Seht die Sterne, die da lehren
Wie man soll den Meister ehren
Jeder folgt nach Newtons Plan
Ewig schweigend seiner Bahn.

Albert Einstein

Pünktlich um sieben Uhr abends war die kleine Swissair-Maschine auf dem Genfer Flughafen Cointrin gestartet, und etwa eineinhalb Stunden später endete der Flug Nr. 1215 auf dem Flugplatz Berlin-Tempelhof. Während die Maschine ausrollte, schaute Professor Adrian Haller aus Bern versonnen auf das nach modernen Maßstäben recht kleine Flugfeld, das in der wechselvollen Geschichte der deutschen Hauptstadt eine so große Rolle gespielt hatte. Von Juni 1948 bis Mai 1949 stellte es die wichtigste
Verbindung zum Westen Deutschlands dar, nachdem Stalin die Blockade des Westteils der Stadt angeordnet hatte. Das Luftbrückendenkmal vor dem Flughafengebäude erinnert noch heute an jene bedrückende Zeit, in der der Kalte Krieg einen seiner Höhepunkte erreichte.


Haller folgte einer Einladung der Humboldt-Universität und eines Potsdamer Forschungsinstituts. Vom Flughafen Tempelhof nahm er die U-Bahn zum Bahnhof Zoo im Westen der Stadt, um dort in die S-Bahn umzusteigen. Ein Stunde später war Haller bereits in Caputh, einem Dorf südlich von Potsdam, wo der Templiner See und der Schwielowsee ineinander übergehen. Dort, in der Waldstraße nicht weit vom See, lag das Haus, in dem Haller als Gast des Potsdamer Instituts wohnen sollte.

 

Der Taxifahrer hatte Mühe, die angegebene Adresse in der Waldstraße zu finden. »Zu Beginn der dreißiger Jahre wäre das wohl leichter gewesen«, dachte Haller insgeheim, denn damals war das Haus in der Caputher Waldstraße eine der berühmtesten Adressen im Berliner Raum. Im Herbst des Jahres 1929 bezog Albert Einstein mit seiner zweiten Frau Elsa das von ihm erbaute Sommerhaus, ein nach damaligen Maßstäben sehr modernes und ganz aus Holz errichtetes Landhaus, und bald mußten sich die überraschten Dorfbewohner an einen Strom illustrer Besucher Einsteins gewöhnen. So kam der indische Dichter und Philosoph Rabindranath Tagore im wallenden weißen Gewand mit einem ganzen Gefolge nach Caputh, um mit Einstein philosophische Gespräche zu führen. Neben Einsteins Physikerkollegen erschienen auch viele Künstler, so die Graphikerin Käthe Kollwitz, der Maler Max Liebermann oder die Schriftsteller Gerhart Hauptmann und Heinrich Mann.


Abb. 2-1 Einstein am Fenster seines Sommerhauses in Caputh bei Potsdam, um 1930. (Albert Einstein Archives Jerusalem)


Abb. 2-2 Außenansicht der Südseite des Landhauses von Einstein um 1930. (Foto Konrad Wachsmann)


Abb. 2-3 Außenansicht von Einsteins Sommerhaus im Jahre 1995.


Einstein, der ein begeisterter Segler war und nicht weit von seinem Haus seinen Jollenkreuzer vertäut hatte, entwickelte schon bald nach seinem Einzug eine Vorliebe für das Landleben in Caputh, so daß er nur noch selten in seiner Stadtwohnung im Zentrum von Berlin anzutreffen war. Lange konnte Einstein jedoch die Annehmlichkeiten seines neuen Heimes nicht genießen. Angesichts des immer stärker werdenden Antisemitismus in Deutschland und der zunehmend wahrscheinlich werdenden Machtübernahme durch die Nationalsozialisten entschloß er sich, Berlin und das Land seiner Geburt zu verlassen. Am 10. Dezember 1932 verließ er mit seiner Frau Berlin und traf, nach einem Zwischenaufenthalt in Belgien, im darauffolgenden Jahr mit dem amerikanischen Dampfer »Westernland« in New York ein. Sein Haus in Caputh sollte er niemals wiedersehen. Es wurde 1934 von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und diente im 2. Weltkrieg als Domizil für Offiziere der Luftwaffe. Nach dem Krieg wurde es zur Unterbringung von Flüchtlingen benutzt. Seit 1979 steht es für wissenschaftliche Veranstaltungen zur Verfügung, und 1990, nach der Vereinigung Deutschlands, ging es ins Eigentum der Hebrew University in Jerusalem über.


