Wenn ich in den Grübeleien eines langen Lebens etwas gelernt habe, so ist es
dies, daß wir von einer tiefen Einsicht in die elementaren Vorgänge viel weiter
entfernt sind als die meisten Zeitgenossen glauben.

Albert Einstein

Im Restaurant saßen die drei Physiker bei einem Glas Berliner Weiße, einem trüben, etwas säuerlich schmeckenden Bier, das Einstein bestellt hatte, Newton aber sichtlich nicht besonders mundete, und warteten auf das Essen.


Newton brachte die Diskussion wieder auf das Fach: »Das ist schon frappierend – Masse erzeugt ein Gravitationsfeld um sich herum, und die elektrische Ladung erzeugt ein elektrisches Feld. Aber was ist eigentlich Ladung, was ist Masse? Mr. Haller, Sie haben vorhin schon gesagt, daß die Ladung in der Natur nur in ganz bestimmten Einheiten vorkommt, in Vielfachen der elektrischen Elementarladung. Manche Teilchen besitzen eine Ladung, andere, wie etwa das Neutron, haben keine Ladung. Atomkerne können recht große Ladungen besitzen, etwa der Kern des Urans,
dessen Ladung +92 beträgt. Jedem Objekt kann man also seine Ladung zuordnen, gut und schön, nur hat das nach meiner Einschätzung mehr mit der Arbeit eines Buchhalters zu tun als mit der eines Naturforschers. Was die Ladung genauer ist, versteht man damit auch nicht, ganz zu schweigen von der Tatsache, daß die Ladung immer in diesen seltsamen elementaren Einheiten vorkommt. Ich frage Sie, was die Ladung ist, und Sie antworten, die elektrische Ladung sei eins, oder zwei, oder auch null – das ist doch keine Physik.«


Haller: Hm, das mit dem Buchhalter will ich überhört haben, aber in einer Hinsicht haben Sie recht. Unser derzeitiges Verständnis der elektrischen Ladung ist nicht befriedigend. Wir werden jedoch später darauf zurückkommen, und vielleicht kann ich dann eine Lösung anbieten, die Ihrer Kritik standhält.


Einstein: Auch ich denke, daß diese buchhalterische Zuordnung der Ladung ohne tieferes Verständnis letztendlich nicht der wahre Jakob sein wird, aber ich kann damit zunächst einmal leben. Schließlich können wir nicht alles auf einen Schlag verstehen. Newton: Gut, so sei es denn. Aber jetzt zur Masse. Das Elektron hat also eine Masse von 0,511 MeV, die des Protons ist 1836 mal größer als die Elektronmasse. Mithin ist also das Gravitationsfeld um ein Proton 1836mal stärker als jenes um ein Elektron. Man beachte dieses Verhältnis – und ich möchte daran erinnern, daß das elektrische Feld um ein Proton und dasjenige um ein Elektron die gleiche Stärke besitzen. Gibt es eigentlich Teilchen, die noch eine größere Masse als das Proton besitzen – ich meine, richtige Teilchen, keine Teilchenpakete wie die Atomkerne?


Haller: Und ob – aber das läßt sich nicht in zwei Sätzen sagen.


Einstein: Macht nichts. Schießen Sie los. Was sind denn die schwersten Elementarteilchen, die man bis heute gefunden hat?


Haller: Im Grunde führt uns dies auf das Jahr 1896 zurück. In diesem Jahr fand, wie Sie wissen, der französische Physiker Henri Becquerel, daß der Atomkern von Uran nicht stabil ist, sondern im Laufe der Zeit zerfällt, wobei andere Atomkerne entstehen. Einstein: Aha, das ist die Radioaktivität. Aber was hat denn das mit den Massen von Teilchen zu tun?


Haller: In den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts kam den Physikern die Ahnung, daß die schwache Wechselwirkung in den Atomkernen, die man für die radioaktiven Prozesse verantwortlich machte, eine neue fundamentale Naturkraft ist, die durch neue, schwere Teilchen vermittelt wird. Manche Physiker vermuteten sogar, daß diese neue Kraft auch etwas mit der elektrischen Wechselwirkung zu tun hat. Da die beobachteten Manifestationen der schwachen Wechselwirkung viel schwächer als die der elektrischen Kräfte waren, nahm man an, daß die Vermittler der schwachen Wechselwirkung sogar sehr schwer sind — nur dann nämlich
sind die von ihnen vermittelten Effekte sehr klein.


