4.2. Dolyna: Von der Hand in den Mund

Wer ein Auto hat, arbeitet meist als Fahrer. In einem riesigen Flächenstaat, der fast doppelt so groß ist wie Deutschland, ist Transport ein Problem. Wer sich ein Auto leisten kann, bringt andere zum Ministerium in Kiew, zur Baustelle in Odessa oder liefert Ersatzteile und Computer nach Dnipro. Fahrtkosten und etwas auf die Hand, eine Flasche Wodka dazu, die meisten hier sind auf einen Zuverdienst angewiesen. Auch Wasja.

Mit seinem alten Mercedes Sprinter holt mich Wasja am Flughafen in Lwiw ab. Den Wagen hat er zu einer Art Wohnmobil für sechs Personen ausgebaut. Wasja stellt Bautrupps zusammen, manchmal sechs Mann, mit denen er bis nach Moskau oder Frankfurt am Main fährt, wo sie als Schwarzarbeiter Gebäude hochziehen. In einem Vorort der russischen Hauptstadt haben sie einen Supermarkt gebaut. Das Gebäude ist fertig, so Wasja, doch der Bauträger ist angeblich bankrott, und so hat ihn ein Halsabschneider um den Lohn betrogen. Jetzt steht Wasja vor einem Problem: Es geht um 25 000 Dollar, und Wasja braucht das Geld, er muss seinen Bautrupp ausbezahlen. Doch einklagen kann er den Lohn nicht – alles ist illegal. Alles wird am Handy vereinbart und auf der Baustelle per Handschlag besiegelt, dann geht es los.

Wir fahren von Lwiw nach Chust, und unterwegs streitet sich Wasja auf Russisch mit dem Kerl in Moskau, der nicht zahlen will oder nicht zahlen kann. Der Ton bleibt freundlich, aber das Gezerre ist deutlich spürbar, selbst für meine Ohren: »Du willst doch beim nächsten Mal wieder gute Leute haben!« »Ja klar, aber ich habe doch gesagt, ich habe kein Geld!« »So gute Leute für einen so guten Preis findest du nicht wieder!« »Ja, mal sehen, vielleicht bekomme ich diese Woche noch eine Summe rein, dann gebe ich dir die Hälfte!« »Die Hälfte, das ist doch ein Witz, das kann nur ein Vorschuss sein!« »Die Hälfte ist besser als gar nichts!« »Ich brauche die ganze Summe, die wir vereinbart haben!« »Wozu denn, die Hälfte ist auch gutes Geld!« »Ich muss meine Leute ausbezahlen, fünf Mann! Fünf Mann, die gute Arbeit gemacht haben!« »Dann gib ihnen einen Vorschuss!« »Die drehen mir den Hals um. Du weißt, wie das ist!« Sie beenden das Gespräch ergebnislos. Aber Wasja nimmt es wie ein unabänderliches Schicksal. Hier, zwischen Lwiw und Czernowitz, zwischen Moskau und Chust, zwischen Charkiw und Frankfurt, ist alles schwierig. Das Leben ist eine Kette von Pannen, Krisen und Katastrophen. Es macht keinen Sinn, sich aufzuregen. Das kostet Kraft, die man beim nächsten Ärger braucht. Wasja jagt mit fast 100 Sachen über eine Schotterpiste.

Die Steine sind einfach auf den Erdboden geschüttet. Sie haben genauso viele Senken und Löcher und Kurven wie das Land darunter. Er überholt auf einer zweispurigen Strecke bei Gegenverkehr, lacht über das laute Gehupe der entgegenkommenden Lkw, schaut sich dabei auf dem Smartphone eine Fernsehshow mit Selenskyj an und diskutiert mit mir auf Russisch, Ukrainisch, Deutsch und Englisch. Dann ein hartes Bremsmanöver vor einem unüberwindlichen Schlagloch: Das Lenkrad hart links, dann hart rechts, dann wieder Gas und wieder im Gegenverkehr Selenskyjs Show auf dem Smartphone. Ich schicke Stoßgebete gen Himmel. Aber was tun in der einbrechenden Dämmerung auf der Landstraße von Lwiw Richtung Süden, das Ziel noch fast 200 Kilometer entfernt? 200 Kilometer sind in dieser Gegend oft vier bis fünf Stunden Fahrt mit Umleitungen, Schlaglochpisten, zerbrochenem Asphalt, Fahrbahnverengungen, Staus und waghalsigen Überholmanövern. So brausen wir in die Nacht am Rand der Karpaten.

