4.4. Mukatschewo: Slawa Ukrajini – Herojam
Slawa!

»Kolja hat sich entschieden. Hier müssen sich viele entscheiden. Die Bauern verarmen und verkaufen ihr Land an Großgrundbesitzer. Die verpachten es oder verkaufen es weiter an westliche Agrarkonzerne. Die Bauernsöhne arbeiten im Ausland, schmuggeln oder melden sich zu den Milizen. Die zahlen gut.« Bauer Milo verzieht keine Miene, spricht nüchtern und sachlich. »Welchen Weg ist Kolja gegangen?« »Das weißt du. Er war Schmuggler. Sein Halbbruder wurde erwischt und sitzt wegen Schmuggels im Knast. Kolja hat Zigaretten geschmuggelt, hier bei uns, südlich von Chust, nicht durch die Theiß, über die Berge.« »Bis heute?« »Eine ganze Zeitlang. Aber seit mindestens drei Jahren, also seit 2018, kämpft er im Donbass. Jetzt ist er ein Held.« Milo greift nach seinem Smartphone und öffnet Facebook. »Siehst du, hier. Ganz aktuell, vom September 2021. Da posiert er als Kämpfer im Donbass. Er schreibt von seinen Erfahrungen an der Front, zeigt stolz sein Sturmgewehr. Seht her, was ich tue, ich kämpfe und sterbe für euch.« Aber ich denke, es ist die Not, die ihn zum Kämpfen zwingt. Kolja weiß, was Hunger heißt, wie er sich meldet im Magen, zuerst leise, dann lauter, dann brüllend. Er bohrt sich in den gesamten Körper, rast durch die Adern und lässt keine Ruhe. Er fordert und schreit und lässt einen alles andere vergessen. Nie wieder Hunger, dafür wird er alles tun. Auch töten.

»Die reguläre ukrainische Armee«, erzählt Milo, »tut sich bis heute schwer mit der Rekrutierung. Seit es 2014, also vor sieben Jahren, losging mit dem Bürgerkrieg im Donbass, sind die Wehrpflichtigen nicht erpicht darauf, Gewalt gegen ihre Landsleute einzusetzen.« »Ich denke, hier im Westen ist der Nationalismus stark?« »Na ja. Auch hier im Westen gibt es keine große Begeisterung, sich als Wehrpflichtiger einberufen zu lassen.« Was Milo sagt, stimmt. Am 16. April 2014 endeten erste Operationen der 25. Luftlandedivision gegen die Aufständischen in Kramatorsk in Verbrüderung, mit Blumen und russischen Flaggen. Viele desertierten, so wie zuvor auf der Krim.(272) Dort waren 14 500 von 18 800 Armeeangehörigen übergelaufen und hatten sich der Sezession und der Eingliederung in die Russische Föderation angeschlossen.(273) Im August 2015 nannte die russische regierungskritische Website Meduza die Zahl von 8 000 ukrainischen Soldaten, die im Donbass überliefen. (274) Man musste also zunächst keine Wa en aus Russland heranschaffen. Da kaum jemand in den Regierungstruppen Lust hatte, sich in einem Bruderkrieg verheizen zu lassen, beschränkte sich die reguläre Armee auf Artilleriebeschuss, den Einsatz von Raketenwerfern und Luftangriffe mit SU-25-Bodenkampfjets. Gerade dadurch wurden viele zivile Opfer verursacht. Direkte Kampfeinsätze überließ man meist den Milizen.

»Seit Jahren werden Freiwilligenbataillone aufgestellt«, erzählt Milo. »Privatarmeen, die auch als Söldner bezahlt werden. Die Milizen gehen in den Donbass und sind dort als Kopfgeldjäger unterwegs.« »Als Kopfgeldjäger? Das kann nicht sein!« »Doch, sie bekommen Prämien für jeden getöteten Russen oder Separatisten. Diese Bataillone werden von Teilen der ukrainischen Armee ausgebildet und mit Waffen versorgt.« »Wie läuft das?« »Na ja, nach dem Motto: Dort hängt der Schlüssel zur Waffenkammer.« »Die müssen ja auch ausgebildet werden, oder?« »Trainiert werden sie«, so Milo, »in den Wäldern bei Mariupol. Dann gehen sie in den Donbass, wo sie die russischsprachige Bevölkerung terrorisieren und ausrauben.«

Diese Milizen rekrutierten sich auch aus den bewaffneten Maidan-Einheiten. Sie warben Armeefreiwillige an, aber auch ausländische Söldner, zum Beispiel aus Georgien und Rumänien. Ein zentrales Element waren nationalistische, ultranationalistische und neofaschistische Gruppen.(275) Daneben gab es Vertreter der ›White Supremacy‹-Bewegung aus Schweden und Deutschland sowie Veteranen der israelischen Givati-Brigade, Verbündete der ukrainischen »Blauhelme«, die auf dem Maidan aktiv waren. Zusätzlich kämpften islamistische Bataillone aus Tschetschenien für die Regierung in Kiew.(276)