Einstein: Aha, diese neuen Kraftteilchen würden also eine ähnliche Rolle spielen wie meine Photonen, die als Mittler der elektromagnetischen Kraft auftreten.


Newton: Was denn? Diese neuen schweren Teilchen hätten dann auch etwas mit dem Photon zu tun, das masselos ist? Das wäre doch wohl eine seltsame Verwandtschaft.


Haller: Das wäre genau dann nicht so merkwürdig, wenn man einen Grund finden würde, warum das Photon masselos ist, die anderen Teilchen aber nicht. Genau dies hat man aber im Sinn.


Einstein: Machen Sie es nicht so spannend, Haller. Also, was sind das für neue Teilchen?


– In diesem Moment begann der Ober das Essen zu servieren. Für eine Weile war die Diskussion unterbrochen, bis sie schließlich wieder aufflammte.


Haller: Ich will es kurz machen und nur diejenigen Aspekte erwähnen, die für unser Thema von Bedeutung sind. Man entdeckte um 1973 am CERN eine Reihe von auffälligen Eigenschaften der schwachen Kräfte, die den Schluß zuließen, daß man es mit indirekten Manifestationen von genau drei verschiedenen Teilchen zu tun hat, die man als W+, W- und Z bezeichnete. Die W-Teilchen stellen dabei ein Teilchen-Antiteilchen-Paar dar; das W- ist also das Antiteilchen zum W+ und umgekehrt. Wie der Index schon sagt, sind diese Objekte elektrisch geladen. Das Z-Teilchen ist elektrisch neutral, wie das Photon auch.


Einstein: Kann man sagen, daß das Z eine Art »schwerer Bruder« des Photons ist?


Haller: Durchaus. Es vermittelt eine Kraft zwischen den Teilchen, die ähnlich der elektrischen Kraft ist, nur eben viel schwächer – eine Folge der großen Masse dieses Teilchens.


Newton: Wieso hat denn die Masse eines Teilchens mit der Stärke einer Kraft zu tun?


Haller: Nehmen wir einmal an, das Photon hätte ein Masse. Nach den Gesetzen der Quantenphysik, auf die ich hier nicht weiter eingehen möchte, würde dies bedeuten, daß die elektrische Kraft bei sehr kleinen Distanzen sich genau so verhält wie im Normalfall, also im Fall der Masse null für das Photon. Die elektrische Kraft kommt ja durch den Austausch von Photonen zwischen den elektrisch geladenen Objekten zustande – sie pendeln gewissermaßen zwischen den geladenen Teilchen hin und her und vermitteln dabei eine Kraft. Bei großen Abständen zwischen den Teilchen spielt jedoch die Masse eine Rolle. Ist eine Masse vorhanden, dann wird der Teilchenaustausch erschwert, und die Kraft wird sehr schnell sehr schwach.


Newton: Ich verstehe – die Tatsache, daß die elektromagnetische Kraft über große Distanzen hinweg wirksam werden kann, ist also eine Konsequenz der Masselosigkeit des Photons.


Haller: Genau. Hätten die Photonen eine, wenn auch nur sehr kleine Masse, dann sähe unsere Welt ganz anders aus. Jedenfalls gäbe es dann keine elektromagnetischen Kraftwirkungen über große Entfernungen hinweg, also auch keine Elektromotoren oder Radiosender.


Einstein: Ich entnehme Ihren Worten, daß die Kräfte, die durch die W- und Z-Teilchen vermittelt werden, also die schwachen Abb. 4-1 Kraftwirkungen werden durch vermittelnde Kraftteilchen übertragen. So kommt die elektrische Abstoßung zwischen zwei Elektronen durch den Austausch eines Photons (Gammaquant) zustande. Da die Photonen keine Masse besitzen, wirkt die elektrische Kraft auch über große Abstände. Die durch das Z-Boson übertragene Kraft wirkt jedoch nur auf sehr kleinen Distanzen, da dieses Kraftteilchen eine große Masse besitzt. Naturkräfte, im Grunde etwa so stark sind wie die elektrischen Kräfte, dies aber nur bei sehr kleinen Distanzen. Bei großen Distanzen werden sie sehr schnell sehr schwach, und dies ist der Grund für die beobachtete Tatsache, daß die schwachen Wechselwirkungen eben schwach sind.