Am Kreisel in Dolyna nehmen wir die erste Ausfahrt und lassen Iwano-Frankiwsk links liegen, eine Stadt, die nach einem Dichter benannt ist – wo gibt es das schon in Deutschland? Ein Schriftsteller zumal, der auch ein Dichter der Arbeiterklasse war. In seiner Erzählung Borislaw lacht geht es um die miserablen Arbeitsbedingungen auf den Ölfeldern im Königreich Galizien und Lodomorien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die einen hungern und schuften, um ihre Familien zu ernähren, sind ständig von Arbeitslosigkeit bedroht, werden täglich von den Wachen gedemütigt, machen Überstunden und müssen Strafen zahlen. Die anderen schwelgen im Luxus und freuen sich über Arbeitslosigkeit, Missernten und Hunger, denn dies senkt den Preis der Ware Arbeitskraft. Die Unternehmer wollen den Markt beherrschen, Monopole bilden, expandieren, neue Märkte erobern, die Profite steigern. Iwan Franko geht in seinem Roman Germinal viel weiter als Émile Zola. Er zeigt nicht nur den unterdrückten, ohnmächtigen Arbeiter, der zum Leiden verdammt ist, sondern den Menschen in seiner Würde. Im Jahr 1881 erschienen – und dennoch hochaktuell.

»Wie viel«, fragt Wasja, »verdient ein Deutscher auf dem Bau?« »Ich schätze um die 20 Euro in der Stunde. Vielleicht etwas mehr.« »Uns geben sie 15, wenn es hochkommt, schwarz natürlich, angemeldet sind wir nicht.« »Was, wenn du mal von der Leiter fällst?« »Das ist nicht so schlimm wie der deutsche Zoll.« »Wieso?« »Der kontrolliert auf den Baustellen und schickt uns wieder zurück, wenn wir keine Arbeitserlaubnis haben. Und die haben wir nicht.« »Und wenn dir was passiert?« Er lacht es weg. Wasja lebt davon, dass er illegal in ganz Europa arbeitet. Das ist gutes Geld in der Ukraine. Davon hat er ein Haus gekauft und baut es aus. Mit dem Verdienst hat er auch seine Hochzeit bezahlt. Während der Fahrt zeigt Wasja immer wieder Bilder von der Feier, die er stolz bei sich trägt. Es war ein großes Fest, aber auch nicht billig. Wasja erzählt, dass hier alle Fahrer sind, solche, die es sich leisten können, ein Auto zu besitzen. Es ist die beste Möglichkeit, Geld zu verdienen: Import – Export. Das Auto ermöglicht es einem, im Ausland zu arbeiten. Ob in Rostow am Don, Moskau, Düsseldorf oder München – immer illegal, immer mit einem gewissen Risiko. Oder man heuert ein paar Leute an, die sich kein Auto leisten können, und fährt diese Gruppe illegaler Leiharbeiter irgendwohin, wo sie irgendeine Arbeit verrichten, um irgendwie zu Geld zu kommen.

Wasja gehört zu den drei Millionen Ukrainern, die als Arbeitsmigranten mehrmals im Jahr ins Ausland pendeln. Dazu kommen noch einmal zwei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, die dauerhaft im Ausland arbeiten. Bereits bis Ende der 1990er Jahre wanderten mehrere Hunderttausend Ukrainer nach Russland aus. Dort waren damals zwar die Löhne auch nicht viel höher, aber die Verwestlichung des Lebensstils und die Verteuerung der Lebenshaltungskosten für Nahrung, Mieten, Gesundheit und staatliche Dienstleistungen schlugen nicht so durch. Vor Kriegsbeginn arbeiteten allein zwei Millionen Ukrainer in Polen – als Putzhilfen, Maurer, Lkw-Fahrer, Haushaltshilfen, Kellner, Altenbetreuer, also vor allem in schlecht bezahlten Jobs. In Polen blühen auch die Geschäfte der Vermittlungsagenturen, die Ukrainer als polnische Staatsangehörige deklarieren und sie als häusliche Pflegekräfte in die Schweiz und nach Deutschland vermitteln. Dort erhalten sie den örtlichen Mindestlohn für eine 40-Stunden-Woche. Doch in der Realität, so steht es im Vertrag mit der polnischen Agentur, müssen Pflegekräfte 24 Stunden in Bereitschaft sein.

In Frankfurt wird Wasja bezahlt nach dem Mindestlohn am Bau, das waren 2021 für Ungelernte 12,85 Euro . Doch oft vereinbart er auch eine Pauschale für seinen Bautrupp, die deutlich niedriger ist. Wie beim Bau des Supermarktes bei Moskau ist dann er dafür verantwortlich, dass die Leistung in der vorgesehenen Zeit erbracht wird. Ist der Zeitplan zu eng, holt Wasjas Team die Arbeit mit unbezahlten Überstunden oder Schichten am Wochenende auf. Am Ende bezahlt Wasja seine Leute aus – abzüglich einer Summe für Transfer, Sprit und Übernachtung im Sprinter. Hunderttausende Ukrainer verdingen sich dauerhaft als Pendler oder Zeitarbeiter in Rumänien, Ungarn, der Slowakei und Tschechien, wo sie für Mindestlöhne zwischen 3,10 Euro und 3,76 Euro arbeiten. Häufig werden sie noch ein bisschen unter dieses Niveau gedrückt. Studierende aus der Ukraine arbeiten oft als Saisonkräfte und Erntehelfer in der EU-Landwirtschaft. Oft reisen sie mit gefälschten Immatrikulationspapieren ein. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ergab, dass weder in der Ukraine noch in Deutschland kontrolliert wird. (204)

