Kabat-Zinn: 21-Sie sind nicht der Schmerz


 

Achtsamkeit in der Praxis: Das
Annehmen der ganzen Katastrophe

Wenn Sie sich das nächste Mal mit dem Hammer auf den Daumen hauen oder sich das Schienbein an der Autotür stoßen, können Sie die Gelegenheit zu einem kleinen Achtsamkeitsexperiment nutzen.


Versuchen Sie einmal, der Szene, die sich innerhalb der nächsten ein, zwei Sekunden abspielt, als Beobachter beizuwohnen: die explosionsartige Ausbreitung des Schmerzes und die ihn begleitenden Flüche, Schmerzlaute und wilden Gesten. Sie werden bemerken, dass Sie bald aufhören, zu schimpfen und zu fluchen und dass Ihre Bewegungen wieder kontrollierter werden. Während Sie den Schmerz beobachten, achten Sie auf seine wechselnden Qualitäten, auf die Empfindungen des Pochens, Stechens, Brennens, Schneidens, Reißens, Bohrens, Zerrens, die in schneller Folge durch die schmerzende Stelle ziehen wie ein flackerndes Farbenspiel. Bleiben Sie weiter bei der sich verändernden Schmerzempfindung, während Sie das Schienbein halten oder mit einem Eiswickel bedecken, den Daumen in die Höhe strecken oder in kaltes Wasser tauchen, die Hand ausschütteln oder tun, was immer Ihnen angemessen scheint.


Wenn Sie dieses kleine Experiment mit der nötigen Konzentration durchführen, entdecken Sie vielleicht ein Zentrum der Ruhe und Gelassenheit in sich, von dem aus Sie die Szene in ihrem ganzen Verlauf beobachten können. Auf diese Weise ist es möglich, den Schmerz zu erfahren und sich zugleich wie losgelöst von ihm zu fühlen, so dass es nicht mehr der Schmerz ist, den man »hat«, sondern einfach Schmerz, oder nicht einmal mehr Schmerz, sondern ein intensives Empfinden, das schwer in Worte zu fassen ist. Man kann dabei die Erfahrung einer Stille »im« Schmerz oder »hinter« dem Schmerz machen. Vielleicht konnten Sie auch schon bemerken, dass Ihr Gewahrsein des Schmerzes selbst nicht Schmerz war – nicht Flucht, sondern Zuflucht, eine Art höherer Warte.


Falls nicht, können Sie immer noch erforschen, wie Ihre Wahrnehmung und Einstellung sich zu dem Phänomen verhält, das wir »Schmerz« nennen, nämlich wenn Sie sich das nächste Mal das Schienbein stoßen. Ein Hammerschlag auf den Daumen oder eine Prellung des Schienbeins führt zu einer unmittelbar einsetzenden intensiven Empfindung namens Schmerz.


Plötzlich auftretende Schmerzen werden als akute Schmerzen bezeichnet, die in der Regel sehr intensiv sind, aber meist auch raschvorübergehen. Entweder verschwinden sie von selbst oder zwingen zu einer Maßnahme, die Linderung verspricht, wie etwa der Gang zum Arzt. Wenn Sie in einem Augenblick plötzlichen Schmerzes mit der Achtsamkeit experimentieren, das heißt Ihre Empfindungen genau beobachten, werden Sie bemerken, dass Ihre Einstellung diesen Empfindungen gegenüber entscheidend mitbestimmt, wie intensiv die Schmerzerfahrung ausfällt. Ebenso wirkt sich Ihre Einstellung auf Ihre Emotionen und Ihr Verhalten aus. Es kann einer Offenbarung gleichkommen, wenn man entdeckt, dass man über verschiedene Möglichkeiten verfügt, selbst mit heftigem physischem Schmerz umzugehen, und sich nicht zwangsläufig von ihm überwältigen lassen muss.


Die Behandlung chronischer Schmerzen ist noch immer ein heikles medizinisches Problem. Chronische Schmerzen, also über längere Zeit bestehende und schwer zu behandelnde Beschwerden, können sowohl anhaltend als auch wiederkehrend sein. Ihre Intensität ist unterschiedlich und reicht von äußerst heftig bis dumpf.