Der Oligarch Ihor Kolomojskyj war der Hauptfinanzier dieser Einheiten und galt als der einzige echte antirussische Oligarch. Angeblich gab er zehn Millionen Dollar für die Gründung seines eigenen, 2 000 Mann starken Bataillons Dnipro 1 aus. Es ist nach dem Fußballclub der Stadt benannt. Mit dem Geld stellte er auch eine Reserve-Streitmacht von 20 000 Mann auf . Er unterstützte finanziell die Bataillone Asow, Aidar und Donbass und lieferte kostenlos Kraftstoffan die ukrainische Luftwaffe. (277) Dabei handelte Kolomojskyj auch in seinem eigenen geschäftlichen Interesse. Er war wie auch andere Oligarchen auf eine Neuorientierung der Ukraine Richtung Westen angewiesen. Er hatte es geschafft, bei der Privatisierung der Staatsfirma Burisma die größten Gasreserven der Ukraine in seinen Besitz zu bringen. Im Rahmen dieser Privatisierung übertrug er vier Gasfelder an die Holding der Janukowytsch-Familie. Weitere fünf Gasfelder wurden von Ukrnaftoburinnya übernommen, wobei 90 Prozent dieser Firma der Deripon Commercial Ltd. auf Zypern gehören, die wiederum im Besitz der Burrad Financial Corp. auf den Virgin Islands ist. Letztere ist eine Firma aus dem Umfeld seiner Privat Group. Durch solche Geschäftspraktiken hatten Kolomojskyj und die meisten anderen Oligarchen ihr Vermögen in westlichen Steuerparadiesen angelegt und waren allein schon dadurch erpressbar.

Die Ausbeutung des Dnjepr-Donezk-Feldes, des größten Gasvorkommens, das 67 Prozent der Reserven und 95 Prozent der Burisma-Produktion ausmacht, geriet durch den Aufstand im Donbass in Gefahr. Auch die Lizenzen von Burisma zur Nutzung des Asow-Kuban-Beckens standen auf dem Spiel. Das verleitete Kolomojskyj dazu, US-amerikanische Direktoren für Burisma einzustellen, Personen mit engen Verbindungen zu den höchsten Ebenen der Obama-Regierung. Diese Maßnahme sollte die Unterstützung der USA im Bürgerkrieg sicherstellen. Unter den Direktoren befand sich auch Hunter Biden, der Sohn von Joe Biden, der so zu einem reichen Mann wurde. (278) Als der ukrainische Generalstaatsanwalt wegen K orruption ermittelte, sorgte der damalige Vizepräsident Joe Biden dafür, dass der Generalstaatsanwalt entlassen wurde.(279) Wie soll ein Präsident für Frieden sorgen, wenn sich seine Familie an der Seite der Kriegstreiber maßlos bereichert?

Aber Kolomojskyj hatte mit den Russen noch andere Hühnchen zu rupfen. Bei der Übernahme der Raffinerie Krementschuk, der wichtigsten in der ganzen Ukraine, gelang es ihm zwischen 2008 und 2010, die russischen Investoren aus der Muttergesellschaft Ukrtatnafta zu verdrängen. Der Großteil der Anteile landete bei – Kolomojskyjs Privatbank. Die Ölfirma Tatneft aus Tatarstan, die noch zehn Prozent der Anteile hielt, stoppte daraufhin die Öllieferungen. Als Reaktion darauf nutzte Kolomojskyj die Ölpipeline-Firma Ukr TransNafta, die formal dem Staat gehörte, aber unter seiner Führung stand, und wechselte zu Azeri Oil.(280) Auch eine Auseinandersetzung mit dem ihm einst freundschaftlich verbundenen russischen Oligarchen Roman Abramowitsch eskalierte.(281) Kolomojskyj verkaufte ihm fünf Kokereien und Stahlfirmen für eine Milliarde Dollar in bar und eine weitere Milliarde in Anteilen an Abramowitschs Stahlfirma Evraz. Später verschleuderte er die meisten seiner Anteile und behauptete, Evraz werde schlecht geführt. Der Streit endete in heftigen Wutausbrüchen und einer Morddrohung gegen Putin. Der russische Präsident bezeichnete Kolomojskyj daraufhin als Dieb.(282)

Insgesamt wurden drei Dutzend Freiwilligen-Bataillone gegründet. Unter den vielen tausend bewaffneten Mitgliedern waren völlig skrupellose Rechtsextremisten und Kriminelle. Kolomojskyj setzte außerdem Kopfgelder für »russische Spione« aus. Vor dem Massaker in Odessa am 2. Mai 2014, bei dem das Gewerkschaftshaus von faschistischen Banden und dem Bataillon Dnipro 1 in Brand gesetzt wurde, hatte der Oligarch »eine Prämie von 5000 Dollar für jeden bei der Spezialoperation getöteten ›prorussischen Separatisten‹ ausgesetzt«, so Eric Zuesse. »Diese Summe beläuft sich bei geschätzten 116 Toten auf mehr als 500 000 Dollar, die vermutlich von seiner Bank der ukrainischen Regierung vorgestreckt wurden.« (283)