Für viele ukrainische Fahrer wie Wasja ist Litauen die europäische Speditionszentrale. Mithilfe von künstlicher Intelligenz werden billige Lkw-Fahrer aus Nicht-EU-Staaten wie der Ukraine oder Moldau quer durch Europa gelenkt. Sie brauchen keine Sprachkenntnisse; sie erhalten ihre Anweisungen über Smartphones und Navigationsgeräte. Mit Beginn des Krieges fehlten in Litauen und Polen plötzlich mehr als 100 000 LKW-Fahrer aus der Ukraine -– sie durften wegen des Militärdienstes nicht mehr ausreisen.(205)

Die Bezahlung solcher Jobs ist immer noch viel besser als in ihrer Heimat, wo der Mindestlohn bei der ersten Einführung 2015 ganze 34 Cent pro Stunde betrug. Bis 2021 wurde er dreimal erhöht und lag bei 1,21 Euro. Allerdings erfolgt beispielsweise in der Textil- und Lederindustrie bei einem Drittel der meist weiblichen Beschäftigten ein erheblicher Teil der Bezahlung durch erzwungene und unbezahlte Überstunden. Auch die Bezahlung nach Stücklohn ist weitverbreitet: Wer die für eine Stunde vorgesehene Stückzahl nicht schafft, muss unbezahlt nacharbeiten. Wenn keine Aufträge reinkommen, wird unbezahlter Urlaub angeordnet. Der gesetzlich zustehende Jahresurlaub wird oft nicht gewährt oder nicht bezahlt. Die Betriebsleitungen verhindern häufig die Wahl von Belegschaftsvertretungen. Trotz des Mindestlohns lagen die Menschen weit unterhalb des offiziellen Existenzminimums. Im Jahr 2017 betrug dieses Existenzminimum lediglich 166 Euro.(206)

Mit der Erhöhung des Mindestlohnes hat die Regierung Selenskyj aber gleichzeitig die Gewerkschaften weiter geschwächt. Das Arbeitszeitgesetz vom Dezember 2019 erlaubt beispielsweise Null-Stunden-Arbeitsverträge. Unternehmer können kurzfristig Beschäftigte ins Werk holen, wenn Arbeit anfällt. Das ist faktisch Arbeit auf Abruf. Liegt keine Arbeit an, gibt es auch keinen Lohn. Darüber hinaus müssen Entlassungen nicht mehr begründet werden. Die individuelle »Aushandlung« von Arbeitsverträgen wird gefördert, was bei hoher Arbeitslosigkeit alternativlose Niedriglohn-Angebote bedeutet. Gewerkschaften sollen enteignet, Grundstücke und Vermögen aus sowjetischer Zeit eingezogen werden. Hunderttausende Ukrainer haben dagegen protestiert. Die Internationale Gewerkschafts-Föderation und die Europäische Gewerkschafts-Föderation wiesen in einem Brief darauf hin, dass dieses Gesetz nicht nur alle Arbeitsrechte der UN und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verletzt, sondern auch die niedrigen EU-Standards. Kaum ein westliches Medium hat darüber berichtet. Pro teure sind wiederum westliche Konzerne, die Teile ihrer Fertigung in die Ukraine ausgelagert haben.

»Da, schau«, sagt Wasja, »das ist mein Haus, mein Garten, mein Dach. Ich habe es selbst gedeckt. Das Haus habe ich mit Freunden selbst gebaut, Stein für Stein!« Er überholt auf Schotter einen Sattelzug und zeigt mir, eine Hand am Lenkrad, mit der anderen ein Foto. Es ist ein schönes Haus am Rande der Karpaten. Im Hintergrund erstrecken sich bewaldete Hügel, davor ein Zaun aus Holz am Dorfrand. An der Vorderseite fehlt noch der Verputz. »Das Dach ist drauf«, fährt Wasja fort, »im Winter ist es warm für die Familie. Und der Außenputz kommt dran, so wie ich Zeit habe. Wenn ich mal zu Hause bin zwischen all den Touren!« Wasja baut mit dem Geld, das er als Schwerstarbeiter in der Fremde macht, und so profitiert auch die Heimat davon. Überall in Galizien stehen schmucke Einfamilienhäuser, für die Rubel, Euro oder Pfund aus Russland, Großbritannien oder der EU überwiesen wurden. Doch der außerhalb der Region erwirtschaftete Wohlstand hat einen hohen Preis. Viele Familien sind zerrissen, weil Väter oder Mütter im Ausland arbeiten. Der einzige Ausweg aus der ländlichen Armut liegt in der Schwarzarbeit jenseits der Grenzen. Arbeitsmigration bedeutet, dass die gut Ausgebildeten und Leistungsfähigen abwandern, die Alten und Kranken bleiben zurück. Die Kinder wachsen bei ihren Großeltern auf, die Eltern kommen nur noch alle paar Wochen nach Hause. In Polen gibt es ein Wort dafür: Sie heißen »Eurosieroty«, »Eurowaisen«.(207)