Die Medizin kann akuten Schmerzen weitaus besser begegnen als chronischen Schmerzen. Die Ursache akuter Schmerzen kann in der Regel schnell festgestellt und behandelt werden, womit dann auch der Schmerz verschwindet. Manchmal jedoch erweist sich der Schmerz als hartnäckig und lässt sich weder durch Medikamente noch durch chirurgische Maßnahmen beheben, die beiden Hauptmittel im Kampf gegen Schmerzen.


In einigen Fällen ist auch die Ursache der Schmerzen nicht eindeutig zu ermitteln. Als chronisch werden solche Schmerzen bezeichnet, die nach ihrem erstmaligen akuten Auftreten länger als sechs Monate anhalten oder über einen längeren Zeitraum hinweg phasenweise kommen und gehen. In diesem und dem folgenden Kapitel werden wir vor allem der Frage nachgehen, in welcher konkreten Form Achtsamkeit uns dabei helfen kann, uns mit dem Schmerz anzufreunden, so seltsam das auch klingen mag, und ein sinnvolles Verhältnis zu ihm herzustellen. Nichts anderes ist gemeint, wenn wir sagen, dass wir lernen, mit ihm umzugehen und mit ihm zu leben.

 

Eines sollte sich der Leser dieses Buches stets vor Augen halten: Alle Patienten, die mit dieser oder jener Art von Leiden oder Diagnose an die Stress Reduction Clinic überwiesen werden, unterziehen sich einer gründlichen medizinischen Untersuchung, bevor sie von ihren Ärzten die Erlaubnis erhalten, am MBSR-Programm teilzunehmen. Dieses Vorgehen ist von entscheidender Wichtigkeit, um beurteilen zu können, ob das Krankheitsgeschehen eine sofortige ärztliche Intervention erfordert oder nicht.


Zum achtsamen Umgang mit dem Schmerz gehört es auch, intelligente Entscheidungen in Bezug auf notwendige ärztliche Maßnahmen zu treffen. Die Achtsamkeitsmeditation muss immer mit einer optimalen medizinischen Versorgung einhergehen. MBSR ist von jeher nicht als Ersatz für ärztliche Therapie konzipiert, sondern als eine äußerst wichtige Ergänzung dazu.


Ebenso wenig wie Stress sind auch Schmerzen an sich nicht schlecht. Wir sollten uns klarmachen, dass Schmerz eines der wichtigsten Warnsysteme unseres Körpers ist. Ohne Schmerzempfindung könnten wir uns zum Beispiel schwere Verbrennungen zuziehen, wenn wir eine heiße Herdplatte berühren. Oder wir könnten einen Blinddarm-Durchbruch erleiden, ohne zu ahnen, dass in unserem Inneren etwas nicht in Ordnung ist. Das heftige Schmerzerlebnis in solchen und vergleichbaren Fällen signalisiert uns die akute Gefahr. Es teilt uns auf unmissverständliche Weise mit, dass ein Umstand unsere unverzügliche Aufmerksamkeit und sofortiges Handeln erfordert, um der Situation abzuhelfen. Wir ziehen die Hand so schnell wie möglich vom Herd zurück oder begeben uns mit der akuten Blinddarmentzündung ohne Umschweife ins Krankenhaus.


Aufgrund seiner Intensität treibt uns der Schmerz buchstäblich dazu. Menschen, deren Schmerzempfinden von Geburt an gestört ist, haben die größten Mühen, grundlegende Reflexe des Selbstschutzes zu erlernen, die für andere Menschen selbstverständlich sind. Durch viele schmerzliche Erfahrungen haben wir im Laufe unseres Lebens unbewusst eine Menge über die Welt, uns selbst und unseren Körper gelernt. Schmerz ist ein äußerst effektiver Lehrmeister, was wohl die meisten Menschen nicht hindern wird, ihn für grundsätzlich »schlecht« zu erklären. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Schmerzen verpönt sind. Schon der bloße Gedanke an Schmerzen und körperliche Beschwerden ist uns zuwider.


Daher greifen wir schon beim geringsten Anzeichen von Kopfschmerz zur Tablette oder müssen unsere Position verändern, sobald die Ermüdung in einer Muskelpartie uns Unwohlsein verschafft. Wie wir noch sehen werden, kann diese Ablehnung des Schmerzes ein großes Hindernis darstellen, wenn es darum geht, mit chronischen Schmerzen leben zu lernen.

