sowie von Einreibungen (§ 285), Massagen (§ 290) und Bädern (§ 291).


Die wichtigste Neuerung der letzten Auflage besteht aber zweifellos in dem hier erstmals beschriebenen grundsätzlich veränderten Potenzierungsverfahren von Arzneien (§ 270-271) und der damit zusammenhängenden gänzlich anderen Dosierung und Applikation derselben (§ 161, 238, 246-248, 272, 280-282). Indem jetzt im Prinzip jeder 1:100-Dilutionsschritt durch einen zusätzlichen 1:500-Zerteilungsschritt ergänzt wurde, sollten die so hergestellten Potenzen milder und rascher wirken und – im Gegensatz zu den früher verwendeten Zubereitungen – täglich, selbst über Monate, eingenommen werden können. – Da diese entscheidende Modifikation Hahnemanns allerdings erst nach 1921 der Öffentlichkeit bekannt und auch dann zunächst kaum beachtet wurde, kam während des weitaus größten Zeitraums der Homöopathiegeschichte weltweit stets nur das ältere, bis 1833 von Hahnemann zwar empfohlene, 1842 von ihm aber revidierte Verfahren zur Anwendung.


Um so deutlicher möge daher die vorliegende Edition – in einer dem Anspruch des Werkes angemessenen wissenschaftlichen Form – sowohl Medizinern als auch Historikern den letzten Willen Hahnemanns bezüglich der von ihm vorbereiteten sechsten Auflage seines „Organons der Heilkunst“ darlegen. Sollte die nunmehr jedem Interessierten zugängliche Ausgabe dazu beitragen, im Zuge systematischer und seriöser Forschung immer mehr Klarheit über das durch Unkenntnis und Vorurteile noch reichlich verdunkelte Gebiet der Homöopathie und ihrer Geschichte zu verbreiten, so hätten Bearbeitung und Herausgabe dieser einzigartigen Handschrift ihren Zweck bei weitem erfüllt.

 

San Francisco, im Februar 1992 Dr. med. Dr. phil. Josef M. Schmidt