Die 37-jährige Natalia hat Buchhalterin gelernt. Im Jahr 2021 wurde sie Mutter. Seit sechs Jahren arbeitet sie als Fotoredakteurin bei einer Zeitschrift. Sie hält es nicht länger in der Ukraine: »Unser Land geht in die falsche Richtung. Die Preise steigen, die Währung hat die Hälfte ihres Werts verloren, viele bekommen ihre Gehälter verspätet ausgezahlt. Wie soll man da leben? Jetzt haben wir Dezember, und ich habe gerade mein Septembergehalt bekommen.« Unter diesen Umständen kann sie sich beruflich nicht entwickeln, geschweige denn ihrem Kind eine Zukunft sichern: »Man kann gerade mal überleben. Auch wenn ich einen Mann hätte, meine soziale Absicherung wäre kaum besser. Schauen Sie, ich verdiene 4000 Hrywna, das sind 500 Dollar. Eine Ein-Zimmer-Wohnung in Kiew kostet 300 Dollar, die Nebenkosten machen 100 Dollar. Gut, es gibt jetzt zwei Jahre lang pro Monat 100 Dollar Kindergeld. Aber für 200 Dollar mit Kind einen Monat leben?«(208)


In der Ukraine gibt es etwa 2 800 registrierte Textilunternehmen. Die Zahl der nicht registrierten Kleinunternehmen ist geschätzt ebenso hoch. Damit hat die Schattenwirtschaft seit Jahren vor allem in kleineren Städten und Dörfern ihr Netz über das Land geworfen. Diese Kleinunternehmen sind oft nur Zulieferer für international vernetzte Billigproduzenten in den benachbarten EU-Ländern Polen, Rumänien und Ungarn. So gehen 41 Prozent der Schuhproduktion als Halbfertigware für Hungerlohn aus der Ukraine in die Fabriken Rumäniens, Ungarns oder Italiens, wo sie dann im Niedriglohnbereich das begehrte Etikett »Made in EU« bekommen. Die Mehrheit der etwa 220000 Textilbeschäftigten sind ältere Frauen, die sich mit Subsistenzwirtschaft über Wasser halten. Sie haben einen eigenen Garten, eine Ziege oder einen Hühnerstall und versorgen sich teilweise selbst. Ihre eigenen Kleider kaufen sie aus Second-Hand-Importen aus der EU, der Schweiz oder den USA. Sie können sich nur die fast kostenlosen Wegwerftextilien aus den reicheren Ländern leisten. Tatsächlich führt die Ukraine mehr Textilien ein, als sie ausführt. Auch dies ist Teil einer europäisch-ukrainischen Armutskette. Die großen Bekleidungsketten wie Adidas, C&A, Hugo Boss, Marks & Spencer, Esprit, Zara und Mexx leben von der menschenrechtswidrigen Ausbeutung in der Ukraine. »Hier in den reichen EU-Staaten sitzen die wichtigsten Akteure der Korruption«, so Werner Rügemer. »Klammheimlich begrüßen sie freudig die nicht vorhandene bzw. komplizenhafte Arbeitsaufsicht des ukrainischen Staates, und die EU deckt das systematische Arbeitsunrecht ebenfalls, mit rituell-heuchlerischer und folgenloser Anmahnung der Korruption in der Ukraine.«(209)

Die Ukraine war einst ein Zentrum industrieller Produktion in der Sowjetunion. Nach der Unabhängigkeit rissen sich Oligarchen die Firmen unter den Nagel, sicherten sich hohe Gewinne und investierten wenig bis gar nichts. Für westliche Unternehmen standen Millionen gut ausgebildeter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Niedrigstlöhnen bereit. Tausende Unternehmen aus der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten vergaben Zulieferaufträge. Zu den etwa 2 000 deutschen Firmen gehören Pharmakonzerne wie Bayer, BASF, Henkel, Ratiopharm und Wella. Automobilunternehmen wie Porsche, VW, BMW, Schae er, Bosch und Leoni lassen einfachere Teile wie beispielsweise Kabelbäume fertigen. ArcelorMittal, Siemens, Demag, Vaillant und Viessmann unterhalten Montage- und Verkaufsfilialen. Diese Unternehmen zahlen Stundenlöhne von zwei bis drei Euro und liegen damit deutlich über dem örtlichen Mindestlohn, aber produzieren zu günstigeren Lohnkosten als in den angrenzenden EU-Staaten.

Deshalb sind die ukrainischen Standorte eng mit jenen in der EU verbunden – aber auch mit Filialen in den noch ärmeren Nachbarstaaten Moldau, Georgien und Armenien, wo die Löhne noch niedriger sind. So wird die Ukraine zu einer Drehscheibe für die Ausnutzung von Lohn- und Standortvorteilen im Rahmen der EU-Strategie »Östliche Nachbarschaft«. Jedoch hat dies nicht zu einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung geführt, ganz im Gegenteil. Die Ukraine ist volkswirtschaftlich verarmt, und die Mehrheit der Bevölkerung wurde ärmer und kränker. Die Folge ist eine massenhafte Arbeitsmigration. Die Ukraine, so Olga Galina und Oleksii Pozniak, »gilt als Lieferantin billiger Arbeitskräfte in die EU-Länder«.(210)