Haller: Genau dies war die Idee. Aus der Beobachtung der Stärke der schwachen Kraft kann man dann etwas über die Masse aussagen. Sie muß in der Tat groß sein, nämlich von der Größenordnung von 100 GeV, also etwa 100mal so groß wie die Protonenmasse.


Newton: Wirklich? Das wäre ja etwa 200.000mal soviel wie die Masse eines Elektrons – was für eine gigantische Masse! Und Sie glauben, solche Teilchenmonster gibt es wirklich?


Haller: Um zu prüfen, ob die W- und Z-Objekte wirklich existieren, hat man um 1980 am CERN einen speziellen Beschleuniger gebaut, der in der Lage war, diese Teilchen zu erzeugen, und zwar in Kollisionen von Protonen und Antiprotonen bei hoher Energie.


Newton: Also, infolge von Einsteins Beziehung E = mc2 hat sich die Energie der kollidierenden Teilchen in die Masse eines der neuen schweren Teilchen umgewandelt?


Haller: Nicht ganz – nur ein Teil der Energie hat sich auf diese Weise umgewandelt. Als man das Experiment durchführte, entdeckte man kurz hintereinander sowohl die W- als auch das Z-Teilchen. Die W-Teilchen besaßen eine Masse von etwa 80 GeV, das Z-Teilchen eine Masse von etwa 90 GeV. Heute kennt man die Massen recht genau: Die W-Masse ist 80,2 GeV, die Z-Masse 91,2 GeV.


Einstein: Das muß ich erst mal in Ruhe verdauen. Teilchen mit Massen von fast 100 GeV. Kaum vorstellbar!


Haller: Natürlich existieren diese Teilchen nicht als stabile Objekte. Sie werden bei den Kollisionen erzeugt, und unmittelbar nach ihrer Erzeugung zerfallen sie bereits wieder. Um die Zerfälle des Z-Teilchens näher zu studieren, hat man am CERN um 1990 einen Beschleuniger fertiggestellt, der in der Lage ist, die Z-Teilchen in großen Mengen zu erzeugen, und zwar mit Hilfe kollidierender Elektronen und Positronen.

Abb. 4-2 Der Beschleuniger LEP im Genfer Becken. Der ringförmige Beschleuniger befindet sich unter der Erdoberfläche in einem Tunnel. (Foto CERN)


Abb. 4-3 Schematisches Bild einer Teilchenkollision am LEP. Elektron (Materie) und Positron (Antimaterie) prallen frontal aufeinander und zerstrahlen. Bei einer solchen Reaktion kann ein Z-Teilchen erzeugt werden, das kurz nach der Erzeugung wieder zerfällt. (Graphik CERN)


Abb. 4-4 Der Tunnel von LEP, der einen Umfang von 27 km besitzt (Foto CERN)


Newton: Ein Elektron und ein Positron fliegen also gegeneinander und erzeugen ein Z? Wenn ich Einsteins Relation benutze, dann müßten das Elektron und das Positron jeweils die Energie der halben Z-Masse besitzen, also etwa 45,6 GeV.


Haller: Das tun sie auch. Die Maschine LEP – die Abkürzung steht für »Large Electron Positron Collider« – ist ein großer ringförmiger Beschleuniger, der in der Lage ist, Elektronen und Positronen gegeneinander auf hohe Energien zu beschleunigen. Im Tunnel des LEP, tief unter der Erde, rasen die Elektronen und Positronen – beide fast lichtschnell – frontal aufeinander zu. Die Bahnen sind so berechnet, daß die beiden Teilchenarten in den tief unter der Erdoberfläche liegenden Experimentierhallen zur Kollision kommen. Materie und Antimaterie vernichten sich, und es entsteht, wie Phönix aus der Asche, ein Z-Teilchen. Auf diese Weise hat man bisher einige Millionen von Z-Teilchen erzeugt.