 

Aversion gegen Schmerz ist im Grunde genommen nichts anderes als eine Form der Aversion gegen Leid. Für gewöhnlich unterscheiden wir nicht zwischen Schmerz und Leid, trotzdem ist diese Differenzierung sehr wichtig. Schmerz ist eine natürliche Funktion des Lebens, Teil unserer Lebenserfahrung, Leid dagegen eine von vielen möglichen Reaktionen auf Schmerz. Leid entsteht aus physischem und emotionalem Schmerz. Es beeinflusst unsere Gedanken und Gefühle und wie sich durch sie unsere Erfahrungen gestalten. Auch Leid ist etwas Natürliches, und oft wird das menschliche Dasein geradezu als in unvermeidliches Leiden getaucht beschrieben. Wir müssen dabei aber bedenken, dass Leid nur eine mögliche Reaktion auf Schmerz ist. Schon milder Schmerz kann ausreichen, um allergrößtes Leid hervorzurufen, wenn mit ihm zum Beispiel die Angst vor einem Tumor oder einer anderen schweren Erkrankung verbunden ist.


Derselbe Schmerz wird zu einer unbedeutenden Angelegenheit, zu einer Bagatelle, wenn die Testergebnisse negativ ausfallen und feststeht, dass es sich nicht um etwas Ernstes handelt. So ist es bei weitem nicht immer der Schmerz selbst, der das Maß des Leids bestimmt, sondern es sind die Bedeutung, die wir ihm beimessen, und unsere Reaktionen auf ihn. Und wir fürchten nicht den Schmerz am meisten, sondern das Leiden.


Anhaltende Schmerzzustände können zermürbend sein. Sie können einen Menschen völlig außer Gefecht setzen und seine Lebensqualität untergraben. Reizbarkeit, Depressionen, eine Neigung zum Selbstmitleid, Gefühle der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit sind die Folgen. Man hat das Gefühl, sich nicht mehr auf den Körper verlassen zu können, leidet unter dem Verlust der Arbeitsfähigkeit und nicht zuletzt dem Schwinden der Lebensfreude.


Darüber hinaus führen die Behandlungsmethoden sehr oft nur zu Teilerfolgen. Am Ende einer langwierigen Therapiemaßnahme, zu der in der Regel eine umfangreiche Medikation und unter Umständen auch Operationen gehören, lautet in vielen Fällen der Bescheid des behandelnden Arztes in der Schmerzklinik immer noch, dass man wird lernen müssen, »mit den Schmerzen zu leben«. Wie man das lernt, erfährt man dabei meistens nicht. Die Mitteilung, dass man lernen muss, mit den Schmerzen zu leben, sollte nicht das Ende der Bemühungen zur Schmerzbewältigung bedeuten, sondern deren Anfang. Und aus dieser Einsicht ergibt sich auch eine der wichtigsten Rollen, die das MBSR-Programm im Leben eines Schmerzpatienten spielen kann – und in der ganzen  esundheitsversorgung.



In der Anfangszeit unseres Klinikums, bevor die ihm angeschlossene Schmerzklinik aus Budgetgründen geschlossen werden musste, wurden von dort viele Schmerzpatienten an die Stress Reduction Clinic zur Teilnahme an einem MBSR-Kurs überwiesen. Das entscheidende Kriterium dabei war die Bereitschaft des Patienten oder der Patientin, selbst aktiv etwas zu unternehmen, um mit den chronischen Schmerzen besser zurechtzukommen, insbesondere dann, wenn sich die Medikamente als nur zum Teil wirksam erwiesen hatten. Patienten, die mit der Erwartungshaltung kommen, dass die Ärzte es »richten« oder die Schmerzen »beseitigen«, sind in der Regel weniger für das Achtsamkeitstraining geeignet, denn es fehlt ihnen oft an Verständnis für die Notwendigkeit, Verantwortung für sich zu übernehmen und mit ihren Beschwerden zu arbeiten. Nicht selten kommt es vor, dass Patienten glauben, ihr Arzt wolle den Schmerz für »irreal« erklären, wenn er ihnen einen mehr Geist-Körper-orientierten Ansatz in der Schmerztherapie empfiehlt. Den Hinweis, dass mentale Faktoren bei der Regulierung des Schmerzerlebens eine wichtige Rolle spielen, legen sie so aus, dass der Schmerz »nur in ihrem Kopf«, also eingebildet sei.



