Beide Seiten der Front: 3. Ostwärts: Nach dem Angriff - 3.3 Patrick Baab's Reise in die Ukraine: "Auf beiden Seiten der Front". 3.3. Iswaryne: Zeitreise in die Gegenwart
3.3. Iswaryne: Zeitreise in die Gegenwart
Wir stehen an der Raststätte an der M-4 bei Schachty und warten auf den Bus. In dem Bemühen, den Behörden von Luhansk ein Schnippchen zu schlagen und trotz erwarteter Widrigkeiten einreisen zu können, hat uns eine gewagte Rochade hierhergeführt. Ein Anruf bei Denis in Moskau: »Kannst du unseren Grenzübertritt erleichtern?« Die Antwort: »Zum Auftakt des Referendums schicken wir ein Team von Wahlbeobachtern rein. Ich denke, da ist noch Platz im Bus!« Also planten wir, per Anhalter nach Luhansk zu gelangen. Zunächst schien es ein guter Deal zu sein. Dumm nur, dass wir später auch als Wahlbeobachter verkauft wurden, von Leuten, die den Donbass kaum mit dem Finger auf der Landkarte finden würden, aber irgendwie in Redaktionen und Universitäten gelandet sind.
An der Raststätte stehen Dutzende Lastwagen, die auf dem Weg vom Kaukasus Richtung Moskau hier eine Pause einlegen. Der Parkplatz ist von Ersatzteil-Märkten gesäumt, auf denen es alles rund um Zugmaschinen und Aufleger, von Zündkerzen über Autolampen bis hin zu Reifen und Auspuffteile, zu kaufen gibt. Davor befinden sich kleine Werkbänke mit Schraubstock, an denen die Fahrer kleinere Reparaturen selbst durchführen können. Über einem Schnellrestaurant steht: »Häusliche Küche«.
Die Autobahn nach Kamensk-Schachtinski im Norden führt schnurgerade durch verblühte Sonnenblumenfelder, schwarze Trauerköpfe neigen sich zum Boden. Dann umgepflügte Kornäcker und schwarze Erde bis zum Horizont. Kolkraben fressen im Straßengraben. Die Felder, die einst dem Volk gehörten, sind jetzt in privater Hand. Verkrüppelte Birken schauen im Sprühregen zu uns herüber. Auf der Gegenseite ist trotz der Sanktionen eine Shell-Tankstelle in Betrieb. Entlang der Autobahn gibt es Stände mit Kartoffeln und Kohl. Der Fahrer eines Sattelschleppers liegt beim Überholen überm Lenkrad und liest die Strecke im Handy ab. Die M-4 ist neu ausgebaut, mancherorts sind schon wieder Erweiterungsarbeiten im Gange. Es gibt neue Eigenheimsiedlungen, frisch erschlossenes Bauland und Gewerbezentren. Hunderte Windräder befinden sich an der Grenze zu Luhansk. Hier erkenne ich, dass Putin das Land wirtschaftlich stabilisiert hat und trotz des Krieges auf Wachstumskurs hält.(101) Nach den elenden 1990er-Jahren, in denen Banditen sich die Unternehmen unter den Nagel gerissen haben, Löhne nicht ausbezahlt wurden und die Menschen Hunger litten, wird nun wieder investiert. Es entstehen Arbeitsplätze, Wohnungen werden gebaut. Politisch zahlen die Russen dafür einen Preis: Es ist die Vertikale der Macht – die autokratische Führung der Silowiki, der ehemaligen Militärs und Geheimdienstler um Putin. (102) Sie wird nur begrenzt durch eine föderale Struktur im Staatsaufbau und persönliche Netzwerke: »Moskau ist nicht Russland«, heißt es überall, und gemeint ist: Hier biegen wir uns das schon so hin, wie wir es brauchen. Über Luhansk schreibt Sándor Radó 1928 in seinem »Führer Sowjetunion«: »Mittelpunkt eines Bezirks mit reichen Steinkohlen- und Anthrazitvorräten … Die Stadt Lugansk ist eines der größten Industrie- und Kulturzentren des Donezbeckens … Von den 45 000 Einwohnern der Stadt sind die meisten Arbeiter, vorherrschend Russen. Lugansk wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegründet. Im Jahr 1797 wurden hier Eisengießereien erbaut, welche die Bedürfnisse der Schwarzmeerflotte und der südlichen Befestigungen befriedigen sollten. Von dem 1896 erfolgten Bau der Lokomotivbau-Werke an nahm die Stadt einen schnellen Aufschwung. Für die heroische Teilnahme der Lugansker Arbeiterschaft am Bürgerkrieg wurde die Stadt mit dem Orden der Roten Fahne belohnt.«(103) Was ist hundert Jahre später daraus geworden?