Einstein: Alle Achtung! Elektron und Positron treffen sich in einem winzigen Punkt im Raum, und daraus wird ein Z mit solch einer gigantischen Masse. Welch eine riesige Energiedichte muß da vorhanden sein – ein regelrechtes kosmisches Inferno, allerdings auf kleinstem Raum.


Haller: Sie haben völlig recht – noch nie wurden auf kleinstem Raum solche Energiedichten erzeugt wie bei den LEP-Kollisionen. In einem Raumgebiet etwa von der Größe eines Tausendstel eines Atomkerns erzeugt man Verhältnisse, wie sie bei der Entstehung des Kosmos geherrscht haben, kurz nach dem Urknall.


Newton: Also genug jetzt, Mr. Haller. Sie behaupten ernsthaft, daß die Welt in einem Knall entstanden sei, so wie ein Z am CERN in einem kleinen kosmischen Knall gemacht wird? Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein – schließlich existiert die Welt so wie Zeit und Raum schon immer und ewig. Lesen Sie meine »Principia«!


Haller: Pardon, Sir Isaac, ich verstehe Ihren Einwand, aber wir werden später sehen, daß die Möglichkeit einer Entstehung der Welt in einer gigantischen kosmischen Explosion durchaus ins Kalkül gezogen werden sollte. Zumindest ist dies eine der Schlußfolgerungen, die man aus Einsteins Theorie der Gravitation ziehen kann, wie wir später sehen werden.


Abb. 4-5 Der Detektor Aleph am CERN, einer der vier großen Teilchendetektoren, mit deren Hilfe man die Zerfälle des Z-Teilchens untersucht. – Zweiter von links: Nobelpreisträger Jack Steinberger (Foto CERN)


Einstein: Mir geht diese Diskussion jetzt entschieden zu weit. Meine Theorie ist eine Theorie der Schwerkraft, keine Theorie der Weltentstehung. Wenn sie dazu etwas beizutragen weiß, dann nur nebenbei, und auch das nur mit einem gewissen Fragezeichen. Ich schlage vor, wir unterbrechen jetzt für das Dessert, und kein Wort mehr zur kosmischen Physik, bis wir wieder zu Hause sind.


– Im nahegelegenen Wald unternahmen die drei Physiker noch einen längeren Spaziergang, bei dem sich Newton recht schweigsam hinter Einstein und Haller hielt. Einstein gab Anekdoten aus seiner Berliner Zeit zum besten – ein, wie es schien, fast unerschöpfliches Thema. Schließlich, gegen drei Uhr nachmittags, kamen sie wieder in Einsteins Haus in Caputh an, wo sie von der Haushälterin, die alles für die Teestunde hergerichtet hatte, schon erwartet wurden.


Newton: Also zurück zur Masse. In den Kollisionen am LEP wird also dieses Monstrum, das Z-Teilchen, zur Welt gebracht. Was passiert aber dann? Wie lange lebt dann dieses Ding?


Haller: Nun – lange hält es das Z nicht auf dieser Welt aus. Es zerfällt praktisch sofort.


Einstein: Im Grunde kann ja dieses Objekt genauso zerfallen, wie es erzeugt wurde, also in ein Elektron und in ein Positron.


Haller: Dies macht es auch. Manchmal zerfällt das Z in der Tat in ein Elektron und ein Positron, aber eben nur manchmal, nicht einmal besonders häufig. Es kann auch in andere Teilchen zerfallen, zum Beispiel in ein Myon und sein Antiteilchen.


Newton: Aha – die Myonen, waren das nicht jene merkwürdigen Elementarteilchen, die auch instabil sind und die man zum Nachweis der Zeitdilatation – eine der Folgen von Einsteins Spezieller Relativitätstheorie – benutzt hat?