Aber Kolomojskyj musste sein Engagement nicht bereuen, denn er bekam seinen finanziellen Einsatz doppelt und dreifach zurück. Nach der Wahl am 22. Mai 2014 unterstützten US-dominierte Finanzinstitutionen das neue Regime in Kiew. Der IWF zahlte noch im Monat der Wahl die ersten 3,2 Milliarden Dollar eines Kredits an die Ukraine aus. Die Bedingungen dafür waren an strenge Sparmaßnahmen geknüpft. Die Auflagen betrafen jedoch nicht den Bürgerkrieg, der eigentlich eine solche IWF-Hilfe hätte ausschließen müssen. Wenig später stützte der IWF auch den Bankensektor des Landes. Kolomojskyjs Privatbank erhielt 1,8 Milliarden Dollar, was etwa 40 Prozent der fast fünf Milliarden Dollar IWF-Hilfe ausmachte, die der Oligarch später durch Pseudo-Verträge mit Offshore-Konten veruntreute. Im Dezember 2016 musste die Privatbank verstaatlicht werden. Die Geldgeber schauten weg.(284)

Hinter dem ganzen Manöver standen der Internationale Währungsfonds und die Vereinigten Staaten, wenn man dem Chefanalysten Neue Märkte der Standardbank glauben darf. Er sprach von einem »Vertrauensvorschuss« für die »Reformbemühungen« der neuen Führung in Kiew zur Durchsetzung einer neoliberalen Sparpolitik. Ein Teil der Kredite westlicher Geldgeber wurde auf Privatkonten in der Schweiz und in anderen Steuerparadiesen umgeleitet, während die Masse der Ukrainer die Zeche zahlen musste. Eric Zuesse fasst zusammen: »Darum geht es also im ukrainischen Bürgerkrieg: dafür zu sorgen, dass die Ukrainer für die Verluste aufkommen, die frühere Regierungen durch die massive Korruption verursacht haben, eine Umleitung des Geldes von den Massen zu den reichen Klassen.« In diesem Spiel war Ihor Kolomojskyj »Washingtons Mann in der Ukraine«.(285)

Die USA und die NATO hatten auch direkte Kontakte mit den Freiwilligen-Milizen. Sie arbeiteten eng mit dem Dnipro-Bataillon von Kolomojskyj zusammen, was dazu führte, dass Oberst Yuriy Bereza, der Kommandeur des Bataillons, Ende 2014 mehrmals den US-Regierungsberater Phillip Karber in Washington besuchte. Im Gegenzug verbrachte Karber Weihnachten im Hauptquartier des Dnipro-Bataillons in der Nähe der Front. Im Januar darauf wurde das Bataillon sogar auf Regimentsstärke vergrößert.(286) Auch das Asow-Bataillon, eine Hochburg der Sozial-Nationalen Versammlung, das von Gordon Hahn als »ultra-faschistisch« charakterisiert worden war, erhielt Unterstützung von US-Beratern und -Freiwilligen. Im Dezember 2015 hob der US-Kongress sogar eine Regelung auf, die die Begrenzung der Ukraine-Hilfe vorsah. (287)

Das Polizei-Bataillon Tornado, das von Innenminister Arsen Awakow für die östliche Ukraine aufgestellt wurde, erlangte wegen seiner Folterpraktiken einen furchterregenden Ruf. Einige Tornado-Offiziere sollten vor Gericht gestellt werden. Ende Mai 2016 musste jedoch ein Inspektionsteam des UN-Unterkomitees zur Verhinderung von Folter eine Inspektion von Gefängnissen des ukrainischen Geheimdienstes SBU abbrechen.(288) Ihnen wurde der Zugang zu den Gefängnissen verwehrt, die unter dem Verdacht standen, Gefangene unmenschlich zu behandeln. Awakow selbst erklärte im Juni 2014, dass es einer der »Vorteile des Krieges ist, dass er für die Nation eine ›reinigende‹ Wirkung haben kann«. Ein weiteres Mitglied der Kriegspartei, der damalige Chef der zivil-militärischen Verwaltung des Donbass, Pawel Schebriwskiy, ermutigte die Ukrainer, »sie sollten einen offenen, ernsten Krieg zwischen Russland und der Ukraine begrüßen«. Zugleich müsse jedoch der »innere Feind« bekämpft werden. Denn es sei das politische Ziel, darüber zu entscheiden, wer als ethnischer Ukrainer gelte und wer nicht.(289) Andriy Biletskiy, der Führer der Sozial-Nationalisten und Asow-Kommandeur, sah seine Truppen bei einer »historischen Mission«, nämlich als »Speerspitze des Kreuzzuges der weißen Rassen für ihr Überleben … und gegen von Semiten angeführte Untermenschen« (290). Der Swoboda-Politiker Oleksandr Sych erklärte im Februar 2014 vor dem Europäischen Parlament, dass »eine faschistische Diktatur der beste Weg ist, unser Land zu regieren«. Er wurde nach den Ereignissen auf dem Maidan zum stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt.(291) Die »Gasprinzessin« Julija Tymoschenko, Chefin der Vaterlandspartei, propagierte die Auslöschung aller Russen – nicht nur der in der Ukraine: »Sie müssen mit Atomwaffen vernichtet werden. Ich werde alle meine Verbindungen nutzen und die ganze Welt dazu aufstacheln, sobald ich kann, um das sicherzustellen. Diese Scheißkerle. Von Russland soll nicht einmal verbrannte Erde übrig bleiben.«(292)


Das sind die Leute, für die Kolja jetzt arbeitet, in seiner Uniform, mit seinem Sturmgewehr, und sein Leben einsetzt für ein Linsengericht. Kolja selbst ist kein »reinrassiger« Ukrainer, sondern das Kind einer Huzulin und eines Russen, der davongelaufen ist. Nun kämpft er mit der Waffe in der Hand für die Auslöschung der Russen und für eine reinrassige Ukraine. So präsentiert er sich auf Facebook. So sehr will er dazugehören, nicht mehr abseitsstehen, nicht mehr gegen seine eigene zerrissene Herkunft antrinken und auf den nächsten Rausschmiss warten, nicht mehr als Hirte auf einer Hochalm ein Niemand sein. Slawa Ukrajini!