Sergey erzählt: »In der Sowjetunion fuhren die Leute nach Luhansk, um Wurst zu kaufen, denn als Grenzregion war die Ukraine staatlich immer besser versorgt als das Kernland. Heute ist es umgekehrt! Bis heute ist Gas in der Ukraine billiger als in Russland.« Für ukrainische Oligarchen ist das ein tolles Geschäftsmodell: Über Zwischenhändler haben sie dem eigenen Staatskonzern Naftogaz billiges russisches Gas gegen Aufschlag verkauft. Die Provisionen haben sie reich gemacht. (104) Heute fahren die Leute aus Luhansk nach Rostow zum Einkaufen. Das sehen wir an der Grenze: Familien mit Kindern in bunten Jogginganzügen schleppen in Rollkoffern, Karren und Tragetaschen alles zwischen den wartenden Lkw mit Panzersperren aus Beton oder Raketen hindurch, was es drüben nicht gibt. Sie kommen mit dem Bus zur Grenze, laufen zum Warteplatz, ihre Pässe werden eingesammelt und zum Zollhäuschen gebracht, dann winken Soldaten mit Kalaschnikow und ohne Hoheitsabzeichen die Reisenden in Kleingruppen durch. Wir warten drei Stunden. Dann beginnt die Reise ins Herz des Krieges, der hier im
Donbass begann. Es ist zugleich eine Zeitreise.
Über eine Schlaglochpiste geht es im Kleinbus mit Polizeieskorte weiter. Je maroder die Straße, desto mehr Schilder passieren wir: »Danke, Russland!« – »Unsere Wahl ist unsere Zukunft!« – »Russland für immer!« Am Wegesrand ein zerschossener russischer Panzer, überhäuft mit Blumen. Militärtransporter mit dem Buchstaben »Z« auf dem Kühler kommen uns entgegen. Wir umfahren Wasserlöcher im Beton und sehen Äcker, die nicht mehr bewirtschaftet werden. An einer Straßenecke sind Strohbesen zusammengestellt. Die Soldaten am Checkpoint vor der Stadt Luhansk sind vermummt. Wir schlängeln uns um Panzersperren und an Bunkern aus Betonklötzen vorbei. Dahinter alte Oberleitungsmasten aus der Sowjetzeit, zum Teil ohne Kabel, kein Trolleybus fährt hier mehr. Vorbei an geschlossenen Betrieben mit zerborstenen Scheiben und schiefhängenden Metallzäunen. Frostschäden haben die Straßen aufgerissen. Unrenovierte Wohnblocks mit teilweise abgebrochenen Balkonen, um die herum Schlammwege führen. Grasbewachsene Straßenbahnschienen, auf denen keine Tram mehr fährt.
Luhansk war einst ein Industriegebiet von strategischer Bedeutung. Zusammen mit Donezk bildete es das industrielle Zentrum der Ukraine und zuvor eine zentrale Wirtschaftsregion der UdSSR. Das Gebiet liegt nördlich des Bezirks Donezk, der im Süden ans Asowsche Meer und im Osten an die russische Region Rostow grenzt. Hier sprechen die Menschen russisch, nicht ukrainisch. Während der Zeit der Industrialisierung kamen Menschen aus Ost und West hierher, wo sie schwere, aber einträgliche Arbeit erwartete: in den Bergwerken und im Stahlbau. Luhansk scheint in der Zeit des Zusammenbruchs nach dem Ende der Sowjetunion steckengeblieben zu sein. Seitdem wurde hier kaum noch renoviert, wenig investiert und selten gewartet. Trotz der Kredite des Internationalen Währungsfonds und der EU an die Ukraine befindet sich die Region im Niedergang. Gleichzeitig war es jedoch auch jene Region, in der die Oligarchen aufstiegen.
»Das ist doch eure verfluchte Marktwirtschaft. Wo sind denn die Subventionen der EU? Bei uns hier ist nichts angekommen.« Unser Fahrer wird später erzählen: »In den 1990er-Jahren haben wir hier gehungert. Mein Vater war Bergmann, meine Mutter Hausfrau, wir waren drei Geschwister. Monatelang wurden keine Löhne ausbezahlt. Das war der Kapitalismus, den uns der Westen gebracht hat. Niemand wusste, wann es wieder Geld gab, wann wir etwas zu essen kaufen konnten. Das wurde erst nach dem Jahr 2 000 herum besser.« So haben die Menschen im Donbass die Segnungen des freien Westens und der Marktwirtschaft erlebt: Jahre des Hungers, unrenovierte Wohnungen und leere Lohntüten. Biznesmeny rissen sich Volkseigentum unter den Nagel. Töchter gingen auf den Strich, Söhne wanderten aus. Viele Kohleminen im Donbass wurden geschlossen, Bergarbeiter verloren ihre Arbeit. Viele machten die Regierung in Kiew dafür verantwortlich. In den 1990er-Jahren streikten die Berg- und Stahlarbeiter für höhere Löhne – aber nicht nur. Sie riefen »Weg mit Regierung und Parlament« und forderten mehr regionale Autonomie. Alles Bedrohliche kam aus dem Westen. Wieder
einmal.