Haller: Ganz recht. Die Myonen sind schwere Brüder der Elektronen. Was das Z-Teilchen betrifft, so werden sie im Zerfall genauso oft erzeugt wie die Elektronen. Die Tatsache, daß die Myonen etwa 200mal so schwer sind wie die Elektronen, spielt da keine Rolle. Aber das Z-Teilchen kann auch noch anders zerfallen, zum Beispiel in Protonen und deren Antiteilchen samt einer Reihe von


Abb. 4-6 Computergraphik eines Querschnitts durch den Detektor Aleph. Die nachgewiesenen Teilchenbahnen gehen von der Mitte des Detektors aus, dem Ort des zerfallenden Z-Teilchens. Es zerfällt in eine Reihe von Teilchen, wobei die Summe der Energien der Teilchen genau der Masse des Z entspricht. (Mit Erlaubnis von CERN) sogenannten Mesonen, etwa den ʌ-Mesonen. Bei solchen Zerfällenkönnen Dutzende von Teilchen erzeugt werden.


Einstein: Wie schnell geht dieser Zerfall vor sich? Wie lange lebt also das Z?


Haller: Von lange kann keine Rede sein. Es lebt nicht einmal so lange wie ein Myon, dessen Lebensdauer immerhin in der Größenordnung von einer Millionstel Sekunde liegt. Das Z lebt gerade so lange, wie ein Lichtstrahl braucht, um einen Atomkern zu durchqueren – ein Billionstel eines Billionstels einer einzigen Sekunde.


Newton: Und so was nennt man heutzutage ein Teilchen? Das ist ja nicht einmal mehr das Phantom eines Teilchens – fast ein glattes Nichts.


Haller: Das sehe ich doch etwas anders. Solche kurzen Zeiten sind für die moderne Teilchenphysik nichts Ungewöhnliches. Es ist auch nicht besonders schwierig, solche Lebensdauern zu messen, allerdings nur indirekt.


Einstein: Schon gut – lassen wir das. Ich möchte lieber kurz zur Gravitation zurückkehren. Das Z-Teilchen ist ja ansehnlich schwer. In dem Moment, in dem es am CERN produziert wird, kommt auch die Gravitation zum Tragen – es wird ein Gravitationsfeld um das Z-Teilchen aufgebaut. Allerdings eben nur für eine kurze Zeit, dann bricht es auch schon wieder zusammen, da das Z zerfällt.


Newton: Ein Gravitationsfeld, das entsteht und gleich wieder verschwindet – welch merkwürdiges Gebilde. Also in meiner Gravitationstheorie gibt es so etwas zumindest nicht – entweder das Feld ist da, oder es ist nicht da. Tertium non datur.


Haller: Kein Wunder, in Ihrer Mechanik war es ja auch gang und gäbe, daß sich Wirkungen in wundersamer Weise sofort über den ganzen Raum ausbreiten. Einsteins wichtige Erkenntnis war, daß es schneller als mit Lichtgeschwindigkeit nicht geht. Jedes Signal im Universum, sei es ein Lichtblitz oder was auch immer, breitet sich mit einer Geschwindigkeit aus, die in jedem Fall nicht schneller als die Lichtgeschwindigkeit ist, also 300.000 Kilometer pro Sekunde. Schneller läuft nichts. Nehmen wir einmal an, daß jemand in der Lage wäre, den Mond plötzlich verschwinden zu lassen.


Newton: Gut – dann verschwindet er, und damit sein Gravitationsfeld. Moment – Sie meinen, daß das Feld nicht so ohne weiteres verschwinden kann?


Haller: Sicher nicht. Eine Sekunde braucht das Licht, um vom Mond hierher zu uns zu gelangen. Es ist kein großes Problem, die Wirkung der Gravitation des Mondes auf der Erde nachzuweisen. Nehmen wir an, der Mond verschwindet heute genau um Mitternacht.


Newton: Ich verstehe. Genau um Mitternacht wird es das Gravitationsfeld des Mondes hier auf der Erde noch geben, auch noch kurz danach. Erst genau eine Sekunde nach Mitternacht wird es verschwunden sein.