Auch deshalb schrumpft die Bevölkerung der Ukraine. Von 52 Millionen im Jahr 1992 ging die Zahl der Ukrainer auf knapp 37 Millionen im Jahr 2020 zurück. Dazu kommen noch einmal ungefähr drei Millionen Einwohner im Donbass, in Luhansk und auf der Krim. Die Abwanderung geht weiter, und eine Zu- oder Rückwanderung, die diese Entwicklung ausgleichen könnte, existiert nicht. Nach dem Ende des Kommunismus stieg in den Nachbarländern Polen, Ungarn und Tschechien die Lebenserwartung, sie konnten sich wirtschaftlich stabilisieren. Doch in der Ukraine und Russland sank die Lebenserwartung. Seit Mitte der 1970er-Jahre liegt sie zwischen 67 und 72 Jahren: Wer Arbeit hatte, schuftete bis zur totalen Erschöpfung, und wer keine hatte, rettete sich in den Alkohol. Durch den Krieg beschleunigte sich der Schrumpfungsprozess dramatisch: Bis September 2022 verließen mehr als 6,5 Millionen Menschen das Land. Nach wie vor ist die Ukraine gemessen am Bruttosozialprodukt das ärmste Land Europas. Ihre Wirtschaftskraft lag 2020 bei etwa 3 700 Dollar pro K opf – ein vergleichbares Niveau erreichen der Hungerstaat Sri Lanka, das Bürgerkriegsland Libyen und die Drogenwirtschaft von El Salvador. Das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine von 155 Milliarden Dollar entspricht dem von Berlin. Doch die deutsche Hauptstadt hat weniger als ein Zehntel der Einwohner. Gemessen an der deutschen Wirtschaftskraft ist die Ukraine ein Land der sogenannten Dritten Welt. Der Abstand zur Bundesrepublik ist so gewaltig, dass der heutige deutsche Lebensstandard für die meisten Ukrainer ein unerfüllbarer Traum bleiben wird – es sei denn, sie wandern aus.211 Wegen der miserablen Einkommen verzeichnet die Westukraine eine der höchsten Abwanderungsraten Europas, ähnlich wie bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter habsburgischer Herrschaft. Ein Blick auf die regionalen Ungleichgewichte lohnt sich. Denn entgegen einer eurozentrischen Perspektive liegen die ärmeren Regionen in der Ukraine im Westen. Das Geld wird in Kiew, im Donbass oder in Odessa verdient. Das Wohlstandsgefälle von der Hauptstadt zu den ländlichen Regionen wie Chust ist noch einmal stärker als in Polen, Ungarn oder der Slowakei. Die Landbevölkerung lebt immer noch auf dem Niveau eines Entwicklungslandes. Bereits 1888 verglich der polnische Ökonom und Ingenieur Stanisław Szczepanowski Galizien mit Irland, Bengalen und China. Die »Galizische Not« betraf alle Lebensbereiche: »Ich habe zunächst das Bild der Galizischen Not ausgehend von der wirtschaftlichen Misere gezeichnet. Aber dieses abscheuliche Bild materiellen Elends, der Fäulnis, Verdorbenheit und Korruption ist nur ein Spiegelbild der furchtbaren moralischen Verkommenheit.«(212)

In der Ukraine ist die volkswirtschaftliche Transformation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vollständig gescheitert. Im Gegensatz dazu kam es in den Nachbarländern seit Ende der 1990er-Jahre zu einer vergleichsweise dynamischen Entwicklung. Auch Russland konnte seine Wirtschaftskraft pro Einwohner vervielfachen. Die Ukraine hingegen blieb bereits in den 1990er Jahren zurück. Nach der Jahrtausendwende kam selbst der verlangsamte Fortschritt zum Erliegen, und Mitte der 2000er Jahre stagnierte die Volkswirtschaft auf niedrigem Niveau. Zeitweise hohe Wachstumsraten glichen gerade einmal die wiederholten massiven wirtschaftlichen Einbrüche aus. Dies schlägt sich auch in der Lohnentwicklung nieder. Der durchschnittliche Bruttolohn schwankt seit 2009 zwischen 200 und 350 Euro monatlich. Das macht den Alltag für die Mehrheit der Ukrainer zu einem Überlebenskampf auf niedrigem Niveau. Die Ukraine ist das Armenhaus Europas.

Morgen muss Wasja nach Kiew fahren, das sind je nach Route von Chust aus fast 800 Kilometer. Sein dreijähriger Sohn hat eine Fehlstellung der Füße und muss in einer Spezialklinik behandelt werden. Nur in der Hauptstadt kann er operiert werden. Er will seinen Sohn wieder mitnehmen, deshalb plant er für drei bis vier Tage in Kiew zu bleiben. Vielleicht kommt Wasja bei Bekannten unter, mal sehen. Wenn das nicht geht, es ist Ende September, es ist noch warm, dann schläft er im Auto. Dafür hat er den Sprinter ausgebaut, das macht er immer so, überall zwischen Moskau und Frankfurt. Auch im Gesundheitswesen der Ukraine existiert der Sozialstaat nur auf dem Papier. Obwohl es noch staatliche Krankenhäuser gibt, müssen die Patienten oft Spritzen und Medikamente selbst mitbringen und für aufwendige Behandlungen Hunderte Dollar oder Euro aus eigener Tasche zahlen. Wer dieses Geld nicht hat, erhält nur eine Notversorgung oder ist den Launen der Ärzte und miserabel bezahlten Krankenschwestern ausgeliefert. Auch Wasja muss für die Operation Geld unter der Hand zahlen. Sie wird mehr als tausend Euro kosten, wie viel genau wollte er nicht verraten. Das Thema belastet ihn, und er versucht, es mit einem Lachen abzutun: »Es wird schon alles gutgehen!« Während sich die Armen kaum zu helfen wissen, kann sich Wasja eine bessere Versorgung leisten, weil er sich zu Tode schuftet.