Ruhm der Ukraine – seit 2018 ist dies der offizielle militärische Gruß. »Slawa Ukraini!« und die Erwiderung »Herojam Slawa« waren auch die Grußformeln der ukrainischen Division der Waffen-SS »Galizien«.(293) Ultranationalismus und Faschismus haben in der Ukraine eine lange Tradition. Beide entstanden – wie in fast allen europäischen Ländern – infolge des Ersten Weltkrieges als Reaktion auf den Krieg, die stärker werdende Arbeiterklasse und die revolutionären Bewegungen in Russland, Deutschland, Ungarn und anderen Ländern. In der Ukraine hat der Stalinismus paradoxerweise keine Zerschlagung, sondern eine – wenn auch lange Zeit verdeckte – Kontinuität ultranationalistischer und faschistischer Bewegungen bewirkt.(294)

Anders als in anderen europäischen Ländern gab es aufgrund der Spaltung des Landes in einen kleinen Habsburger und einen großen russischen Teil sowie der ökonomischen Rückständigkeit keine starke bürgerliche Nationalbewegung. Ein großer Teil der Stadtbevölkerung bestand aus Russen, Juden und Deutschen, während die ukrainische Bevölkerung vor allem auf dem Land lebte. Als schließlich nach der Februarrevolution 1917 bürgerliche Kräfte für kurze Zeit einen ukrainischen Staat errichteten, war das Bürgertum sofort mit der revolutionären Arbeiterklasse konfrontiert, da die russischen Bolschewiki vor allem im Osten breite Unterstützung fanden. Seither ist der bürgerliche Nationalismus in der Ukraine durch Antikommunismus, Pogrome an Arbeitern und Juden sowie das Bemühen gekennzeichnet, Unterstützung bei imperialistischen Mächten im Westen zu erhalten. Nach dem Frieden von Brest-Litowsk marschierten deutsche Truppen ein, setzten die Rada, das bürgerliche Parlament, außer Kraft und etablierten eine Diktatur unter dem »Hetman« Pawlo Skoropadskyj. Skoropadskyj, ein Großgrundbesitzer und zaristischer General, machte Kiew zu einem Sammelplatz für rechtsextreme und antisemitische Kräfte aus Russland.(295) Nach dem Abzug der Deutschen ermordeten die Weißen Truppen unter General Denikin im Russischen Bürgerkrieg allein in der zweiten Hälfte des Jahres 1919 etwa 50 000 Juden. In Kiew übernahm ein Direktorium unter der Führung des Nationalisten Symon Petljura die Macht. Auch er suchte die Unterstützung der Westmächte, kämpfte gegen die Sowjetregierung und war für die Ermordung von mehr als 30 000 weiteren Juden verantwortlich. Petljura zählt neben Stepan Bandera zu den Vorbildern der heutigen ukrainischen Nationalisten.(296)

Während die Westukraine 1921 unter polnischer Herrschaft blieb, brachte der Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg der Sowjetrepublik Ukraine einen enormen Gebietszuwachs: Der Donbass wurde ihr zugeschlagen. Im Zuge der Industrialisierung wanderten viele Menschen aus anderen Teilen der Sowjetunion ein, eine wesentliche Grundlage für die heutigen ethnischen Konflikte.(297) Die Menschen in der Ukrainischen Sowjetrepublik erlebten eine spürbare Verbesserung des Lebensstandards: Die Analphabetenrate sank massiv, im gesamten Land wurden Schulen und Universitäten errichtet und die ukrainische Sprache wurde gefördert. Die Westukraine hingegen blieb unter polnischer Herrschaft. Der Stalinismus machte der Leninschen Nationalitätenpolitik ab Ende der 1920er-Jahre ein Ende. Die verheerenden Auswirkungen der Zwangskollektivierung und der Unterdrückung nationalistischer Bewegungen stärkten »nationalistische Untergrundgruppen, die von fanatischen Antikommunisten, Nachfolgern der Petljura-Anhänger und Vorläufern der Bandera-Leute geleitet wurden«(298). Stalins mörderische Repressionspolitik und der Massenmord des Holodomor spielten den ukrainischen Nationalisten und Faschisten in die Hände, die im westlichen Teil des gespaltenen Landes agitierten und nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion mit Hitler kollaborierten.