Haller: Das Gravitationsfeld des Mondes wird nicht urplötzlich im gesamten Raum verschwinden können. Es wird nach und nach abgebaut, mit Lichtgeschwindigkeit. Für einen Newton, der das Trägheitsprinzip der Mechanik erkannt hat, dürfte dies nichts Ungewöhnliches sein. Der Abbau geschieht übrigens in Gestalt einer gravitativen Schockwelle, die sich kugelförmig vom ehemaligen Standort des Mondes mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet, ganz ähnlich einer Welle, die erzeugt wird, wenn man einen Stein in einen Teich wirft. Nach acht Minuten erreicht diese Schockwelle die Sonne, nach etwas mehr als fünf Stunden den Planeten Pluto am Rand unseres Sonnensystems.


Einstein: Als ich meine Spezielle Relativitätstheorie entwickelte, war mir klar, daß das Gravitationsfeld sich nicht qualitativ anders verhalten kann als etwa das elektrische Feld. Es ist eben auch ein Feld, was ja bedeutet, daß eine Gravitationswirkung, die wir irgendwo messen, eine Eigenschaft desjenigen Raumgebietes ist, wo wir sie messen – es ist eine lokale Angelegenheit. Die Sonne zieht die Erde an, weil die Sonne in der Umgebung der Erde den Raum verändert hat, also ein Feld aufgebaut hat, nicht weil sie auf eine große Distanz hin auf die Erde einwirkt – das kann sie gar nicht.
Die Erde bewegt sich in dem gravitativen Kraftfeld der Sonne, aber dieses Kraftfeld hat eine Eigenständigkeit. Es ist primär eine Eigenschaft des Raumes, in dem sich die Erde bewegt, auch wenn es letztlich ein Anhängsel der Sonne ist. Man kann es nicht plötzlich abschalten, sondern eben nur »relativ langsam«, mit Lichtgeschwindigkeit. Bei dem Z-Teilchen, über das wir vorhin sprachen, ist es ganz ähnlich. Im Moment seiner Erzeugung wird ein Gravitationsfeld aufgebaut, das allerdings kurz danach, beim Zerfall, wieder in sich zusammenbricht.


Newton: Weit kommt diese Gravitationswirkung allerdings nicht – mit Mühe erreicht es die Größe eines Atomkerns.


Einstein: Das macht nichts, es kommt mir jetzt nur auf das Prinzip an. Den Mond können wir ja nicht so plötzlich verschwinden lassen oder neu erzeugen. Mit einem Z-Teilchen geht das jedoch. Als ich meine Theorie entwickelte, hier in Berlin, wußte ich nichts von all diesen merkwürdigen Elementarteilchen. Unsere Diskussion über das Z hat mich jedoch nachdenklich gemacht, und zwar bezüglich des Begriffs der Masse. Hier haben wir ein so schweres Objekt, hundertmal so schwer wie ein Proton – ein wahres Monstrum an Masse, Masse pur sozusagen. Das wäre doch die Gelegenheit. Kann man das Z nicht einmal näher untersuchen, um herauszufinden, was das eigentlich ist, Masse? Masse, das wissen wir bereits, ist die Quelle der Gravitation. Damit wissen wir, daß Masse etwas bewirkt, aber wir wissen noch nicht, was sie wirklich ist. Wie kommt sie zustande? Was gibt dem Z seine exorbitante Masse?


Haller: Um es gleich vorwegzunehmen: Ich wollte, ich könnte Ihre Frage beantworten, aber es geht nicht. Wir wissen bis heute nicht, was Masse wirklich ist. Das Ganze wird noch mysteriöser, wenn man bedenkt, daß das Z-Teilchen nicht das schwerste elementare Objekt ist, das man bislang entdeckt hat. Wie schon erwähnt, sind die Atomkernteilchen nicht elementare, also strukturlose Teilchen, sondern sie bestehen aus den Quarks, noch kleineren Strukturen. Allerdings lassen sich letztere nicht mehr als freie Teilchen beobachten, weil die Kräfte zwischen Quarks so groß sind, daß sie sich nicht von anderen Quarks isoliert darstellen lassen. Im Innern des Nukleons kann man sie jedoch ohne Probleme beobachten. Die Quarks besitzen auch eine Masse – in dieser Beziehung verhalten sie sich wie ganz normale Teilchen.