Vor allem zwei Faktoren treiben den wirtschaftlichen Niedergang an: die Hochrüstung und die endemische Korruption. Die staatlichen Strukturen sind schwach, und die staatliche Regulierung ist wenig effektiv. Rechtsstaatliche Verfahren werden oft nicht eingehalten. Korruption ist im Alltag fest verankert. Wie Oligarchen zu Reichtum kommen, zeigt das Beispiel des einst prominenten und politisch ein ussreichen Dmytro Firtasch. Sein Vermögen wurde 2014 auf etwa zehn Milliarden Dollar geschätzt und beruht auf einem bestechend schlichten Geschäftsmodell. Firtasch gelang es, seine Firma – RosUkrEnergo als Zwischenhändler zwischen dem russischen Gazprom und dem ukrainischen Gasmonopolisten Naftogaz zu etablieren. Naftogaz verkaufte das staatlich subventionierte Gas direkt oder über Tochterfirmen an Industrie und Endverbraucher in der Ukraine. Firtasch erhielt als Zwischenhändler hohe Provisionen – ein glänzendes Geschäft auf Kosten der Steuerzahler. Der Westen machte sich dabei zum Komplizen. Denn RosUkrEnergo hat seinen Firmensitz in der Schweiz, in Wien unterhielt Firtasch seine Holdinggesellschaft DF Group. Statt diese Form der Wirtschaftskriminalität zu verfolgen, rollten europäische Regierungen und Behörden Firtasch als großzügigem Sponsor zum Beispiel der Cambridge University viele Jahre den roten Teppich aus. Im Jahr 2014 endete Firtaschs Geschäftsmodell abrupt: Auf Geheiß des FBI wurde er in Wien festgenommen. Ihm wurden Bestechung und die Bildung einer kriminellen Vereinigung zur Last gelegt.(213) Firtasch selbst sieht in seiner Festnahme eine politisch motivierte Aktion der US-Behörden; er galt als Unterstützer des während des Euromaidan 2014 entmachteten Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Gegen eine Rekordkaution von 125 Millionen Euro, die höchste in der österreichischen Rechtsgeschichte, kam er wieder auf freien Fuß – allerdings erst, nachdem er von Janukowytsch abgerückt war.

Diese Form der Korruption – Firtasch ist dafür nur ein Beispiel – ist nicht allein dem Fehlen funktionierender Märkte geschuldet, wie es die neoliberalen Deregulierer predigen, sondern einer Schwäche des Staates und seiner Strukturen, die leicht ausgehöhlt und missbraucht werden können. Eigentlich kommt es in der Ukraine auf die Stärkung staatlicher Strukturen an – durch eine Verwaltungsreform, Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung und durch eine unabhängige Rechtsprechung. »Der Neoliberalismus«, so Philipp Ther, »ist auf einen regulierenden Staat angewiesen.«(214) Stattdessen geschieht jedoch genau das Gegenteil: Der Staat wird durch neoliberale Politik weiter geschwächt, und anstatt beim Aufbau eines Rechtsstaates zu helfen, liefern die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Waffen. So kommt zum schwachen Staat eine massive Aufrüstung. Die Ukraine ist korrupt, hat die ärmste und kränkeste Bevölkerung, gilt als Drehscheibe des europäischen Niedriglohns, ist Weltspitze beim Schmuggel und beim Handel mit Sex – und hat mehr Soldaten als jeder europäische NATO-Staat. Mit ihren 37 Millionen Einwohnern ohne Donbass und Krim hatte die Ukraine schon vor dem Krieg 292 000 Soldaten und damit mehr als Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Griechenland, Spanien, Rumänien oder Polen.

Die meisten osteuropäischen Staaten strebten seit den 1990er Jahren an, mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung auszugeben. Die Ukraine rüstete aber seit 2014 mithilfe der NATO, insbesondere der USA und Großbritanniens, umfassend auf. Im Jahr 2020 lagen die realen Militärausgaben bei knapp unter sechs Milliarden Dollar, die ausländische Militärhilfe nicht mitgerechnet.(215) Allein die Vereinigten Staaten investierten seit 2014 jährlich im Schnitt 400 Millionen Dollar pro Jahr. Damit entsprachen die ukrainischen Militärausgaben vor dem Krieg drei bis vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das bedeutet, dass die Ukraine sich o enbar systematisch auf einen größeren Krieg vorbereitet hat. Einige Teile der ukrainischen Eliten nutzen diese charakteristischen Entwicklungen zur persönlichen Bereicherung.