Die meisten Menschen, die körperlich leiden, erwarten vom Arzt eine Art Reparaturmaßnahme zur Behebung ihrer Schmerzen. Das ist verständlich, wenn man von seinemKörper eine Vorstellung hat, die dem Modell der Maschine nachgebildet ist. Wenn eine Maschine nicht mehr funktioniert, untersucht man das Problem und »bringt es in Ordnung«. Nach dieser Logik geht man mit Schmerzen zum Schmerz-Spezialisten in der Erwartung, dass er das Problem auf ähnliche Weise behebt, wie der Mechaniker es mit dem Defekt am Auto tut.


Menschen mit chronischen Schmerzen, die ihren kranken Körper wie eine defekte Maschine betrachten und den Arzt als Mechaniker missverstehen, der nichts weiter tun muss, als den Schaden zu finden und zu reparieren, erleben meist eine herbe Enttäuschung. Aus der Sicht desneuen Paradigmas sind Schmerzen nicht einfach ein Problem des Körpers, sondern eine komplexere Systemproblematik. Sowohl äußere als auch innere Sinnesreize werden über die Bahnen des Nervensystems ans Gehirn weitergeleitet, wo sie registriert und zum Beispiel als »Schmerz« interpretiert werden. Erst dadurch kommt im Organismus die örtliche Schmerzempfindung zustande.


Wir wissen heute aber von etlichen Leitungsbahnen und Schaltstellen im Gehirn und im zentralen Nervensystem, über die höhere kognitive und emotionale Funktionen auf die Schmerzerfahrung einwirken können. Die systemische Sichtweise eröffnet den Ausblick auf eine Vielzahl möglicher Wege, über die wir mit unserem Geist gezielt Einfluss auf die Schmerzerfahrung nehmen können. Darum ist die Meditation ein so wertvolles Mittel im Umgang mit chronischen Schmerzen. Wenn ein Arzt also zur Meditation rät, dann will das nicht etwa besagen, dass es sich um »unechte« Schmerzen handelt, sondern dass Geist und Körper nicht zwei voneinander unabhängige, getrennte Größen sind und dass jeder Schmerz auch eine mentale Dimension hat.

Die Arbeit mit dem Schmerz in der Meditation

Manche Menschen haben Schwierigkeiten einzusehen, warum sie versuchen sollen, in den Schmerz hineinzugehen, wenn sie doch nichts sehnlicher wünschen, als ihn loszuwerden. Warum nicht ihn ignorieren oder sich ablenken und, falls er zu stark wird, die Zähne zusammenbeißen und ihn aushalten? Ein Grund dafür ist, dass es Situationen gibt, in denen diese Art des Umgangs mit dem Schmerz nicht mehr gelingt. Dann ist es ganz nützlich, noch ein paar andere Tricks auf Lager zu haben, als sich auf Medikamente zu verlassen. Wie verschiedene klassische Experimente nachweisen konnten, werden starke, länger anhaltende Schmerzen effektiver gelindert, wenn man sich auf sie einlässt, anstatt sie zu ignorieren, sich abzulenken oder sie einfach zu ertragen.



Auch wenn Sie sich für eine gewisse Zeit ablenken und sich dadurch Linderung verschaffen können, so führt doch allein der achtsame Umgang mit dem Schmerz zu einer neuen Ebene von Einsicht und Verständnis in Bezug auf Sie selbst und Ihren Körper. Nur von hier aus, nicht aber durch Ablenkung oder Flucht können Sie lernen, Ihre körperliche Verfassung zu akzeptieren und mit ihr zu leben, anstatt sie bloß zu ertragen. Ein Zugang zu dieser Einsicht besteht darin, sich die sensorische, emotionale und kognitiv-begriffliche Ebene als drei Bereiche zu denken, die sich entkoppeln lassen, indem wir sie als voneinander unabhängige Erfahrungsaspekte betrachten.



Sobald wir beispielsweise erkennen, dass unsere Gedanken über unsere Empfindungen nicht selbst Empfindungen sind, treten die sensorische und die kognitive Ebene auseinander, womit sich die Wahrnehmung jeder der beiden Ebenen verwandelt. Das Gleiche gilt für unsere emotionalen Reaktionen auf unangenehme Sinnesempfindungen. Das Phänomen der Entkopplung verschafft uns also einen neuen Grad an Freiheit, da es uns erlaubt, der Vorgänge in jeder der drei Dimensionen auf völlig andere Weise gewahr zu werden und damit unnötiges Leiden zu vermeiden.