Ein Sammelbecken der Kollaborateure war die Organisation Ukrainischer Nationalisten ( OUN), von der
bereits die Rede war. Bereits in den 1930er Jahren verübte sie Terroranschläge in der Ukraine, Rumänien, Polen und der Tschechoslowakei. Ihr ideologischer Kopf war Dmytro Donzow (1883–1973), der die These von der »Amoralität« aufstellte und forderte, mit jedem Feind Großrusslands ungeachtet dessen eigener Ziele zusammenzuarbeiten. Dies war die ideologische Rechtfertigung für die Kollaboration mit Nazideutschland und später mit den US-Amerikanern im Kalten Krieg. Im Jahr 1940 spaltete sich die OUN in eine Bandera-(OUN-B)- und Melnyk-(OUN-M)-Fraktion. Ukrainische Milizen ermordeten unter den Augen der Nazis bei etwa 140 Pogromen in Lwiw, Ternopil, Stanislau – dem heutigen Ivano-Frankivsk – und an anderen Orten bis zu 35 000 Juden. (299) Von der Zusammenarbeit ukrainischer Nationalisten und westlicher Geheimdienste war bereits die Rede. Eine Schlüsselrolle spielte dabei Reinhard Gehlen, der Hitlers Militärgeheimdienst an der Ostfront geleitet hatte und nun seine alten Kontakte zu ukrainischen Kollaborateuren für Washington nutzbar machte. Bis zu ihrer vollständigen Zerschlagung im Jahr 1953 tötete die Ukrainische Aufstandsarmee ( UPA) rund 20 000 Ukrainer. Auch in den Folgejahren wurden nationalistische Propagandaschriften, die teilweise von der CIA hergestellt wurden, über das westukrainische Lwiw, Polen und die Tschechoslowakei in die Sowjetukraine geschmuggelt. Nachdem US-Präsident Jimmy Carter den aus Polen stammenden Zbigniew Brzeziński im Jahr 1977 zum Sicherheitsberater ernannt hatte, wurden die Mittel für antisowjetische ukrainische Propaganda aufgestockt. Im Jahr 1983 empfing US-Präsident Ronald Reagan den OUN-B-Führer und Kriegsverbrecher Jaroslaw Stezko im Weißen Haus und versicherte: »Ihr Kampf ist unser Kampf . Ihr Traum ist unser Traum.«(300) Die Unterstützung aus den USA hatte einen großen Einfluss auf Oppositionsgruppen und regierungsfeindliche Aktivitäten in den späten 1980er Jahren. Es kam zu einem Re-Import ultranationalistischer Gedanken aus der ukrainischen Diaspora.

Die Verflechtung des ukrainischen Nationalismus mit dem Atlantischen Block, die auf die Zeit des ersten Kalten Krieges zurückgeht, erhielt nach dem Zusammenbruch der UdSSR eine neue Qualität. Einige OUN-Nationalisten strömten aus den USA und aus Kanada in die Ukraine zurück. Der kommunistische Parteichef Leonid Krawtschuk blieb bis 1994 als Präsident im Amt. Er stützte sich auf die nationaldemokratische Partei Ruch, die bereits in den 1980er Jahren sich in der Westukraine zu organisieren begonnen hatte. Sie war nicht monolithisch ukrainisch-nationalistisch; im Unabhängigkeitslager wurden anfangs auch föderalistische Überlegungen artikuliert. (301)

Auf der anderen Seite schossen nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 rechtsextreme Organisationen wie Pilze aus dem Boden. Russische Historiker zählen mehrere Dutzend neofaschistische Organisationen und nennen 27 namentlich.(302) Noch im Jahr 1991 gründeten OUN-Veteranen und mit ihnen verbundene Nationalisten aus verschiedenen rechtsextremistischen Gruppierungen der Ukraine in Lwiw die Ukrainische Nationalversammlung (UNA), zusammen mit ihrem bewaffneten Arm, der Ukrainischen Selbstverteidigung des Volkes (UNSO). In einem Telegramm der US-Botschaft in Kiew wurde die UNA-UNSO als faschistisch bezeichnet. Es hieß darin, dass sie ab 1992 mit moldauischen Truppen in Transnistrien, auf der Seite Georgiens gegen Abchasien, mit Tschetschenen gegen Russland und an der Seite der Serben im Kosovo gekämpft haben soll. (303)

Der extreme Nationalismus fand seine Stimme auch in der Sozial-Nationalen Partei der Ukraine (SNPU), die in der Tradition von Stepan Bandera steht. Zu den Gründern zählen Oleh Tjahnybok und Andrij Parubij. Ihr Markenzeichen ist das Nazi-Emblem »Wolfsangel«, das während des Zweiten Weltkrieges das Symbol der Waffen-SS-Division »Das Reich« war. Organisierte Skinheads und Hooligans bildeten als »Patriot der Ukraine« ihren paramilitärischen Flügel, der von 1998 bis 2004 von Parubij geführt wurde. Aus der SNPU ging 2004 die Partei Swoboda hervor.(304)