Ohne milliardenschwere Transferzahlungen zur Unterstützung des ukrainischen Staates und des Militärs wäre die Wirtschaft des Landes längst zusammengebrochen. Jedoch vergab der Internationale Währungsfonds Kredite an den »korruptesten Staat Europas« (Transparency International) nur gegen harte Auflagen: Sozial- und Rentenkürzungen, Erhöhung der Kommunalgebühren für Wasser, Abwasser und Müll sowie der staatlichen Energiepreise und weitere Preiserhöhungen. Bereits 2014 machte der IWF deutlich, dass der Verlust des Donbass sich negativ auf die Höhe der westlichen Kredite auswirken würde.(216) Immerhin ging es damals um einen finanziellen Rettungsschirm in Höhe von 17 Milliarden Dollar für einen Staat, dem die Zahlungsunfähigkeit drohte. Damit betätigte sich der Internationale Währungsfonds als Kriegstreiber. Die Staatsverschuldung wurde bis 2020 auf 60 Prozent reduziert – das ist positiv für einen möglichen Beitritt zur EU. Jedoch bedeutet dies für die Mehrheit der Bevölkerung steigende Preise für Kommunalabgaben, Mieten, Gesundheits- und Energiekosten sowie höhere Lebenshaltungskosten.

Der Krieg hat die Situation radikal verändert. Das Verhältnis aller Auslandsschulden zur Wirtschaftsleistung betrug im September 2022 mehr als 100 Prozent. Sie wuchsen auf mindestens 73 Milliarden Dollar an. Der für die Zahlungsfähigkeit an ausländische Gläubiger noch wichtigere Indikator Schuldenstand zu Exporteinnahmen lag Ende 2020 bereits 60 Prozentpunkte über dem kritischen Niveau von 150 Prozent und dürfte sich inzwischen noch dramatischer entwickelt haben. Dazu kommen Kriegsschäden von vermutlich 350 Milliarden Euro – eine Schätzung der ukrainischen  Wirtschaftsministerin Julia Swyrydenko im September 2022.(217) Im Ergebnis ist ausgeschlossen, dass die Ukraine ihren Schuldendienst mittelfristig wieder aufnimmt und die Zahlungsverpflichtungen erfüllt. Ebenso werden die Instrumente, über die die internationale Gemeinschaft verfügt, nicht ausreichen, um zu einer Sonderregelung für die Ukraine zu gelangen.(218) Das heißt: Die Geldgeber, insbesondere der Internationale Währungsfonds, die USA, die EU und Investmentgesellschaften, haben dauerhaft die Regierung in Kiew in der Hand.

Zusätzlich hat die ukrainische Wirtschaft durch den Krieg fast alle Entwicklungsmöglichkeiten verloren. Die Wirtschaftsleistung ist um die Hälfte eingebrochen. Wenn man noch Gebietsverluste, zerstörte Infrastruktur, eine verseuchte Umwelt, Zehntausende Kriegstote und dauerhaft ins Ausland Ge üchtete berücksichtigt, bleibt der Ukraine nur anhaltende Unterentwicklung, finanzielle Abhängigkeit von westlichen Transferzahlungen, ein volkswirtschaftlicher Ausverkauf an internationale Konzerne und politische Instabilität. Dies sind die »westlichen Werte«, für die eine korrupte Elite ihr eigenes Volk in den Tod schickt. Dabei findet im Krieg eine massive Umverteilung statt. Die Ukraine hat fünf strategisch wichtige Unternehmen verstaatlicht: den Ölförderer Ukrnafta, die Firma Ukrtatnafta, die im zentralukrainischen Krementschuk eine Rafiinerie betreibt, das dort ebenfalls ansässige Lkw-Werk KrAZ, das Flugmotorenwerk Motor Sitsch in Saporischschja sowie die dortige Transformatorenfabrik. Betroffen ist vor allem der Oligarch Ihor Kolomojskyj, dem 42 Prozent der Raffinerie und 40 Prozent der Ukrnafta gehörten. Auf Antrag können Entschädigungen für verstaatlichte Unternehmen gezahlt werden, die kaum noch etwas wert sind. Die Transformatorenfabrik stand im Insolvenzverfahren, und die Raffinerie in Krementschuk wurde weitgehend durch russische Angriffe zerstört. Da der ukrainische Staat von westlichen Transferzahlungen abhängig ist, werden also ukrainische Fabrikbesitzer aus den Milliarden entschädigt, die nach Kiew überwiesen werden.(219) Europäische und US-amerikanische Steuerzahler finanzieren so die Raubzüge ukrainischer Oligarchen.