Abb. 4-7 Luftbild des Fermi National Accelerator Laboratory westlich von Chicago. Der deutlich sichtbare Ring ist das Tevatron, der zur Zeit stärkste Beschleuniger der Welt. (Foto FNAL)


Die Quarks, aus denen die normale Kernmaterie besteht, haben eine kleine Masse, die man für viele Belange überhaupt vernachlässigen kann. Es gibt jedoch auch exotische Quarks, die eine größere Masse besitzen. Das schwerste Quark, das t-Quark, hat man im Jahre 1994 entdeckt, und zwar in den Kollisionen von Protonen und Antiprotonen am Fermi-Laboratorium bei Chicago. Dort ist man in der Lage, Protonen und Antiprotonen mit einer Energie von insgesamt 1.000 GeV zur frontalen Kollision zu bringen. Manchmal, wenn auch recht selten, passiert es, daß dabei ein t-Quark und das entsprechende Antiquark erzeugt werden.


Newton: Wie groß ist denn nun die Masse des t-Quarks?


Haller: Wie schon gesagt – es handelt sich um das schwerste Objekt, das man bislang gefunden hat. Seine Masse ist etwa 180 GeV, doppelt so groß wie die Z-Masse – eine enorme Masse, die die Physiker vor ein Rätsel stellt. Während man bei den Z- und W- Bosonen bereits vor der experimentellen Entdeckung ungefähr die Masse abschätzen konnte, war dies beim t-Quark nicht möglich. Zwar wußte man bereits vor der Entdeckung, daß das t-Quark existieren würde, aber alle Schätzungen hinsichtlich der Masse lagen im Bereich zwischen 15 und 50 GeV, also arg daneben.


Einstein: Ich nehme an, daß das t-Quark ebenso wie das Z-Boson instabil ist, also sofort nach seiner Erzeugung wieder in andere Teilchen zerfällt?


Haller: Seine Lebensdauer ist etwas, aber nicht viel weniger als die Lebensdauer der Z- und W-Bosonen.


Einstein: Ist es nicht erstaunlich, daß die Masse des t-Quarks doppelt so groß wie die Z-Masse ist? Das könnte doch ein Hinweis sein, daß es da irgendwelche Zusammenhänge gibt. Dieses ganze System der Superschweren Teilchen, also W, Z und t, könnte der


Abb. 4-8 Der Detektor, mit dessen Hilfe das t-Quark entdeckt wurde.
(Foto FNAL)


Abb. 4-9 Das Schema der Erzeugung eines t-Quarks und eines Anti-t-Quarks in der Proton-Antiproton-Kollision. Das t-Quark zerfällt unmittelbar nach seiner Erzeugung in ein weiteres Quark, genannt b, und ein W-Teilchen.


gordische Knoten des Massenproblems sein. Man brauchte ihn nur aufzulösen, aber wie? Hat man da eine Ahnung? So genau will ich es ja gar nicht wissen. Mir reicht es schon, wenn ich ungefähr eine Idee bekomme.


Haller: Sie machen es mir nicht leicht. Also – wir verstehen es bis heute nicht. Ich wäre schon froh, wenn ich auch nur eine leise Ahnung hätte, warum etwa das Massenverhältnis von Z-Masse und t-Masse etwa 2 ist. Trotzdem denken wir, daß die Forschung heute auf dem richtigen Weg ist, um das Problem der Masse zu lösen. Aber es ist kein leichter Weg, und man braucht hierzu den Einsatz großer und leider auch teurer Beschleuniger.
Eine interessante Idee zur Lösung des Massenproblems ist die Hypothese, daß Masse etwas mit der Struktur des Vakuums zu tun hat. Ein elektrisches Feld beispielsweise beeinflußt ja das Vakuum, also den leeren Raum, gerade so, daß in dem betrachteten Raumpunkt eine elektrische Kraft wirkt. Die Größe dieser Kraft, also die elektrische Feldstärke, kann man leicht messen. Analog denkt man sich, daß die Masse eines Teilchens, etwa die Elektronmasse, auch eine Eigenschaft des Vakuums darstellt, das durch ein spezielles Feld beschrieben wird.