 


Für Menschen mit chronischen Schmerzen, denen unbewegliches Sitzen oder auch gerade Bewegungen Probleme bereiten, ist der Body-Scan am Anfang die tauglichste Übungsform, da man ihn auf dem Rücken liegend ausführt oder auch in einer anderen bequemen ausgestreckten Position. Sie brauchen nur die Augen zu schließen, sich auf den Atem einzustimmen und dem sanften Auf und Ab der Bauchdecke zu folgen. Dann lenken Sie, wie in Kapitel 5 beschrieben, die Aufmerksamkeit mit Hilfe des Atems zu den Zehen des linken Fußes und gehen von dort aus langsam den ganzen Körper durch, während Sie weiter in jedem Augenblick Ihre wache Präsenz aufrechterhalten. Konzentrieren Sie sich so gut es geht auf die Region, bei der Sie gerade sind, atmen Sie in diesen Körperbereich »hinein« und wieder aus ihm »heraus«, und nehmen Sie alle Empfindungen (oder auch die Abwesenheit von Empfindungen) wahr. Versuchen Sie, mit jedem Ausatmen Ihren ganzen Körper tiefer in die Unterlage, auf der er ruht, einsinken zu lassen, während sich alle Muskeln lockern und entspannen. Wenn es für Ihr Gefühl an der Zeit ist, einen Körperbereich zu verlassen und zum nächsten zu wechseln, lösen Sie Ihren Geist ganz von ihm und verweilen Sie für ein paar Atemzüge in Stille, bevor Sie Ihre Reise durch den Körper fortsetzen, zunächst das linke Bein hinauf, danach durch das rechte Bein und weiter durch alle Körperregionen.



Die Grundregeln für die Meditation, insbesondere zum Umgang mit abschweifenden Gedanken, gelten natürlich weiterhin: Sobald Sie das Abirren des Geistes bemerken, binden Sie ihn wieder ein und bringen die Aufmerksamkeit behutsam zu dem Körperbereich zurück, bei dem Sie zuletzt waren – ausgenommen, Sie haben so starke Schmerzen, dass es Ihnen nicht gelingt, sich überhaupt auf etwas anderes zu konzentrieren. Wie Sie dann am besten vorgehen, wird auf den nächsten Seiten beschrieben. Wenn Sie mit der CD arbeiten und bemerken, dass Ihr Geist nicht bei der Sache ist, lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Anleitung zurück und nehmen den Faden an der aktuellen Stelle wieder auf, indem Sie einfach weiter der gesprochenen Anleitung folgen.



Gehen Sie auf diese Weise langsam den ganzen Körper durch und »scannen« Sie ihn Bereich für Bereich. Wenn Sie sich durch eine besonders problematische Zone bewegen, in der Sie Beschwerden oder sogar starke Schmerzen haben oder schon einmal hatten, versuchen Sie, diesen Bereich wie jeden anderen zu behandeln. Atmen Sie also in ihn hinein und wieder aus ihm heraus, achten Sie sorgfältig auf alle Empfindungen, lassen Sie sie zu, öffnen Sie sich ihnen, und spüren Sie, wie sich mit jedem Ausatmen der ganze Körper mehr lockert und entspannt. Gehen Sie dann, auch wenn das Schmerzerleben so intensiv ist wie zuvor oder gar stärker wird, weiter zum nächsten Bereich und verweilen Sie nun dort mit vollem Gewahrsein. Wenn sich die Schmerzempfindung in einem bestimmten Körperbereich verändert, versuchen Sie, genau zu erspüren, welcher Art diese Veränderung ist. Registrieren Sie sie klar in Ihrem Bewusstsein, und setzen Sie den Body-Scan fort. Sie sollten nicht erwarten, dass die Schmerzen verschwinden, oder überhaupt irgendetwas erwarten. Vielleicht stellen Sie aber manchmal fest, dass die Schmerzempfindung in ihrer Intensität vorübergehend zunimmt, nachlässt oder sich in ihrer Qualität verändert, etwa von stechend zu dumpf, bohrend, brennend oder pochend. Es kann auch sinnvoll sein, sich alle Gedanken und Gefühle bewusst zu machen, die sich in Bezug auf Ihre Schmerzen, Ihren Körper, die CD, die Meditation oder etwas anderes einstellen. Fahren Sie einfach fort, indem Sie beobachten und loslassen, beobachten und loslassen, Atemzug um Atemzug, Augenblick um Augenblick.