Als Bergarbeiter im ostukrainischen Antratsyt im Juni 2020 einen Streik beschlossen, weil ihre Löhne nicht mehr ausbezahlt wurden, griffen die Behörden der selbsternannten Volksrepublik Luhansk hart durch: Sie verhängten eine Quarantäne wegen eines angeblichen Covid-19-Ausbruchs und sperrten das Internet. Der Streik dauerte mehrere Tage an, und einige Bergleute traten sogar in den Hungerstreik. Schließlich wurden die Löhne doch ausbezahlt, aber Dutzende Streikende wurden festgenommen, von denen manche Monate in Haft saßen. Arbeiterrechte werden mit Füßen getreten, und Umweltschäden spielen keine Rolle – dies sind die Ergebnisse jahrzehntelanger Vernachlässigung einstmals blühender Betriebe. 148 Bergwerke gab es vor dem Krieg in der Ukraine, 95 davon in den Separatistengebieten. Von den 35 staatlichen Bergwerken, die von der Regierung in Kiew kontrolliert werden, befanden sich 19 in Abwicklung. Während Städte und Gemeinden verarmen, Straßen und Stromnetze herunterkommen, fehlen weitgehend Ansätze für einen wirtschaftlichen Strukturwandel.
Luhansk und Donezk sind die ältesten Bergbauregionen der Sowjetunion. Die Arbeiter gehörten dank guter Löhne und Sozialleistungen zur Elite des Proletariats. Zwischen 1920 und 1940 wurde die Industrieproduktion um das 19-Fache gesteigert.(105) Heute schreiben fast alle Betriebe rote Zahlen und verschlingen Subventionen. Die Förderanlagen sind veraltet, die Arbeitsbedingungen ineffizient und lebensgefährlich. Als im Osten 2014 der Bürgerkrieg begann, gerieten einige Minen in den beiden Volksrepubliken unter Beschuss. Wasser brach ein, giftige Abfälle gelangten in die Umwelt, auch weitab der Front. Bergwerke mussten stillgelegt werden, weil es an Ausrüstung fehlte, die Wassermassen wieder aus den Stollen herauszupumpen. Dass Löhne nicht ausbezahlt werden, das kennen die Arbeiter auf beiden Seiten der Kontaktlinie seit Jahren nur zu gut. Auf V-Kontakte, dem russischen sozialen Netzwerk, ist das in Chatgruppen immer ein großes Thema. Manchmal wird im Januar darüber debattiert, wie man an die Löhne aus dem vergangenen November herankommen kann. Immer wieder kommt es zu Streiks wegen nicht ausbezahlter Löhne.
In Pokrowsk, einer von der Regierung in Kiew kontrollierten Stadt, errichteten Bergleute Straßensperren und protestierten mehr als ein Jahr lang. Ende 2014
wurden die meisten Minen von prorussischen Rebellen beschlagnahmt. Die Folge waren Stromausfälle, weil Kraftwerken die Kohle ausgingen und sie erst auf Gas und Öl umgerüstet werden mussten. Im Jahr 2017 wurden die Bergbauregionen zusätzlich von der wirtschaftlichen Talfahrt und der Covid-19-Pandemie getroffen, gepaart mit einem milden Winter. Der Absatz von Kohle brach ein, da der Markt für billigere russische Importe geöffnet war. Wegen der ukrainischen Handelssperre gegen die Volksrepubliken konnten die heimischen Minen immer weniger Kohle verkaufen. Aber ohne Gewinne fehlt das Geld, um die einsturzgefährdeten Stollen abzusichern. 2020 drohten dann Stromsperren, weil die Abnehmer gelieferte Kohle nicht zahlten und dann das Geld für die Stromrechnung fehlte. Wenn die elektrischen Ventilatoren ausfallen, sammelt sich explosives Methan in den Stollen, was zu Schlagwetter führt. Wenn die Pumpen stillstehen, laufen die Stollen voll Wasser und können nicht mehr leergepumpt werden.