Erst nach mehrfachen Telefongesprächen hatte Haller erreicht, daß die Kollegen in Potsdam seinen Wunsch erfüllten, für die Zeit seines Aufenthalts in Potsdam in Einsteins Sommerhaus zu wohnen. Das Haus, das den Krieg gut überstanden hatte, diente in der DDR-Zeit als Gedenkstätte für den großen Physiker, verwaltet von der Akademie der Wissenschaften. Eine Nachbarin aus Caputh, die das Haus betreute, zeigte Haller die Räume. Nachdem er sich in einem der Schlafzimmer im Obergeschoß einquartiert hatte, wo er ein gemachtes Bett vorfand, begab sich Haller auf einen Rundgang durch das Haus. Das Gebäude, ein vornehmlich aus Holz bestehendes Fertighaus, war nach Plänen des Architekten Konrad Wachsmann im Herbst 1929 von einer Firma aus der Lausitz errichtet worden.
Es besteht aus einem Flachbau mit einem großen Wohnraum, der Küche und einer großen Terrasse, an den sich ein zweigeschossiger Komplex mit Bad und zwei Zimmern sowie darüber drei weiteren Zimmern anschließt. Der größere Raum im Erdgeschoß diente Einstein als Büro und Schlafzimmer zugleich. Auffällig sind die Fenster des Hauses, die nach französischem Stil bis zum Boden reichen – ein spezieller Wunsch des Bauherrn, ebenso der große, mit hellem Marmor verkleidete Kamin im Wohnzimmer. Es war kurz nach 22 Uhr, als Haller sich schließlich in sein
Schlafzimmer zurückzog. Am nächsten Morgen sollte er um 9 Uhr abgeholt werden, und so stellte er seinen Wecker eine Stunde früher. Schon nach kurzer Zeit war er eingeschlafen. Höchstens zwei Stunden mochten vergangen sein – Haller war plötzlich hellwach, als er Stimmen hörte, die ihm bekannt vorkamen. Waren das nicht…? Er sprang auf, kleidete sich schnell an und lief die Treppe hinunter zum Wohnzimmer, aus dem die Stimmen nach oben drangen. Langsam öffnete er die Tür und schaute hinein. »Da ist er ja – Professor Haller, willkommen in Caputh«, schallte
es ihm entgegen. In einem Sessel vor dem brennenden Kamin saß, die qualmende Pfeife in der Hand, Albert Einstein, der sich nunmehr erhob und ihn begrüßte. »Es ist ja schon einige Monate her, daß wir uns das letzte Mal
gesehen haben, damals in Genf. Als wir uns verabschiedeten, wollte ich es Ihnen noch nicht sagen, aber mir war da schon klar, daß wir uns bald wiedersehen würden. Auch unser alter Freund Sir Isaac ist wieder mit von der Partie. Er kam bereits gestern früh hier an, und wir beide haben sogar schon eine kleine Segelpartie auf dem Templiner See unternommen.« Bei diesen Worten hatte sich nun auch die zweite Person erhoben und zur Begrüßung die Hand ausgestreckt. Überrascht sah Haller Isaac Newton vor sich stehen, etwa 45 Jahre alt, so wie er ihn vor einigen Monaten auf dem Genfer Flughafen verabschiedet hatte. Nur Einstein war älter geworden. Langes, graues Haar
umrahmte sein Gesicht mit den großen Augen. Er schien Hallers aufmerksamen Blick zu deuten: »Newton und Sie, Haller, sind ganz die alten geblieben, nur bei mir hat die Zeitmaschine gearbeitet. Ja, es stimmt – ich bin jetzt 51,
gute 20 Jahre älter als bei unserer letzten Begegnung. Aber das hat seine guten Seiten. Zwischendurch habe ich doch einiges geschafft. Meine Allgemeine Relativitätstheorie der Gravitation hat sich mittlerweile von einem vorwitzigen Kind zu einer attraktiven jungen Dame entwickelt, die zu besten Hoffnungen Anlaß gibt, und meine
alte Relativitätstheorie, die wir das letzte Mal nach allen Seiten hin durchgekaut haben, kommt langsam in die besseren Jahre. Aber nehmen Sie doch erst mal Platz, lieber Herr Kollege. Ich nehme an, das wird eine lange Nacht für Sie, denn wenn ich die Situation richtig einschätze, wird Newton uns Löcher in den Bauch fragen, wie es nun um die Gravitation steht.« Haller, der es schon aufgegeben hatte, bald wieder ins Bett zurückkehren zu können, setzte sich in den Sessel vor dem Kamin. Newton brachte eine dampfende Kanne mit frischem Kaffee aus der Küche nebenan und setzte sich ebenfalls. Schließlich nahm er Haller ins Visier und begann das Gespräch: »Also noch einmal: Willkommen, Mr. Haller. Jetzt, wo unsere alte Akademie Olympia wieder komplett ist, würde ich vorschla-
gen, daß wir in gewohnter Manier fortfahren. Einstein hat es ja schon anklingen lassen. Bei unseren Unterredungen vor einiger Zeit haben wir das Problem der Gravitation immer schön aus der Diskussion herausgehalten.«


Einstein: Gott sei Dank, denn damals, mit einunddreißig, hatte ich wirklich noch keine oder zumindest fast keine Ahnung, wie man diese Nuß knacken könnte.