Lassen Sie sich im Verlauf Ihrer Meditationsübung weder zu sehr von »Erfolgen« mitreißen noch von einem Mangel an »Fortschritt« entmutigen. Kein Tag gleicht dem anderen und selbst kein Augenblick und Atemzug dem folgenden. Urteilen Sie also nicht voreilig nach ein oder zwei Sitzungen. Heilung und persönliches Wachstum brauchen Zeit. Die Meditationsübung erfordert Geduld und Ausdauer über Wochen und Monate, wenn nicht Jahre hinweg. Wenn Sie schon seit Jahren Probleme mit Schmerzen haben, ist es nicht gerade vernünftig anzunehmen, dass sie nun innerhalb von Tagen wie durch ein Wunder verschwinden, nur weil Sie begonnen haben zu meditieren. Aber gerade dann, wenn Sie schon alles andere ausprobiert haben und noch immer unter Schmerzen leiden, haben Sie nichts zu verlieren, wenn Sie für acht Wochen – oder auch für längere Zeit – regelmäßig meditieren. Wenn der Schmerz so stark wird, dass es Ihnen unmöglich ist, die Aufmerksamkeit in eine andere Körperregion zu lenken, beenden Sie die Übung und unterbrechen Sie die gesprochene Anleitung, falls Sie mit der CD arbeiten. Richten Sie Ihre Konzentration nun ganz auf den Schmerz selbst. Es gibt, neben den bisher besprochenen Ansätzen, noch eine Reihe anderer Methoden, mit Schmerz umzugehen. Der eigentliche Schlüssel für die Arbeit mit dem Schmerz ist jedoch immer der unumstößliche


Entschluss, die Aufmerksamkeit sanft und behutsam, aber beharrlich auf den Schmerz und in ihn hinein zu lenken, egal wie schlimm es sich anfühlt. Dieser Schmerz ist genau das, was Sie im Augenblick spüren. Also können Sie ebenso gut versuchen, ihn bis zu einem gewissen Grad zu akzeptieren, einfach weil er jetzt hier ist.


Wenn Sie in Ihren Schmerz hineingehen und ihm direkt begegnen, kann es Ihnen manchmal so erscheinen, als hätten Sie einen schweren Kampf zu bestehen oder durchlitten Höllenqualen. Wenn Sie erkennen, dass auch dies nur Gedanken sind, hilft es, sich klarzumachen, dass die Übung der Achtsamkeit keine kämpferische Auseinandersetzung, kein Kräftemessen zwischen Ihnen und Ihren Schmerzen ist. Machen Sie selbst aber einen Kampf daraus, so führt dies nur zu mehr Anspannung und folglich zu mehr Schmerz. Zur Achtsamkeit gehört das entschlossene Bemühen, körperliches Unbehagen und seelische Erregung in jedem Augenblick zu beobachten und anzunehmen. Denken Sie daran, dass Sie versuchen, etwas über den Schmerz herauszufinden, von ihm zu lernen, ihn besser kennenzulernen, ja sogar mit ihm auf intime Weise vertraut zu werden und nicht, ihn abzustellen, loszuwerden oder vor ihm zu fliehen. Wenn Ihnen diese Haltung gelingt und Sie auch nur einen Atemzug oder selbst einen halben bei Ihrem Schmerz verweilen können, um sich mit ihm »anzufreunden«, ist das bereits ein erster Schritt in die richtige Richtung. Von hier aus können Sie die Übung ausdehnen und ruhig und offen bleiben, während Sie sich dem Schmerz zwei, drei oder mehr Atemzüge lang bewusst stellen.



Wir können noch einen kleinen Schritt weiter gehen und uns fragen: »Wie schlimm ist es jetzt, in diesem Augenblick?« Wahrscheinlich werden Sie in den meisten Fällen feststellen, dass Sie die Frage »Ist es IN DIESEM MOMENT auszuhalten?« mit ja beantworten können, selbst wenn Sie sich sehr schlecht fühlen. Das Problem besteht darin, dass diesem Moment ein anderer folgt und wieder ein anderer und Sie »wissen«, dass jeder von ihnen mit mehr Schmerz belastet sein wird.