Lange waren die Städte Perwomajsk und Solote in Luhansk durch die Kontaktlinie getrennt, aber unterirdisch waren sie durch die Stollen miteinander verbunden. Als die beiden Gruben in Perwomajsk von den Separatisten 2018 geflutet wurden, lief auch die Mine in Solote mit Wasser voll. Die Folge waren Grubensenkungen, Schlammlawinen und vergiftete Gewässer. Der Fluss Siwerskyj Donez, das wichtigste Wasserreservoir in der Region, wurde schwer verseucht. Im Jahr 2020 wurden Bemühungen zur Reorganisation der Bergwerke eingeleitet. Die Regierung in Kiew präsentierte einen eigenen Reformplan, der die Stilllegung mehrerer unrentabler Minen vorsah.
Gleichzeitig ist die Ukraine dem Pariser Klimaabkommen beigetreten, das die Reduzierung des CO₂-Ausstoßes fordert. Es ist jedoch unklar, wie dies im Donbass umgesetzt werden soll, da ein solcher Strukturwandel den Verlust von Arbeitsplätzen mit sich bringt, für die es keine entsprechenden Ersatzmöglichkeiten gibt. Stillgelegte Fördertürme und geschlossene Fabriken gibt es schon genug. Der Krieg macht es unmöglich, auch nur eines dieser Probleme zu lösen. Der Niedergang einer Industrienation, der bereits 1991 begonnen hat, beschleunigt sich weiter.(106)
Ein Sattelschlepper kommt uns entgegen und umfährt die Schlaglöcher, eine Staubwolke zieht hinter ihm her. Am Straßenrand steht ein toter Baum, gespalten von einer Granate. Auf einer Bank vor einem heruntergekommenen Wohnblock küssen sich Verliebte. »Die Stromnetze gehören Achmetow«, sagt Sergey, »er hat sie vergammeln lassen.« Es war die Zeit der Oligarchen. Rinat Achmetow besitzt auch das Kohlekraftwerk Luhansk mit seinen sechs Blöcken. Er hält es über die Donbass-Treibsto -Energie- Gesellschaft, eine in den Niederlanden eingetragene Holding, die Teil seiner SCM ist. DTEK gehört fast die Hälfte der ukrainischen Kohleförderung, fast ein Drittel der Stromerzeugung und 40 Prozent des Stromtransports. Sie betreibt das Stromverteilnetz in den Oblasten Kiew, Dnipropetrowsk und Donezk sowie auf der Krim. Zu Achmetows Firmen gehört die Mine Komsomolez Donbassa. Im Vorbeifahren sehen wir die hoch aufragenden Betonklötze mit Schießscharten am Eingang des Ortes. Die Fördertürme ragen in den Himmel.
Rinat Leonidowitisch Achmetow war viele Jahre der Herrscher über den Donbass. Kaum jemand hatte nach der Jahrtausendwende so viel Macht in der Ukraine wie er. Mit einem Vermögen von geschätzten 4,2 Milliarden Dollar war er im Jahr 2022 der reichste Mensch des Landes und wohl auch der einflussreichste Oligarch.(107) Im Jahr 2014 wurde sein Vermögen noch auf etwa 11,6 Milliarden Dollar geschätzt, was ihm den 101. Platz unter den reichsten Menschen weltweit einbrachte.(108) Geboren wurde er 1966 in Donezk als Kind eines Bergmanns und einer Verkäuferin. Er ist tatarischer Abstammung, war zunächst russlandtreu und wendete sich dann Kiew zu. Der ehemalige Profiboxer ist Fußballfan und besitzt den Fußballclub Schachtar Donezk. Doch rein zufällig war er nicht im Stadion, als der berüchtigte Mafiaboss Alik Grek dort 1995 während eines Bandenkriegs in die Luft gesprengt wurde. Als Mitbegründer der Dongor-Bank stieg er in kürzester Zeit an die Spitze der drei größten Finanz-Clans der Ukraine auf. Heute umfasst seine SCM-Gruppe etwa 100 Unternehmen und beschäftigt etwa 300000 Menschen. Bergbau, Stahl, Immobilien, Banken und Energie gehören zu seinen Geschäftsfeldern. Das Geld, das der Milliardär Achmetow verdient, legt er in London, am Genfer See oder in anderen westlichen Steueroasen an.