Newton: Gemach, lieber Einstein. So sicher bin ich nicht, daß Sie in der Zwischenzeit die Nuß wirklich geknackt haben,wobei ich nicht einmal sicher bin, ob es da wirklich eine Nuß gibt. Jedenfalls schlage ich vor, daß ich gewissermaßen zur Einleitung zuerst einige allgemeine Wort über das Problem sage.

Einstein: Schießen Sie los, Sir Isaac. Ich bin gespannt. Schon beim Lesen Ihrer »Principia« in meiner Züricher Zeit habe ich das Gefühl gehabt, daß Sie sich über die Gravitation schon mehr den Kopf zerbrochen hatten, als Sie zugeben wollten.

Newton: Erlauben Sie mir zuerst ein paar allgemeine Bemerkungen zu Raum und Zeit. Wir wissen, daß Raum und Zeit unabhängig von der Materie im Kosmos existieren. Sie sind gewissermaßen das Gefäß, in das die Materie eingebettet ist. Der Raum hat drei Dimensionen, die Zeit eine. Dies bedeutet, daß wir eine Position
im Raum immer durch die Angabe von drei Zahlen, den drei Koordinaten, beschreiben können, während eine Zahl ausreicht, um die Zeit eindeutig zu fixieren.

Einstein: Was Sie gerade sagten, gilt sowohl für Ihre Mechanik als auch für meine Relativitätstheorie. Jedoch möchte ich schon jetzt darauf aufmerksam machen, daß wir bald Probleme mit Ihrer Bemerkung haben werden, daß Raum und Zeit unabhängig von der Materie existieren. Gerade dies ist in meiner Allgemeinen Relativitätstheorie nicht der Fall.

Newton: Sie meinen also ernsthaft, die Materie könnte die Struktur des Raumes und den Zeitablauf… – Newton schwieg plötzlich, entschuldigte sich und verschwand aus dem Zimmer.

Einstein (der versonnen an seiner Pfeife zog): Dachte ich mir doch, daß Newton darauf anspringt. Haller: Sie meinen, Newton hat insgeheim auch schon mit dem Gedanken gespielt, daß die Materie den Raum und die Zeit beeinflussen könnte, was ja in Ihrer Allgemeinen Relativitätstheorie tatsächlich der Fall ist? Einstein: Lesen Sie doch einmal seine »Principia« genau, ich meine, so zwischen den Zeilen. Ich bin mir ziemlich sicher, daß er zumindest eine Ahnung in diese Richtung hatte, mehr wohl aber auch nicht. Immerhin, Hut ab – das war vor 300 Jahren.
Newton (zurückkehrend): Entschuldigen Sie die kurze Unterbrechung, aber ich brauchte etwas Zeit, um meine Gedanken zu ordnen. Also weiter im Text. Raum und Zeit sind homogen, das heißt, es gibt keine ausgezeichneten Punkte im Raum oder keine ausgezeichneten Zeitpunkte im Ablauf der Zeit. Dies bedeutet auch, daß
der Raum unendlich ausgedehnt ist und daß der Fluß der Zeit im Kosmos schon immer stattfand und auch in alle Zukunft stattfinden wird. Ein Koordinatensystem im Raum, das wir zur Beschreibung des Raumes benutzen, kann man beliebig verschieben. Alle solchen Systeme sind gleichberechtigt. Raum und Zeit haben also eine völlig demokratische Struktur – wenn Sie mir diesen aus der Politik entlehnten Ausdruck gestatten.


Abb. 2-4 Der dreidimensionale Raum wird durch drei Koordinatenachsen aufgespannt, die aufeinander senkrecht stehen und beliebig gedreht werden können.


Haller: Man kann auch noch weiter gehen. Ein Koordinatensystem im Raum läßt sich auch beliebig verdrehen. Die Richtungen der Koordinatenachsen sind ja durch nichts festgelegt. Es gibt keine ausgezeichneten Richtungen im Raum – alle sind gleichwertig. Der Raum ist isotrop.

