2023/03: Wokeness und Cancel Culture: Was hinter dem Kampf um Worte steckt Sprache beschreibt nicht nur Realität. Sprache schafft auch Realität. Sie verfestigt Denkmuster, gibt Klischees weiter, schafft Grundlagen für Machtverhältnisse.
- Sonntagsblatt: Wokeness und Cancel Culture
Wokeness und Cancel Culture – beide Begriffe stammen ursprünglich aus dem US-Kontext. Beide hören wir aber immer öfter auch in Deutschland. Oliver Marquart erklärt, was eigentlich dahintersteckt.
Wokeness und Cancel Culture. Wer sich auch nur einen Funken für Politik und gesellschaftliche Debatten interessiert, ist an diesen beiden Begriffen in letzter Zeit sicher nicht vorbeigekommen. Doch was bedeuten sie eigentlich?
Das fragen sich vermutlich viele. Gelegentlich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch (oder gerade) diejenigen, die diese Begriffe ständig verwenden, sie eigentlich nicht begriffen haben. So konnte man der FDP-Politikerin Katja Adler kürzlich minutenlang zuschauen, wie sie im Gespräch mit dem Journalisten Tilo Jung versuchte, „woke“ zu definieren und grandios dabei scheiterte – nachdem sie zuvor Wokeness zu einem sehr schlimmen Problem erklärt hatte.
1. Was ist woke?
„Woke“ ist englisch und bedeutet übersetzt etwa „aufgewacht“ oder „aufgeweckt“. Die wörtliche Übersetzung hilft nicht so richtig weiter, denn am ehesten ließe es sich mit dem deutschen Wort „achtsam“ wiedergeben. Achtsam für Rassismus, für Sexismus, für die Privilegien bestimmter gesellschaftlicher Gruppen (Weiße, Männer, Heteros, Nicht-Behinderte usw.).
Der Begriff ist keineswegs neu, sondern stammt in dieser Verwendungsform aus den 1960er Jahren. Entstanden ist er im Sprachgebrauch von Afro-Amerikaner*innen, die damit ein waches Bewusstsein für Rassismus bezeichneten. „Stay woke“ war die Parole. Holzauge, sei wachsam.
2014 populär geworden
Ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gelingt „woke“ viel später. 2014 machen Black Lives Matter (BLM)-Aktivist*innen den Begriff populär, die das Bewusstsein für die Erschießungen von Afroamerikaner*innen schärfen wollen. Durch ihre Verwendung auf Twitter wird er zu einem Internet-Meme. So fangen nun auch weiße Amerikaner*innen an, ihn zu benutzen. Damals noch vorrangig, um ihre Unterstützung für BLM zu signalisieren.
2017 schafft „woke“ es dann ins Oxford English Dictionary. „Sich sozialer und politischer Themen, insbesondere Rassismus, bewusst sein“ lautet die dortige Definition. In Deutschland kennt den Begriff kaum jemand, geschweige denn, dass er häufige Verwendung finden würde.
Das geschieht erst, nachdem US-Konservative und Rechtsradikale ihn sich aneignen. Sie interpretieren das Benennen und Bekämpfen von Rassismus, Sexismus oder Homophobie als „unamerikanisch“, schlimmer noch, als „sozialistisch“, kurzum, als feindseligen Akt. Es findet ein Backlash statt: Konservative und Ultrarechte machen sich den Begriff zu eigen – und deuten ihn dabei um: Er wird zu einer negativen Projektionsfläche für alles, was sie an progressiven und emanzipatorischen Ideen ablehnen.
Seit 2021 steht „woke“ im Duden
Und in dieser verfremdeten Form gelangt er schließlich in die deutsche Debatte. Die „Bild“-Zeitung spielt dabei eine wichtige Rolle, aber auch andere Akteure greifen die hierzulande vor allem durch den abgewählten Ex-US-Präsidenten Trump bekannt gemachte neue Vokabel eifrig auf, meist als Synonym für ein vermeintlich übertriebenes Bewusstsein für Diskriminierungen.
2021 schafft „woke“ es in den Duden. Dort wird es als „in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung“ definiert. Die Verwendungsbeispiele künden allerdings schon vom Kulturkampf, der sich an dem Begriff entzündet hat: „ein woker, etwas zu selbstgefälliger Zeitgenosse“ etwa.
TLDR: Der Begriff entstammt dem antirassistischen Diskurs in den USA, wurde dort von Konservativen, die mit Rassismus offensichtlich weniger Probleme haben als mit seiner klaren Benennung, umgedeutet und zu einem Kampfbegriff aufgeladen, und dient nun der pauschalen Abwertung von allem, was Konservative und Rechte ablehnen. In letzterer Form fand er auch Eingang in die deutschsprachigen Debatten.
2. Was ist Cancel Culture?
Auch dieser Begriff stammt ursprünglich aus dem Kontext der US-Debatten. Allerdings handelt es sich bei „Cancel Culture“ nicht um eine Umdeutung eines bereits bestehenden Begriffes, sondern eine Neuschöpfung.
Ab 2014 verbreitet sich der stehende Ausdruck „You’re canceled“ (etwa: Du bist gestrichen) auf dem englischsprachigen Twitter. Dort wird er vor allem von Schwarzen und queeren User*innen verwendet, um zum Ausdruck zu bringen, dass sie die Musik einer Person oder ein Produkt nicht mehr konsumieren wollen – der Hintergrund dieses Boykotts waren meistens rassistische, queerfeindliche, sexistische oder andere diskriminierende Aussagen oder Praktiken der jeweiligen Person dahinter.