Jahrelang ermittelte die Anti-Korruptions-Behörde der Ukraine gegen Achmetow wegen Korruptionsvorwürfen. Seine Donbass-Treibsto -Energie-Gesellschaft (DTEK) hatte in einer illegalen Absprache mit staatlichen Regulatoren eine Formel zum Kohlehandel vereinbart, die den ukrainischen Verbraucher um umgerechnet 1,4 Milliarden Dollar geschädigt haben soll. Obwohl die DTEK alle Vorwürfe bestritt, belasteten interne Dokumente Achmetow schwer. Die Ermittlungen wurden im April 2020 eingestellt. Serhij Leschtschenko, Mitglied des Aufsichtsrats der ukrainischen Eisenbahnen, beschrieb, wie Firmen von Achmetow für den Transport von Eisenerz Sonderpreise gewährt wurden, die zweieinhalb Mal niedriger waren als im benachbarten Polen und viereinhalb Mal niedriger als in der Slowakei. So verursachte jeder Eisenerz-Transport der Bahn einen satten Verlust. Dies alles zeigt nur, dass die ukrainischen Oligarchen dem Zugriff der Justiz entzogen sind. Neben Achmetow zählen zu ihnen Ihor Kolomojskyj, Wiktor Pintschuk, Dmitro Firtasch, Serhij Lewotschkin und Ex-Präsident Petro Poroschenko. Sie kontrollieren große Teile der Wirtschaft und besitzen eigene Fernsehsender, die etwa 70 Prozent des Fernsehmarktes abdecken und ihnen Einfluss auf die öffentliche Meinung sichern. Rund 100 Abgeordnete im Parlament vertreten die Interessen von Achmetow, während etwa sieben Abgeordnete im Sinne von Kolomoiskij abstimmen. Auch ein Präsident Selenskyj zeigt keine Ambitionen, das korrupte System aufzubrechen – es reicht ihm aus, politische Konkurrenten auszuschalten.(109) Alle Versuche, dieses System der Korruption aufzulösen, werden von den Oligarchen verhindert.
Angesichts einer ukrainischen Gesellschaft, die auf Über- und Unterordnung beruht und historisch wenig Erfahrung mit Demokratie gemacht hat, besaß Achmetow auch große politische Macht. Allerdings hat er immer auch taktiert: Nach der Orangenen Revolution 2004 sorgte Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko dafür, dass die Privatisierung von Kryworischstal annulliert wurde. Das größte Stahlwerk der Ukraine, das sich im Besitz von Achmetow und Wiktor Pintschuk befand, wurde 2004 in einer Auktion an die Mittal Steel Company für 4,8 Milliarden Dollar verkauft, das Sechsfache des ursprünglichen Verkaufspreises. 2005 wartete Achmetow in Monaco ab, bis er sich mit den neuen Machthabern arrangiert hatte. Ab 2006 war er Rada-Abgeordneter der von Wiktor Janukowytsch geführten »Partei der Regionen« und finanzierte weiter dessen Wahlkämpfe.(110) Über die Jahre hat er den 2014 gestürzten Ex-Präsidenten unterstützt und sich so landesweit Einfluss verschafft. Während des Euro-Maidan wechselte Achmetow jedoch die Seiten und arrangierte sich bald mit den neuen Machthabern in Kiew. Beim Ausbruch der gefährlichen Unruhen 2014 im Zuge des Euro-Maidan in Luhansk und Donezk sprach er sich gegen die Separatisten aus und bezeichnete sie als »Banditen und Marodeure«. Er rief zu einem Warnstreik auf.(111) Nach dem Überfall Russlands erklärte Achmetow am 9. März 2022: »Ich hoffe aufrichtig auf den Sieg der Ukraine. Putin hat jene Länder im Blick, in denen es Freiheit gibt, Demokratie und die unabhängig sind. Alle freien Länder der Welt sind potenzielle Ziele. Wenn ihn die Ukraine nicht aufhält, weiß keiner, wer der Nächste sein wird.«(112) Mit Freiheit meinte er auch seine eigene; die seines Geldes.
Achmetow unterstützt finanziell die ukrainischen Streitkräfte.(113) Das Mediengeschäft gab er 2022 wegen der drohenden Aufnahme in das Oligarchen-Register der Regierung in Kiew auf. Er kündigte an, dass seine Media Group Ukraine alle TV- und Print-Lizenzen dem Staat übertragen werde und die Internetmedien eingestellt würden. Dazu gehören elf Fernsehsender, die Nachrichtenseite Segodnya.ua und der Online- TV-Service OLL.TV. »Ich habe eine unfreiwillige Entscheidung getroffen«, so Achmetow, »als größter privater Investor in die ukrainische Wirtschaft habe ich wiederholt erklärt, dass ich nie ein Oligarch war und auch nie einer sein werde.«(114) Das wirkt wie eine Schutzbehauptung, um Vorwürfen zu entgehen, er plane zusammen mit Moskau einen Putsch. Es scheint, als ob Achmetow niemals »alle Eier in einen Korb legen« will. Vor allem aber hat er ein feines Gespür dafür, woher der Wind weht und was ihm nützt. Da er sein Geld im Westen angelegt hat, kann er es sich nicht leisten, mit Sanktionen belegt zu werden.
Nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 sah es für die Luhansker Diesellokomotivenfabrik nicht gut aus. Das Unternehmen hatte einst 15 000 Beschäftigte und produzierte für die gesamte Sowjetunion. Nun waren die bisherigen Hauptabnehmer im Ausland. Im Oktober 1995 wurde das Werk unter dem Namen Luhanskteplowos (Лугансктепловоз) von Kiew verstaatlicht. 2007 wurden 76 Prozent der Aktien des stark defizitären Unternehmens in einer Auktion von der Maschinenfabrik Brjansk ersteigert, die zur russischen Transmaschholding gehört. Analysten zufolge wurde nur ein geringer Teil des Marktwerts bezahlt. Gegen den Verkauf klagten vergeblich zahlreiche Mitbewerber. Zu dieser Zeit war Wiktor Janukowytsch Ministerpräsident. Er stammte aus Donezk und leitete nach seinem Amtsantritt 2002 viel Geld in den Donbass. Die Lohnabhängigen konnten kurz aufatmen: Sie mussten nicht mehr monatelang auf die Löhne warten. Doch die Luhansker Lokomotivfabrik ging an der Privatisierung zugrunde. Janukowytsch und seine Partei der Regionen, die das Parlament in Kiew dominierte und ein Klientelclub ostukrainischer Oligarchen war, wollten diesen Geschäftsleuten einen Gefallen tun: Sie drängten darauf, billiges Gas von Russland zu bekommen. Die Gegenleistung dafür war wohl der Verkauf von Luganskteplowos an russische Anteilseigner unter Wert.(115) Doch der Deal half dem Werk nicht auf die Beine. Die Produktion war stark rückläufig, es wurde kaum investiert und Stellen wurden gestrichen. Der Bürgerkrieg im Donbass ab 2014 besiegelte dann das Schicksal der Lokomotivfabrik. Viele Maschinen wurden geplündert, und was blieb, sind ein paar hundert Beschäftigte, die Reparaturen erledigen. Der anhaltende Artilleriebeschuss machte die Fertigung unmöglich. Am Ende hatten die Arbeiter das Nachsehen. Viele gingen zur Nnarodnoje Opoltschenije (народное ополчение), zur Volksmiliz. Da wurden Leute gesucht und es gab Sold.
Der Vorgang verdeutlicht: Der angeblich moskauhörige – Janukowytsch hatte seine eigenen Interessen im Sinn – und die von befreundeten Oligarchen im Donbass. Er zeigt auch, welche Wirkung die zunehmende Westorientierung der Ukraine und das seit 2014 vorläufig und ab 2016 regulär angewandte Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union hat: Die höher entwickelten Teile der ukrainischen Industrie, die vor allem nach Russland exportierten, werden zerstört. Insgesamt schrumpfte die Wirtschaft durch das Wegbrechen des russischen Absatzmarktes erheblich. Die Menschen im Osten wussten, was ihnen blüht: Sie verlieren ihre Arbeitsplätze. Was sie loyal zu Russland stehen lässt, ist auch der eigene Überlebensdrang. Denn erst kommt das Fressen, und dann kommt die Ukraine.
Die einhundert reichsten Personen in der Ukraine sollen 2013 über ein Vermögen von 53 Milliarden Dollar verfügt haben, was einem Drittel des ukrainischen Bruttoinlandsprodukts entspricht. Diese Personen konzentrieren wirtschaftliche und politische Macht in ihren Händen. Ihr Aufstieg begann mit dem Zerfall der Sowjetunion. Ihre ersten Profitquellen waren Geschäfte mit Gütern oder Rohstoffen, die zu einem staatlich festgesetzten Preis in der Ukraine gekauft und mit erheblichem Gewinn auf dem Weltmarkt verkauft werden konnten. Der Handel mit Erdgas bot ebenfalls die Möglichkeit, sich zu bereichern und überschuldete Unternehmen günstig aufzukaufen. Finanzspekulationen warfen in der Zeit der Hyperinflation in der Ukraine von 1991 bis 1994 teils enorme Gewinne ab. Die Gründung privater Banken bot die Möglichkeit, günstige staatliche Kredite aufzunehmen und zu höheren Zinsen an die Kunden weiterzugeben. Jedoch erforderten diese Geschäfte ein hohes Maß an administrativer Flankierung und Korruption. Nur so war es möglich, an Import- und Exportlizenzen heranzukommen oder günstige Zentralbankkredite zu erhalten. Im Gegensatz zu Russland begann die Privatisierung großer Staatsbetriebe erst Mitte der 1990er-Jahre und schied deshalb zunächst als Profitquelle aus.(116)