Newton: Würde das heißen, daß der ansonsten leere Raum gewissermaßen angefüllt ist durch ein Feld, dessen einzige Aufgabe es wäre, dem Elektron oder von mir aus dem t-Quark zu sagen, welche Masse es haben soll?


Haller: Ja, so könnte man es nennen. Nur wäre dieses Feld nicht nur für die Elektronmasse verantwortlich, sondern auch für die Z-Masse, die W-Masse und die Massen der anderen elementaren Teilchen. Aber das ist eine längere Geschichte. Lassen Sie mich einen Vorschlag machen: Der Zweck meines Aufenthalts hier in Berlin ist unter anderem, einen Vortrag an der Humboldt-Universität zu halten, bei dem auch das Massenproblem zur Sprache kommt. Dieser Vortrag findet, wie ich gestern schon andeutete, heute abend statt, und ich möchte vorschlagen, daß Sie mich begleiten. Morgen können wir dann über die Sache weiter diskutieren.


– Am späten Nachmittag nahmen sie von Potsdam aus die S-Bahn zum Bahnhof Zoo. Es war ein schöner Sommerabend, Tausende waren auf dem Kurfürstendamm unterwegs. Einstein genoß sichtlich das Wiedersehen mit der Stadt, in der er die Jahre seiner größten wissenschaftlichen Erfolge verbracht hatte. Die drei Physiker spazierten den Boulevard entlang. In der Höhe der Konstanzer Straße bogen sie nach links ab. Nach kurzer Zeit erreichten sie die Wittelsbacher Straße. Hier an der Kreuzung, in Nr. 13. Hatte Einstein zu Beginn seiner Berliner Zeit in einer kleinen Wohnung gewohnt. Das Haus war im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Mehrere Minuten stand Einstein schweigend da und versuchte, sich an Details zu erinnern, bis


Haller sagte: »Das hier ist also der Ort, an dem die Allgemeine Relativitätstheorie im Jahre 1915 das Licht der Welt erblickte, gewissermaßen das allgemeinrelativistische Analogon zum Haus Kramgasse Nr. 49 in Bern.«


Newton bemerkte, nicht ohne Ironie: »Wäre das Haus nicht im Krieg zerstört worden, wäre hier jetzt wohl auch eine Gedenktafel am Haus zu sehen wie in Bern.«


Einstein erwiderte: »Wenn Sie wollen, können wir es so ausdrücken, und was die Gedenktafel anbelangt, da bin ich ja gerade noch einmal davongekommen. Allerdings war, wie Sie wissen, die Entstehung meiner Theorie eine schwere Zangengeburt, die sich über mehrere Jahre hinzog, und auf dem Wege dahin gab es auch noch einige Fehlgeburten. Von einer plötzlichen Erleuchtung kann


Abb. 4-10 Eingang zur Humboldt-Universität in Berlin, in der Einstein während seiner Berliner Zeit seine Vorlesungen hielt. (Foto Humboldt-Universität)


also keine Rede sein. Aber kommen Sie – es gibt nicht mehr viel, was mich mit dieser Straße hier verbindet. Ich schlage vor, wir genehmigen uns im Cafe Kranzler einen kleinen Imbiß, bevor wir uns zu Hallers Vortrag aufmachen.«


– Eine Stunde später sah man Einstein in Begleitung seiner beiden Freunde schnellen Schrittes den Tiergarten in Richtung Brandenburger Tor durchqueren. Am Pariser Platz erreichten sie die alte Prachtstraße von Berlin »Unter den Linden«, und in wenigen Minuten gelangte die kleine Gruppe zum Eingang der Humboldt-Universität. Hier hatte Einstein während seiner Berliner Zeit Vorlesungen abgehalten. In den 20er Jahren gehörten diese Vorlesungen zu den Attraktionen der Weltstadt Berlin. Auch die ersten Vorträge über seine Theorie der Gravitation hatten in den Räumen der Humboldt-Universität stattgefunden. Einstein kannte sich in dem großen Gebäude gut aus, und so führte er seine Begleiter zum Hörsaal im ersten Stock, in dem Hallers Vortrag stattfinden sollte.