Die Lösung? Experimentieren Sie damit, jeden einzelnen Moment so zu nehmen, wie er gerade kommt, und versuchen Sie, dabei Augenblick für Augenblick hundertprozentig in der Gegenwart zu sein. Setzen Sie dies, falls nötig, während der gesamten fünfundvierzig Minuten fort oder bis der Schmerz nachlässt, und kehren Sie dann zum Body-Scan zurück. Zumindest können Sie dabei die Entdeckung machen, dass die Empfindung, die wir »Schmerz« nennen, nichts Unveränderliches ist, sondern sich von Sekunde zu Sekunde verwandeln kann.


 

Abgesehen von der Beobachtung der puren Empfindung gibt es aber, wie gesagt, noch zwei weitere wichtige Dimensionen des Schmerzerlebens, deren Sie sich annehmen können, indem Sie zusätzlich aller Gedanken und Gefühle über die körperlichen Empfindungen gewahr werden. Vielleicht fällt Ihnen dabei als Erstes auf, dass Sie sich mit Ihrem Denken auf die gesamte Erlebniskonstellation summarisch als »Schmerz« beziehen und, indem Sie diesen Namen vergeben, schon nicht mehr bei der ursprünglichen Erfahrung sind. Achten Sie also darauf, welche Bezeichnung Sie für Ihre Empfindung wählen. Vielleicht ist es gar nicht nötig, sie »Schmerz« zu nennen, und möglicherweise ist es sogar der Name, der sie intensiver erscheinen lässt. Probieren Sie es einfach einmal aus.


Wenn Sie sich auf diese Weise Ihrer inneren Erfahrungswelt zuwenden, werden Sie vielleicht auch bemerken, wie sich da noch alle möglichen anderen kommentierenden, bewertenden, widerstrebenden, schwarzmalerischen, hadernden, schwermütigen oder ängstlichen Gedanken und Gefühle tummeln, wie sie auftauchen und wieder verschwinden. Sätze wie »Das halte ich nicht länger aus«, »Wie soll das nur weitergehen«,



»Mein ganzes Leben ist eine einzige Misere«, »Es hat sowieso alles keinen Sinn«, »Der Schmerz wird niemals nachlassen« gehen einem in schwierigen Momenten durch den Kopf. Diese Gedanken können die ständig wechselnden Reaktionen auf den Schmerz sein, und viele von ihnen sind angstgeleitete Vorwegnahmen einer unheilvollen Zukunft. Daher ist es wohltuend zu bemerken, dass KEINER VON IHNEN DER SCHMERZ SELBST IST.



Können Sie sich dies während der Übung bewusst machen, ist das ein Schlüsselerlebnis. So wenig diese Gedanken der Schmerz selbst sind, genauso wenig sind sie Sie! – ganz abgesehen davon, dass sie in der Regel nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun haben. Sie sind die nachvollziehbaren Reaktionen eines Geistes, der sich gegen den Schmerz sträubt und für sich eine andere Realität anstrebt, nämlich Schmerzfreiheit. Wenn Sie aber die Empfindung in Ihrem Körper in einem gegebenen Moment als bloße Empfindung erfahren, erkennen Sie vielleicht die Nutzlosigkeit Ihrer kommentierenden Gedanken für diesen Moment und die unnötige Verschlimmerung, die er durch sie erfährt.



Sich den Empfindungen akzeptierend zu überlassen wird Ihnen aber nur dann gelingen, wenn Sie erkennen, dass es Ihr Denken ist, das die Empfindungen als »schlecht« abstempelt. Es ist Ihr Geist, der sie ablehnt und der in ihnen ein Ärgernis sieht, das er einfach beseitigt wissen möchte.