Das Projekt eines ethnisch einheitlichen Nationalstaates entwickelte sich unter Krawtschuk und ab 1994 unter Leonid Kutschma als »aggressive Politik der Ukrainisierung, angetrieben durch eine zunächst antisowjetische, später antirussische Dynamik«.(305) Krawtschuk wollte durch die Fokussierung auf die ethno-nationale Vereinheitlichung den Einfluss der postsowjetischen Staatsklasse neutralisieren. Im Jahr 1996 signalisierte er, dass die Ukraine ihre Unabhängigkeit stärken und sich deutlicher an die NATO anlehnen wolle.(306) Die Verfassung von 1996 definierte die Ukraine als einheitlichen Nationalstaat mit Ukrainisch als der einzigen Staatssprache und Russisch als einer der Minderheitssprachen. Die Zurückstufung des Russischen als Sprache von Wissenschaft und Kultur auf den Status einer Minderheitensprache führte zu weit verbreiteter Unzufriedenheit.(307) Gehaltserhöhungen für Lehrpersonal wurden davon abhängig gemacht, dass von Russisch auf Ukrainisch gewechselt wurde. Anfang 1997 schaffte die staatliche Universität Saporischschja die Fakultät für russische Sprache und Literatur ab, versetzte die Dozenten in andere Fakultäten und reduzierte die Zahl der Studenten. Dadurch betrachtete sich die russischsprachige Bevölkerung allmählich als diskriminierte Minderheit. (308)


Im Jahr der Orangenen Revolution, 2004, wurde die Sozial-Nationale Partei der Ukraine (SNPU) in Swoboda (Freiheit) umbenannt. Parubij verließ die Partei und die Patrioten der Ukraine, um sich Wiktor Juschtschenkos Partei »Unsere Ukraine« anzuschließen, wodurch er große Teile der extremen Rechten hinter sich hatte. Juschtschenko gelangte durch die Orangene Revolution ins Präsidentenamt und betrieb fortan die Rehabilitierung der OUN und UPA. Im Jahr 2010 erklärte Juschtschenko den Faschistenführer Stepan Bandera zum Helden der Ukraine. Ihm zu Ehren wurden in Lwiw und Ternopil Denkmäler errichtet, und auch andere Faschisten wurden mit Sonderbriefmarken und Münzen geehrt. (309) Der Vorsitzende von Swoboda, Oleh Tjahnybok, hatte 2002 erklärt: »Ihr habt gegen Moskali (verächtliche Form für Russen), Deutsche, Zhydy (verächtliche Form für Juden) und anderen Abschaum gekämpft … Euch fürchtet die jüdisch-russische Mafia in der Ukraine am meisten.« Die Szene ist dokumentiert, aber auf YouTube inzwischen nicht mehr abrufbar.(310) Nationalistische Aufmärsche waren in der Ukraine bereits lange vor dem Krieg Teil des Alltags.(311) Diese nationalistische Stimmung ndet auch in akademischen Kreisen ihren Ausdruck, wo die Grenze zwischen Forschung und Propaganda oft verwischt wird. Große Buchläden verkaufen oft antisemitische Literatur, die den Holocaust leugnet. Manches davon ndet sogar den Weg in die Mainstream-Forschung.(312)


Die Zusammenarbeit des Juschtschenko-Regimes beschränkte sich nicht nur auf Swoboda. Im Jahr 2022 schloss sich auch der o en antisemitische Kongress Ukrainischer Nationalisten (KUN) Juschtschenkos Block »Unsere Ukraine« an. Swoboda konnte ihre Mitgliederzahl bis 2010 verdreifachen, schnitt aber bei Wahlen nur bescheiden ab. Erst bei den Parlamentswahlen 2012 zog sie mit 10,45 Prozent als viertstärkste Kraft in die Werchowna Rada ein. Anders sah es in der Westukraine aus: In drei Verwaltungsbezirken erreichte Swoboda 30 bis 40 Prozent. In Lwiw kam sie auf mehr als 50 Prozent, in Kiew wurde sie zweitstärkste Kraft. Am 28. April 2011 feierte sie den 68. Jahrestag der Aufstellung der Wa en-SS-Division »Galizien«. Die Teilnehmer skandierten: »Eine Rasse, eine Nation, ein Vaterland!«

Durch das Streben nach einem mono-nationalen Staat haben sich die Wege der Ukraine und Russlands getrennt. Die russische Politik basierte ursprünglich auf dem Geist des Internationalismus und der Autonomie, während die Ukraine nun einen Prozess der Nationenbildung eingeleitet hat. Die Kräfte, die nach dem Maidan an die Regierung kamen, hängen an der Idee fest, Menschen würden durch Blutsbande zusammengehalten und der Status des Fremden sei problematisch, wenn nicht gar illegitim. Diese Kräfte wurden vom Westen unterstützt, obwohl man hätte wissen können, dass ein solches rassistisches Konzept in einem Vielvölkerstaat wie der Ukraine heikel, wenn nicht gar selbstzerstörerisch ist.(313) Aber damit konnte, wie van der Pijl es ausdrückt, der ukrainische Nationalismus anknüpfen an den »gefährlichen Mix aus globalen Herrschaftsansprüchen und militärischem Abenteurertum des anglophonen Westens und seiner EU-Satrapie« (314).