Während der Präsidentschaft von Leonid Kutschma von 1994 bis 2005 änderte sich die Situation. Kutschma festigte seine Macht, indem er informelle regionale Netzwerke bediente. Unter dem Motto »Teile und herrsche« änderte er ständig seine politischen Positionen zugunsten bestimmter Gruppen: Wirtschaftliche Vorteile wurden im Gegenzug für politische Unterstützung gewährt. Dabei bildeten die Oligarchen die zentrale Säule seiner Macht. Mit ihrem Reichtum konnten sie Einfluss auf die Parteien nehmen und nach den Parlamentswahlen 1998 in der Werchowna Rada eine Mehrheit für Kutschma sichern. Durch Investitionen in die Massenmedien gelang es ihnen, die öffentliche Meinung zugunsten von Kutschmas Wiederwahl 1999 zu beeinflussen. Der Vorteil für die Oligarchen: Sie konnten jene Kräfte entmachten, die sich einer Privatisierung strategisch wichtiger Großbetriebe widersetzten. Zu dieser Zeit profitierten die sogenannten »Roten Direktoren«, die Leiter staatlicher Großbetriebe, immer noch von hohen öffentlichen Subventionen und hatten durch die Kommunistische Partei eine Mehrheit im Parlament. Die Oligarchen konnten nun die Blockade der Privatisierung durchbrechen und sicherstellen, dass die Preise bei dem Verkauf der Unternehmen sehr niedrig blieben, wodurch sie gegenüber ausländischen Konkurrenten bevorzugt wurden.(117)
Die Orangene Revolution und das Ausscheiden Kutschmas im Jahr 2004 waren anfangs von einer gesellschaftlichen Stimmung geprägt, die mit einem Machtwechsel auch die Hoffnung auf eine Entmachtung der »Banditen« verband. Der Reichtum der Oligarchen war mittlerweile offensichtlich geworden, was zu neuen Herausforderungen für die wohlhabenden Industriellen führte. Sie mussten sich an eine Situation anpassen, in der kein klares Machtmonopol mehr existierte. Nun versuchten die Oligarchen, auf konkurrierende politische Kräfte gleichzeitig Einfluss zu nehmen. Obwohl größere Reprivatisierungsvorhaben, die Unrecht aus der Vergangenheit ausgleichen sollten, breite Zustimmung in der Bevölkerung fanden, wurden sie letztendlich nicht umgesetzt, da Präsident Wiktor Juschtschenko und Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko unterschiedliche Pläne verfolgten. Mit der Präsidentschaft von Wiktor Janukowytsch setzte wieder eine Konzentration der Macht beim Präsidenten ein. Seine im Donbass verankerte »Partei der Regionen« entwickelte sich zu einem landesweiten Machtzentrum, und seine Gefolgsleute besetzten alle Institutionen. Janukowytsch versuchte, durch die Stärkung und Bereicherung seines eigenen Clans seine Macht zu festigen. Doch die Oligarchen blieben Profiteure des Systems und erfreuten sich wachsender Gewinne.(118) Während der Maidan-Proteste unterstützten die Oligarchen zunächst Janukowytsch beim Versuch, die Proteste zu unterdrücken. Im Gegenzug verabschiedete das von ihnen kontrollierte Parlament einen neuen Haushalt, der eine großzügigere Verteilung öffentlicher Gelder durch neue Kredite aus Moskau vorsah. Erst im Februar 2015, als sich der Sturz des Präsidenten abzeichnete, gingen die Oligarchen auf Distanz zu Janukowytsch. Im Gegensatz zu damals scheinen die Oligarchen heute geschlossen hinter der kriegführenden Regierung zu stehen – um ihren eigenen Besitz und ihr im Westen geparktes Geld zu schützen.(119)
Der Korruptionsindex von Transparency International 2021 stuft die Ukraine als das zweitkorrupteste Land in Europa ein, direkt hinter Russland. Im Jahr 2017 führte die Ukraine die Liste sogar an.(120) Der endemische Missbrauch politischer Macht für private Zwecke entzieht dem Staat Ressourcen und bedroht demokratische Ansätze. Steuerhinterziehung richtet den Staat finanziell zugrunde. Staatsbedienstete erhalten niedrige Löhne und sind zum Überleben auf Bestechungsgelder angewiesen. Deshalb müssen die Menschen bezahlen, damit normale staatliche Leistungen erbracht werden, weswegen sie sich wieder mit Steuervermeidung schadlos halten – ein Teufelskreis, der den Status quo zementiert. Dies allerdings gilt sowohl für die Regierungsgebiete als auch für die von Russland besetzten Territorien.(121)