Wer angesichts dieses volkswirtschaftlichen Zustandes die Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union propagiert, ist entweder ein Zyniker oder ein lächerlicher Illusionist: Ein solcher Schritt würde am Vetorecht anderer EU-Staaten scheitern oder den abhängig Beschäftigten in den bisherigen Mitgliedsstaaten die dauerhafte Verarmung bringen, mithin der EU eine nachhaltige Überdehnung und das Ende einer vertieften Integration.(220) Philipp Ther bezeichnet dies als »Kotransformation«(221): Danach funktionieren die Gesellschaften und Staaten Europas wie kommunizierende Röhren. Schon die neoliberale Transformation Osteuropas in den 1990er Jahren hat sich in die westeuropäischen Gesellschaften eingeschlichen und eine Absenkung sozialstaatlicher Standards erzwungen – in Deutschland zum Beispiel durch die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze. Auch die soziale Misere in der Ukraine erfasst die reicheren EU-Staaten. So sorgt eine Armee von Niedriglohnarbeitern für einen steigenden Druck auf die Löhne nach unten, während Mittel für die Hochrüstung der Ukraine durch Kürzungen an Schulen, Kindergärten und im Wohnungsbau eingespart werden. Insbesondere die Menschen in Deutschland dürften von einer beschleunigten Verelendungsspirale erfasst werden, wie sie in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellos sein wird.

Die Kotransformation findet auch im militärischen Bereich statt. Deutschland liefert, wie auch die anderen NATO-Staaten, immer mehr und immer schwerere Waffen. Wirtschaftsminister Robert Habeck bezeichnete Deutschland als eine Partei im Wirtschaftskrieg. Außenministerin Annalena Baerbock will Russland ruinieren. Die Ausbildung ukrainischer Soldaten auf deutschem Boden macht die Bundesrepublik völkerrechtlich zur Konfliktpartei eines Krieges gegen Russland. Deutschland will künftig das Rüstungsbudget auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen. Ein kreditfinanziertes Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für Militärausgaben wird aufgelegt. Obwohl77 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, dass der Westen Verhandlungen über eine Beendigung des Ukraine-Krieges anstoßen sollte, ist in der Politik längst keine Rede mehr davon, dass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen dürfe.(222) Die bellizistische Umerziehung der Bevölkerung ist in vollem Gange.(223) Deutschland wandelt sich vom Sozial- zum revanchistischen Rüstungsstaat. Der größte Teil des Geldes aus dem Sondervermögen und der Aufstockung des Rüstungsetats auf zwei Prozent, also auf 70 bis 80 Milliarden Euro jährlich, landet über Beteiligungen an Rüstungsunternehmen in den Taschen US-amerikanischer Finanzinvestoren wie Capital Group, Vanguard Group oder BlackRock, die wiederum aneinander beteiligt sind. (224) So wird der Ukraine-Krieg zu einem Raubzug von Finanz-Heuschrecken gegen den deutschen Steuerzahler.

Daneben wird die Ukraine zum Wallfahrtsort militanter Neonazis aus ganz Europa – ein weiterer Effekt dieser Kotransformation. Dort bilden sie Netzwerke, erhalten Waffen sowie Kampferfahrung unter realen Bedingungen. Nach einer Reportage des Time-Magazins kamen in den sechs Jahren vor Kriegsbeginn etwa 17 000 ausländische Kämpfer aus 50 Ländern in die Ukraine. (225) Inzwischen dürfte ihre Zahl noch deutlich höher liegen, da sie von vielen Regierungen ermuntert werden. Bei ihrer Rückkehr tragen sie antidemokratisches Denken, rechtsextreme Gesinnung und Gewaltbereitschaft in ihre Herkunftsländer und destabilisieren dort die Demokratie. (226) So planten italienische Neonazis unter Leitung eines Ausbilders des ukrainischen Asow-Regiments einen Überfall auf die Carabinieri-Kaserne in Marigliano bei Neapel. (227) Der Kiewer Publizist Wolodimir Tschemeris warnt »vor der wachsenden Gefahr des Nazismus in der Ukraine, die ganz Europa bedroht«(228).

Spät in der Nacht erreichen wir Chust. Ich gebe Wasja das Geld für die Fahrt, einmal von Chust nach Lemberg, das sind hundert Euro in bar. Außerdem packe ich eine Flasche Whisky dazu. Wasja lässt es sich nicht nehmen, mir bei der Suche nach einem vernünftigen Hotel zu helfen, und lässt nicht zu, dass ich den Koffer selbst trage. Ein Bier als Absacker lehnt er ab: Er muss noch fahren – und den Führerschein darf er auf keinen Fall verlieren. Auf solche Jobs verzichten kann er nicht. Vielleicht hat ihm der Lappen das Leben gerettet – oder besser das Geld, das er damit verdient hat. Ein halbes Jahr später hat er sich vom Militärdienst freigekauft – für knapp 2 000 Euro . Wer Geld hat, muss nicht an die Front.

Ein Jahrhundert zuvor, am 30. Juli 1920, notierte Isaak Babel im kriegszerstörten Brody unterwegs ins polnisch besetzte Lwiw in sein Tagebuch: »Die Chaussee, Stacheldraht, abgeholzte Wälder, und Trübsinn, Trübsinn ohne Ende. Nichts zu essen, nichts zu hoffen, es ist Krieg, alle sind gleich schlecht, gleich fremd, feindselig, roh, es war mal ein stilles und vor allem von Traditionen erfülltes Leben.«(229) Da sind wir wieder angekommen: auf der Chaussee des Trübsinns; auf der Straße, auf der die Leichen liegen; hundert Jahre verweht.