Der Unterschied liegt in der Einsicht, dass nicht Sie es sind, der die Empfindungen ablehnt, sondern dass es Ihr denkender Geist ist. Und durch Ihre Meditationserfahrung wissen Sie nun schon sozusagen aus erster Hand, dass Ihre Gedanken nicht mit Ihnen identisch sind. Gelingt es Ihnen, inmitten des inneren Aufruhrs zu einem Moment der Stille zu finden, dann machen Sie vielleicht die neuartige Erfahrung, dass Ihr Gewahrsein der Empfindungen, Gedanken und Gefühle sich von den Empfindungen und Gedanken selbst unterscheidet – dass der Teil von »Ihnen«, der ihrer gewahr ist, weder dem Schmerz noch der Macht der Empfindungen und Gefühle unterliegt. Er weiß von ihnen, bleibt aber von
ihrem Einfluss frei. Das können Sie selbst beim nächsten Mal angesichts einer intensiven negativen Empfindung oder Emotion ausprobieren. Sie verweilen in Gewahrsein und fragen sich: Ist mein Gewahrsein des Schmerzes selbst auch der Schmerz? Oder: Ist mein Gewahrsein der Angst, Wut oder Traurigkeit selbst auch die Angst, Wut oder Traurigkeit? Schon ein einziger Augenblick der Besinnung anhand dieser Fragestellung kann Ihnen unmittelbar einen anderen Zugang zu Ihrem Leiden, ein anderes Verständnis Ihres Leidens und vielleicht eine neue Form der Beziehung zu ihm eröffnen.



Vielleicht geht Ihnen in dieser Stille auch auf, dass wer oder was immer »Sie« sind, dies jedenfalls nicht allein Ihr Körper ist, ebenso wenig wie Ihre Gedanken und Gefühle. Auch Ihre Meinungen und Vorstellungen entwickeln sich, und manches, mit dem Sie sich früher vollständig identifiziert haben, ist über die Jahre für Sie bedeutungslos geworden. Das legt nahe, dass Ihr eigentliches Wesen mehr im Gewahrsein selbst liegt als in irgendeinem wahrnehmbaren Zustand jenes sich ständig verändernden Gebildes, das »Sie« sind. Das gilt umso mehr, wenn Sie lernen, im Gewahrsein Ihren »Grundmodus« zu sehen, Ihre natürliche Weise zu sein.


Wenn Sie aber nicht Ihr Körper sind, dann können Sie auch nicht seine Schmerzen sein. Ihr wahres Wesen muss etwas sein, das größer ist als Ihr Schmerz. Wenn Sie lernen, sich von der Dimension des Seins tragen zu lassen, kann die Beziehung zu dem Schmerz oder zu den intensiv unangenehmen Empfindungen in Ihrem Körper eine tiefgreifende Wandlung durchmachen. Eine solche Erfahrung, und sei sie noch so flüchtig oder angedeutet, kann Ihnen den Weg zu einer eigenen Form des Umgangs mit dem Schmerzerlebnis weisen, auf dem es Ihnen gelingt, ihm Raum zu geben, sich mit ihm anzufreunden und mit ihm zu leben. Es ist ein Weg, den viele unserer Patienten schon gegangen sind.



Wenn Sie unter chronischen Schmerzen leiden und der hier beschriebene Ausblick auf den Umgang mit Schmerz bei Ihnen Anklang findet, ist vielleicht jetzt der richtige Moment, es damit zu versuchen (falls Sie es nicht schon längst versucht haben). Aber kein Weg führt daran vorbei, zu üben und immer wieder zu üben. Finden Sie in sich selbst zu Augenblicken der Stille und der Aufmerksamkeit, pflegen Sie sie, und vertrauen Sie sich Ihrem Schmerz als Ihrem Lehrmeister und Führer an.


Gewiss ist es harte Arbeit, und es wird immer wieder Phasen geben, in denen Sie aufgeben möchten, vor allem wenn Sie unter chronischen Schmerzen leiden und keine raschen »Erfolge« sehen. Vergessen Sie dann aber nicht, dass Sie für diese innere Arbeit Nachsicht, Geduld und Milde mit sich selbst und Ihren körperlichen Beschwerden benötigen, denn Sie arbeiten ja im wahrsten Sinn des Wortes an der eigenen Schmerzgrenze – und zwar auf sanfte Weise, ohne sich zu überfordern und einen Durchbruch erzwingen zu wollen. Der Durchbruch kommt von selbst, wenn die Zeit dafür reif ist und Sie im Sinne des Geistes der Selbstentdeckung Ihre Energie einsetzen. Die Achtsamkeit ist kein Bulldozer, mit dem man jeden Widerstand einfach plattwalzt. Sie rüttelt vielmehr sanft an unseren Barrieren, hier ein wenig und dort ein wenig – und während sie zu wanken beginnen, eröffnen sich neue Dimensionen des Seins, sogar mitten in Zweifel und Schmerz.