»Dort, wo Kolja herkam«, erzählt Bauer Milo, »wurde auf den Dörfern Ruthenisch gesprochen. Die Lehrer in der Dorfschule haben sich wohl Mühe gegeben, Ukrainisch oder Russisch zu reden. Aber das Sprachengewirr ist hier normal. Tschechen, Slowaken, Ungarn, Polen, Russen waren hier.« Auf den Dörfern in Transkarpatien war man froh, wenn es einen Dor ehrer gab, der den Kindern überhaupt etwas beibrachte. »Ist das nicht verrückt, in einem Land mit so vielen unterschiedlichen Volksgruppen die Nationalität auf ukrainische Blutsverwandtschaft gründen zu wollen? Wie soll das gehen?« »Keine Ahnung. Es geht auch nicht, wie du siehst. Das Land zerbricht daran!«

Es gibt keinen Zweifel, dass die extreme Rechte seit 1991 im Westen des Landes für jedermann sichtbar präsent war. Es war in den westlichen Regionen, wo Maidan-Demonstranten zum ersten Mal große Mengen an Waffen von den Strafverfolgungsbehörden erbeuteten. Später kamen sie bei den Zusammenstößen mit der Polizei in Kiew zum Einsatz. In den westlichen Regionen begann der damalige Regierungschef Janukowytsch die Kontrolle über das Land zu verlieren. In Lwiw wurde das Rathaus von bewaffneten Banden gestürmt. Sie hissten Nazi-Flaggen und plünderten ein Militärdepot. Es wurden öffentliche Gebäude besetzt und Volksräte aufgebaut. Während des Maidan fanden nur 14 Prozent der über 3000 Protestereignisse in Kiew statt, aber zwei Drittel im Westen und in der Mitte des Landes. Von den konfrontativen und gewalttätigen Vorfällen wurden fast so viele in den westlichen Regionen wie im Zentrum und in Kiew zusammen notiert. Die nationalistischen westlichen Zentren der Revolte waren nicht nur lokale Brennpunkte für die Mobilisierung von Menschen und die Teilnahme an Demonstrationen und an Zeltlagern in Kiew. Ebenso wichtig war die lokale Mobilisierung gegen regional ernannte Gouverneure und Mitglieder von Regionalräten aus Janukowytschs »Partei der Regionen«. In den Oblasten Wolhynien, Lwiw und Ternopil, in denen Swoboda 2009/10 die Mehrheit errungen hatte, wurden neue administrative Strukturen aufgebaut. Die regionalen Zentren der Revolte trugen zur raschen Eskalation der Gewalt bei. (315)

Die faschistischen Banden behielten ihre Waffen über den Maidan hinaus. Am 11. Juli 2015 kam es in Mukatschewo, in der Nähe der ungarischen Grenze in den Karpaten, zu einem Feuergefecht zwischen 21 Mitgliedern des Rechten Sektors und der Polizei. Bei Schießereien auf offener Straße, bei denen Maschinengewehre auf Pickups eingesetzt wurden, gab es mehrere Tote und Verletzte. Der Grund dafür waren offenbar Rivalitäten um den Tabakschmuggel in die EU. Sowohl der Rechte Sektor als auch die Polizei sollen davon profitiert haben. Eine Partei wollte offenbar kein Schutzgeld bezahlen. Die Führung des Rechten Sektors erklärte dazu, dass die Bewegung das Recht habe, auch außerhalb des Kampfgebiets im Donbass Waffen zu tragen und einzusetzen. Präsident Poroschenko entsandte daraufhin das Militär und tauschte den Gouverneur  aus.(316) Aber der Rechte Sektor stellt Kämpfer für den Bürgerkrieg, die braucht die Regierung. Diese Kräfte sollten jeden versöhnlichen Ansatz gegenüber der russisch-ukrainischen Bevölkerung blockieren und das Land in eine endlose Misere führen. Sie leben vom Krieg, aus ihren Beutezügen. Der Krieg ernährt sie, stillt ihren Hunger und gibt ihnen das Nötige zum Leben für ihre Familien und Ehre, Ruhm, Kameradschaft, Führung. Söldner sind es, die für den Krieg leben und aus dem Krieg. Der Krieg darf nicht enden, niemals, er ist mehr als ein Handwerk, er ist der Vater aller Dinge.

Seit dem Putsch auf dem Maidan kann sich keine ukrainische Regierung ohne Duldung durch die Faschisten halten. Die Milizen haben durch permanente Verletzungen der Waffenstillstands-Vereinbarungen die Umsetzung der Abkommen von Minsk blockiert. Nach einem Treffen von Selenskyj mit Asow-Kämpfern in der Stadt Solote an der Kontaktlinie zur »Volksrepublik« Luhansk im Oktober 2019 erklärte Andrij Bilezkij, der Gründer der Organisation und Chef der Partei »Nationales Korps«, dem Präsidenten, dass das Minsk-II-Abkommen nicht umgesetzt werden dürfe. Zehntausende seiner Leute würden sich widersetzen: »Dieses Recht haben sie sich mit ihrem Blut verdient.« Im Mai 2019 warnte Dmytro Jarosch, der Mitgründer des Rechten Sektors, Präsident Selenskyj: »Das ist unser Staat! Und wir werden ihn nicht jedem überlassen, der ihn haben will.« Minsk II sei »eine Gelegenheit zum Manövrieren. Aber nicht mehr als das … Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen wäre der Tod unseres Staates.« Selenskyj werde »an einem Baum in der Chreschtschatik hängen, wenn er die Ukraine und die Menschen, die in der Revolution und im Krieg gestorben sind, verrät«. (317) Jarosch ist inzwischen Berater des Generalstabs. Ein Teil seiner Miliz wurde im März 2022 in die Spezialkräfte integriert. Ein anderer bildet jetzt den Kern der 67. Separaten Mechanisierten Brigade »DUK«. Dadurch erhalten mindestens 5 000 Kämpfer Zugang zu modernen westlichen Waffen. Sie wollen weiterkämpfen, bis sie den »Sieg über den Ruinen des brennenden Kremls feiern« können. Die Asow-Bewegung unterhält einen eigenen Geheimdienst. Ultrarechte Milizen waren die Treiber der sogenannten »Anti-Terror-Operation« im Donbass. Sie spielen eine Schlüsselrolle beim Terror des Innenministeriums und des Geheimdienstes SBU gegen Oppositionelle und bei der Unterdrückung des Widerstands aus der Bevölkerung gegen die faktische Eingliederung in die NATO. Im Krieg stellen sie die Elitekämpfer dar, die als Antreiber der zwangsrekrutierten Ukrainer in Bachmut und anderen Blutmühlen unverzichtbar sind.