Neben den Abraumhalden wird Kohle im Tagebau abgebaut, ein Kohlelager verbirgt sich hinter verrosteten Wellblechzäunen. Straßenhunde schließen sich in Rudeln zusammen. In der Nähe eines Wohnblocks sehe ich eine verlassene Schule. Wo mögen die Kinder sein? Leben sie noch? Sind sie geflohen? Trotz der Kredite, die die Ukraine in den letzten Jahren von der Europäischen Union erhalten hat, sind die Straßen schlechter als in Russland. Vorbei an einem weiß gekalkten, zerfallenen Rinderstall, daneben eingerostete landwirtschaftliche Maschinen. Vor einem längst geschlossenen Betrieb hängt ein Plakat mit der Aufschrift: »Russland für immer.« Noch im Juli war das Kohlekraftwerk Wuglegirska in der Nähe des Dorfes Nowoluhanske heftig umkämpft. Dort waren Wagner-Söldner im Einsatz. Das Kraftwerk gehört der staatlichen Aktiengesellschaft Centrenergo. Alle ihre Kraftwerke wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren errichtet. Das Wärmekraftwerk Luhansk hat wegen der schweren Kämpfe den Betrieb eingestellt. Wieder schlängeln wir uns an den Panzersperren vor einem Checkpoint vorbei, warten vor einem Schützenpanzer, über dem die Flagge der Luhansker Volksrepublik (LVR) weht, blicken in Sturmgewehre, werden durchgewinkt. Wir reisen durch ein Land, das vom Krieg gezeichnet und schon zuvor wirtschaftlich gescheitert ist.
In einem Vorort von Luhansk, wo die Häuser niedriger werden und keine Wohnblocks mehr wie im Stadtzentrum stehen, sehen wir einen Herrn namens Wladimir Jewgenijewitsch Tulow. Er hat wellige, mittellange graue Haare und trägt eine braune Lederjacke. Ein Lehrer, der mal Klartext reden will: »Alles muss sich ändern. Die wirtschaftliche, politische, soziale und humanitäre Lage. Das Wichtigste ist, dass die Menschen wieder Hoffnung schöpfen können. Denn wir haben in einem Zirkus-Staat gelebt, der von Clowns geführt wurde. In einer Bananenrepublik, in der diese ach so ehrenwerten Leute von staatlicher Souveränität redeten, die sie gleichzeitig abgeschafft haben. Wir haben in einem Banditen-Staat gelebt. Es ist immer noch zu 100 Prozent ein faschistischer Staat. Ich meine natürlich die Ukraine, was denn sonst?«
Wladimir Jewgenijewitsch beklagt, was auch Beobachter im Westen wissen: In der Ukraine sind es die Oligarchen, die den Staat im Griff haben, während es in Russland der Staat ist, der die Oligarchen im Griff hat. (122) »1991 lebten wir noch in einem Land, in dem die Völker friedlich zusammenlebten, das Land hieß Sowjetunion. Menschen im ganzen Land konnten reisen, es gab viele gemischte Ehen, wir waren ein Volk – das sowjetische Volk. Wenn Sie heute die Menschen fragen, werden Sie hören: Ja, wir bereuen es, dass es die Sowjetunion nicht mehr gibt.« Phantomschmerz – das ist geblieben vom Untergang eines Staates, befeuert durch die Erfahrung, dass seither wenig besser, aber vieles schlechter geworden ist. Die Menschen werden zu Überlebenskünstlern in einem gescheiterten Staat. Ist es verwunderlich, dass sie ihr Heil bei Russland suchen?
»Ich wollte mit Waffen nie etwas zu tun haben«, erzählt uns Tage später ein Offizier der DNR. »Ich wäre nie Soldat geworden, wenn es diesen Krieg nicht gegeben hätte. Ein Freund von mir ist in Makejewka gestorben, weit hinter der Front. Es schlugen Raketen ein. Meine Frau und meine beiden Kinder habe ich nach Russland gebracht, nach Rostow, dort haben wir Verwandte.« 2014 schloss er sich einer Freiwilligenmiliz der Volksrepublik Donezk (DVR) an. »Früher hatte ich eine Familie. Das ist jetzt auch vorbei.« Was der Zerfall nicht geschafft hat, erledigt der Krieg. Hier hat er nicht im Februar 2022 begonnen, sondern schon acht Jahre zuvor, 2014. Die Erfahrung, dem Beschuss der ukrainischen Armee ausgeliefert und Opfer eines ukrainischen Raubtierkapitalismus zu sein, prägt das Leben der Menschen und beeinflusst ihre Entscheidung beim Referendum über den Anschluss an Russland. Auch dies ist ein Teil des Gesamtbildes, das die Medien im Westen nicht zeigen und viele in Deutschland nicht sehen wollen.