2016 erstmals verwendet
In der Kombination „Cancel Culture“ findet der Begriff etwa ab 2016 vermehrt Verwendung. Eine der ersten Begebenheiten, im Zusammenhang mit der er angewendet wird, ist der Fall der US-Turnerin Gabby Douglas. Diese behauptet in einem Tweet unter Bezug auf Missbrauchsvorwürfe einer Kollegin gegen ihren ehemaligen Trainer, „sich aufreizend zu kleiden, provoziert die falschen Leute“. Das führt nachvollziehbarerweise zu sehr viel Widerspruch und Kritik an Douglas.
Die US-Autorin Shanita Hubbard erklärt daraufhin (ebenfalls auf Twitter), es handele sich bei der massiven Kritik um „Cancel Culture“. Douglas entschuldigt sich später übrigens für ihren Tweet – und gestand zudem, dass sie selbst von besagtem Trainer missbraucht worden sei.
Der Begriff jedenfalls findet Einzug in die US-Debattenkultur – und wurde fortan von konservativer Seite benutzt, um eine angebliche linke Agenda zu beschreiben, die Personen wegen rassistischer, sexistischer, queerfeindlicher, behindertenfeindlicher oder sonst wie diskriminierender Aussagen „canceln“ möchte.
2019 Eingang in den deutschen Diskurs
2019 schließlich gelangt der Begriff „Cancel Culture“ auch in den deutschen Diskurs. In Artikeln des „Tagesspiegel“ und der „Welt“ wird die Ausladung des AfD-nahen Malers Axel Krause von der Leipziger Jahresausstellung damit bezeichnet.
Heute ist er etabliert – und keineswegs nur unter Rechten. Ob Sahra Wagenknecht oder Boris Palmer, Lisa Eckhart oder Dieter Nuhr – sie alle wurden angeblich schon gecancelt. Geschadet hat es ihrem jeweiligen Erfolg aber offenbar nicht. Eher sogar im Gegenteil.
Es vergeht auch kaum ein Tag, an dem nicht im Feuilleton einer großen Tages- oder Wochenzeitung oder in einem neuen Buch die große Gefahr beschworen wird, die von einer „Cancel Culture“ vermeintlich ausgeht.
Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub hat in seinem Buch „Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst.“ allerdings gezeigt, dass die Berichterstattung über Cancel Culture sich hauptsächlich auf Einzelfälle stützt, die dann systematisch überbewertet werden. Diese Anekdoten werden zudem meist lediglich aus der Perspektive vermeintlicher Opfer erzählt – unter Ausblendung der Gegenseite und des tatsächlichen Kontexts. So wird aus einigen womöglich wirklich, oft aber auch nur vermeintlich bizarren Vorfällen plötzlich ein angebliches Muster, ja, eine Kultur.
Interessant ist auch, dass der Begriff fast ausschließlich gegen vermeintliche oder tatsächliche linke Aktivist*innen ins Feld geführt wird. Die Tatsache beispielsweise, dass US-Republikaner in zahlreichen Staaten Schulbücher gecancelt haben, weil sie ihnen zu kritisch mit Rassismus, Sexismus oder Queerfeindlichkeit (also zu „woke“) waren, wird selten bis gar nicht als „Cancel Culture“ bezeichnet.
TLDR: Die Behauptung, es gäbe so etwas wie eine (linke) Cancel Culture, ist schlecht belegt und stützt sich in den meisten Fällen auf eine bewusste Überbetonung oder einseitige Darstellung von bizarr erscheinenden Vorfällen. Nicht selten ist es eine Taktik, Kritik an rassistischen, sexistischen oder sonstigen diskriminierenden Aussagen oder Taten, abzuwehren und als illegitim darzustellen.
Wokeness und Cancel Culture sind keine unschuldigen Begriffe
Sprache beschreibt nicht nur Realität. Sprache schafft auch Realität. Sie verfestigt Denkmuster, gibt Klischees weiter, schafft Grundlagen für Machtverhältnisse. Es ist daher wichtig, zu verstehen, dass Wokeness und Cancel Culture keine wertneutralen Beschreibungen sind, sondern politische Kampfbegriffe mit einer jeweils problematischen Entstehungsgeschichte.
Beide lassen keinen Raum für Zwischentöne, für Ambivalenz. Beide wollen ganz bewusst polarisieren, zuspitzen und skandalisieren – und sind somit nur schwerlich eine gute Grundlage für fruchtbare Debatten, in denen es um mehr geht als Schwarz-Weiß-Perspektiven und vereinfachende Schlagworte, um „Wir gegen die anderen“.
Natürlich können wir diskutieren, ob die Ausladung einer Sängerin durch Fridays For Future mit der Begründung, Weiße sollten keine Dreadlocks tragen, sinnvoll war oder nicht. Vielleicht kommen wir dann zu dem Schluss, dass die Aktivist*innen in ihrem Eifer weit übers Ziel hinausgeschossen sind und eventuell das Konzept „Kulturelle Aneignung“ falsch verstanden haben. Einfach den Stempel „woke“ draufzuklatschen oder den Vorgang als „Cancel Culture“ abzuurteilen, ist jedoch genau das Gegenteil einer ernsthaften Auseinandersetzung.
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