Zur Strategie der Selenskyj-Partei »Diener des Volkes« gehört es offenbar, die Faschisten in den Sicherheitsapparat einzubinden. Dabei treten sie immer wieder als Zwangsvollstrecker des Präsidenten auf . Bei der Schließung der oppositionellen Fernsehsender News One, Zik und 112 am 3. Februar 2021 prahlte Andrij Medwedko, Führer der Neonazi-Schlägertruppe »C 14« und mutmaßlicher Mörder des Journalisten Oles Busyna: »Wir sind Selenskyjs schwarzer Haufen.« Im Mai 2021 tauchten Berichte auf, dass Selenskyj einen ehemaligen Anführer des Rechten Sektors, Serhij Sternenko, zum Leiter des Geheimdienstes SBU in Odessa ernennen wolle. Sternenko war direkt in die Morde im städtischen Gewerkschaftshaus im Jahr 2014 verwickelt. Allerdings musste er 2021 eine Haftstrafe antreten, wurde jedoch schnell wieder auf freien Fuß gesetzt.(318) Mit dem Beginn des Krieges verstärkte sich die Integration faschistischer Milizen in den Staat. Auf Betreiben der NATO und der EU wurden rechte Organisationen durch die Eingliederung in die Armee, die Nationalgarde, den SBU und andere Geheimdienste legalisiert. Dadurch verwandelten sie sich in eine machtvolle politische Kraft. Im Parlament macht die Selenskyj-Partei »Diener des Volkes« in entscheidenden Punkten gemeinsame Sache mit Ultrarechten. Im Dezember 2020 brachte sie gemeinsam mit der Asow-P artei »Nationales Korps« ein »Antikollaborationsgesetz« auf den Weg. Dieses Gesetz wurde im März 2022 von der Werchowna Rada verabschiedet. Damit können praktisch alle Verbindungen zu Russland kriminalisiert werden. Bei Verstößen drohen Gefängnisstrafen von bis zu 15 Jahren. (319)

Der Mitfinanzier der Bataillone Asow, Dnipro und Ajdar, Ihor Kolomojskyj, kümmert sich auch um den Präsidenten. Kritiker werfen ihm vor, zwischen 2012 und 2016 insgesamt 41 Millionen Dollar in Offshore-Firmen wie Heritage in Belize gelenkt zu haben, die Selenskyj gehören – Vorwürfe, die zumindest teilweise durch die »Pandora Papers« belegt werden. Der ehemalige Chef der faschistischen »Ukrainischen Nationalen Selbstverteidigung« UNA-UNSO erklärte im März 2022:

»Ich war wütend auf das ukrainische Volk – wie konnten sie einen Juden als eines der nationalen Symbole wählen!? Aber es hat sich herausgestellt, dass es sogar besser ist, wenn er ein Jude ist. Versuchen Sie doch nur einmal zu behaupten, wir würden den Nazismus unterstützen.« (320)

»Die Ukraine«, so die exzellente Rechercheurin Susann Witt-Stahl, »ist längst zum Menschenjagdrevier der militanten Rechten und Eldorado für ihre kriminellen Machenschaften verkommen«.(321)

Der Krieg hatte bereits begonnen, da telefoniere ich wieder einmal mit dem Bauern Milo. »Inzwischen stellen die Bauern in den Karpaten am Fuß der Täler Wachen auf. Sie schlagen Alarm, wenn die Polizei kommt. Dann verschwinden die Männer im Wald, damit sie nicht eingezogen werden.« »Hast du noch etwas von Kolja gehört?«, frage ich. »Er hat mich noch eine Weile lang angerufen«, sagt Milo, »fast wie ein Hilferuf. Du hast mich rausgeworfen, hier, schau, wozu ich gebraucht werde! Du kannst mich rauswerfen, ich bin nicht auf dich angewiesen, ich bin ein Kämpfer.« »Und seit Kriegsbeginn?«, frage ich weiter. »Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Es sind Jungs wie Kolja, schon lange an der Waffe ausgebildet, bevor die Russen kamen, die als Erstes an die Front geschickt wurden. Nicht alle haben Glück, und mancher Tag ist länger als ein Leben.«