Newton: Also gut. Der Raum ist homogen und isotrop, der Zeitablauf ist homogen. Jetzt zur Bewegung von Materie. Ein Stück Materie, sagen wir der Einfachheit halber ein Massenpunkt oder – etwas weniger abstrakt – eine kleine Eisenkugel, bewegt sich im Universum auf einer geraden Linie und mit gleichförmiger Geschwindigkeit, wenn es nicht von irgendwelchen Kräften beeinflußt wird. Wir können immer ein Koordinatensystem finden, das sich mit derselben Geschwindigkeit bewegt wie die Kugel selbst. In diesem Fall ist letztere in Ruhe. Dies bedeutet: Es spielt überhaupt keine Rolle, ob ich nun die Bewegung eines Körpers im Raum von einem bewegten Koordinatensystem aus verfolge oder von einem ruhenden, vorausgesetzt, das bewegte System bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit durch den Raum. Alle diese Systeme sind vom physikalischen Standpunkt aus völlig gleichwertig.

Einstein: Dies bedeutet unter anderem auch, daß es eine absolute Bewegung im Kosmos nicht gibt. Alle Bewegungen sind relativ, also abhängig vom jeweiligen Bezugssystem. Dinge bewegen sich nicht absolut, sondern nur in Bezug aufeinander.

Haller: Bei unseren Diskussionen vor einiger Zeit haben wir dies ja schon einmal besprochen. Dabei möchte ich daran erinnern, daß wir auf diese Weise die Inertialsysteme eingeführt hatten, also auf deutsch »Trägheitssysteme«. Das sind alle jene Bezugssysteme, in denen ein Stück Materie sich frei und ungehindert auf einer geraden Bahn und mit konstanter Geschwindigkeit bewegt. Das ist natürlich ein idealisierter Grenzfall. Ein Stück Materie, sagen wir
ein Raumschiff, bewegt sich im allgemeinen im Kosmos nicht frei und ungehindert, da es der Massenanziehung, also der Gravitation der Himmelskörper unterliegt. Es müßte also schon weit weg von solchen sein.
Newton: Im Grunde ist ja solch ein Intertialsystem ein Phantasieprodukt der Physiker, mit dem sich zwar gut leben und vor allem rechnen läßt, das aber in reiner Form in der Natur eigentlich nicht existiert. Außerdem fand ich es schon immer etwas seltsam, daß die Beschleunigung eines Körpers in einem Intertialsystem eine absolute, vom Bezugssystem unabhängige Bedeutung besitzt, nicht aber seine Geschwindigkeit, die ja nur relativ zu einem Bezugssystem angegeben werden kann. Kurzum – die Geschwindigkeit ist relativ, Beschleunigung ist absolut.
Haller: Deshalb beobachtet man ja auch in einem beschleunigten Bezugssystem, sagen wir in einem Auto, das rasch schneller wird, eine ganze Reihe merkwürdiger Eigenschaften: Der Fahrer wird in seinen Sitz gedrückt, Gegenstände, die nicht befestigt sind, fliegen nach hinten, und so weiter. Kurz, in einem beschleunigten Bezugs-
system wirken Kräfte, die es in einem Trägheitssystem nicht gibt und die deshalb von den Ingenieuren und Physikern häufig Trägheitskräfte genannt werden, weil sie eine Folge der Trägheit der Körper sind. Letztere wollen nicht die vom System aufgezwungene beschleunigte Bewegung mitmachen, sondern in ihrem alten Trott verbleiben. Sie sträuben sich – die Folge ist eine Kraft, die vom Bezugssystem, im oben genannten Beispiel vom Auto, ausgeht und die Körper zwingt, die Beschleunigung mitzumachen – eine Kraft, die übrigens um so größer ist, je größer die Masse des Körpers ist. Aber ich denke, daß wir uns mit diesen Kraftwirkungen noch oft beschäftigen müssen, nicht wahr, Professor Einstein?
Einstein (auf die Uhr schauend): Das kann man wohl sagen. Jahrelang habe ich darüber gebrütet, bis ich schließlich den wahren Jakob fand. Aber das werden wir heute nicht mehr betrachten können.
Haller: Dem kann ich nur zustimmen. Ich für meinen Teil, der ja eine Reise aus der Schweiz hinter sich hat, fühle mich jetzt nicht mehr in der Lage, einigermaßen sinnvoll an der Diskussion teilzunehmen. Ich ziehe mich zurück und schlage vor, daß wir morgen früh unser Gespräch fortsetzen.
Einstein: Gute Idee. Schlafen Sie gut in meinem Sommerhäuschen. Ich finde es wunderbar ruhig hier draußen – ganz wie in den dreißiger Jahren. Also bis morgen früh, meine Herren.


Damit war die Dreierrunde aufgehoben. Auch Einstein und Newton zogen sich in ihre Räume zurück.