10. Kapitel--I: Ihre räumliche Verbreitung 1911: Die Juden und das Wirtschaftsleben von Werner Sombart: Zweiter Abschnitt - 10. Kapitel: Die objektive Eignung der Juden zum Kapitalismus

Nun wäre also, nachdem wir erfahren haben, was dem kapitalistischen Wirtschaftssubjekt, damit es sich durchsetze, zu leisten obliegt, die Frage zu beantworten: welche Außeren Umstände möglicherweise es bewirkt haben, daß die Juden eine so hervorragende Rolle bei der Herausbildung dieses kapitalistischen Wirtschaftssystems spielen konnten, Einer Prüfung zu unterwerfen ist also die eigentümliche Lage, in die die Juden Westeuropas und Amerikas seit dem Ende des 15. Jahrhunderts, gerieten und in der sie sich während der folgenden drei oder vier Jahrhunderte, also in dem Zeitraum, in dem der moderne Kapitalismus gebildet wurde, befunden haben.

Wodurch wird sie gekennzeichnet?

Ganz allgemein hat das der Gouverneur von Jamaica in einem Brief an den Staatssekretär vom 17. Dezember 1671. treffend ausgesprochen, als er schriebt:

„he was of opinion that His Majesty could not have more profitable subjects than the Jews they had great stocks and Correspondance“.

In der Tat ist mit diesen beiden Besonderheiten ein wesentlicher Teil des Vorsprungs bezeichnet, den die Juden vor den andern voraus hatten. Nur muß zur Vervollständigung hinzugefügt werden: ihre eigentümliche Stellung innerhalb der Volksgemeinschaften, in denen sie wirkten. Sie läßt sich als Fremdheit und als Halbbürgertum kennzeichnen, Ich will also vier Umstände hervorheben, die die Juden besonders geeignet machten (und machen), so Bedeutsames zu leisten:

  1. ihre räumliche Verbreitung;
  2. ihre Fremdheit;
  3. ihr Halbbürgertum;
  4. ihren Reichtum,

I. Die räumliche Verbreitung

Bedeutungsvoll für das Verhalten der Juden ist natürlich zunächst und vor allem ihre Zerstreuung über alle Länder der bewohnten Erde geworden, wie sie ja seit dem ersten Exil bestand, wie sie aber von neuem in besonders wirkungsreicher Weise sich seit ihrer Vertreibung aus Spanien und Portugal und seit ihrer Rückströmung aus Polen wieder vollzogen hatte. Wir sind ihnen auf ihrer Wanderung während der letzten, Jahrhunderte gefolgt und haben sie sich in Deutschland und in Frankreich, in Italien und in England, im Orient und in Amerika, in Holland und in Osterreich, in Südafrika und in Ostasien frisch ansiedeln sehen.

Die natürliche Folge dieser abermaligen Verschiebungen, innerhalb kulturell zum Teil schon hoch entwickelter Lander war die, das Teile einer und derselben Familie an den verschiedensten Zentren des Wirtschaftslebens sich ansiedelten und große, Welthäuser mit zahlreichen Filialen bildeten. Um nur ein paar zu nennen (398):

  • die Familie Lope, hat ihren Sitz in Bordeaux und Zweighäuser in Spanien, England, Antwerpen, Toulouse;
  • die Familie Mendes, ein Bankhaus, residiert ebenso in Bordeaux und hatFilialen in Portugal, Frankreich, Flandern; ein Zweig der Familie Mendes sind wieder die Gradis mit zahlreichen Zweigniederlassungen;
  • die Carceres finden wir in Hamburg, in England, in Osterreich, Westindien, Barbados, Surinam ansässig;
  • andere bekannte, Familien mit einem weltumspannenden Netz von Filialen sind, die Costa (Acosta, DAcosta), die Conegliano, die Alhadib, dieSasson, die Pereire, die Rothschild.

Aber es hat keinen Sinn, die Liste zu verlängern: die jüdischen Geschäftshauser, die wenigstens an zwei Handelsplätzen der Erde vertreten sind, zählten und zahlen nach Hunderten und Tausenden, Es gibt kaum eines von Bedeutung, das seinen Fuß nicht mindestens in zwei verschiedenen Ländern hätte.

Und was für eine große Bedeutung diese Zerstreuung für das Fortkommen der Juden haben mußte, braucht auch kaum ausführlich begründet zu werden: es liegt auf der Hand und ist in dem ersten Teile dieses Buches öfters an Beispielen verdeutlicht worden. Was sich christliche Häuser erst mit Mühe, schaffen mußten, was sie aber nur in den seltensten Fällen in gleich vollkommener Weise erreichten: das nahmen die Juden von Anbeginn ihrer Tätigkeit mit auf den Weg: die Stützpunkte, für alle internationalen Handels- und Kreditoperationen: die „great correspondance“ diese Grundbedingung erfolgreicher internationaler Geschäftstätigkeit.

Ich erinnere an das, was ich über die Anteilnahme der Juden am spanisch-portugiesischen Handel, am Levantehandel, an der Entwicklung Amerikas gesagt habe: ganz besonders wichtig war der Umstand, daß sich ein großer Teil von ihnen gerade von Spanien aus verzweigte: dadurch leiteten sie den Strom des Kolonialhandels und vor allem den Silberstrom in die Betten der neu emporkommenden Mächte: Holland, England, Frankreich, Deutschland.

Bedeutsam, daß sie gerade nach diesen Ländern, die im Begriffe waren, einen großen wirtschaftlichen Aufschwung zu erleben, mit Vorliebe sich wandten und damit gerade diesen Ländern die Vorteile ihrer internationalen Beziehungen zuteil werden ließen. Bekannt ist es, daß die flüchtigen Juden mit Vorbedacht den Strom des Handels von den Ländern, die sie vertrieben hatten, ablenkten, um ihn denjenigen zuzuführen, die sie gastlich aufgenommen hatten.

Bedeutsam, daß sie Livorno und damit das Einfallstor in die Levante beherrschten: Livorno wird im 18. Jahrhundert genannt: „un des grands magasins de l’Europe pour le commerce de la Méditerranée.“ (399)

Bedeutsam, daß sie zwischen Süd- und Nordamerika ein Band herstellten, das, wie wir sahen, den nordamerikanischen Kolonien erst ihre wirtschaftliche Existenz möglich machte.

Bedeutsam natürlich vor allem (wie auch gezeigt wurde), daß sie durch die Beherrschung der großen Börsen an den Hauptplätzen Europas die Internationalisierung des Kreditverkehrs anzubahnen berufen waren. Alles zunächst nur dank der Tatsache ihrer Zerstreuung.

Sehr hübsch veranschaulicht diese eigentümliche Bedeutung des jüdischen Internationalismus für die Entwicklung des modernen Wirtschaftslebens ein Bild, dessen sich vor zweihundert Jahren ein geistvoller Beobachter in einer Studie über die Juden bediente, und das noch heute seine Frische vollauf bewahrt hat. In einer Korrespondenz des Spectator vom 27. September 1712 heißt es (400):

„They are .. s0 disseminated trough all the trading Parts of the World, that they are become the Instruments by which the most distant Nations converse with one another and by which mankind are knit together in a general Correspondance, they are like the Pegs and Nails in a great Building, which, though they are but little valued in themselves, are absolutely necessary to keep the whole Frame together.“

Wie die Juden den großen Vorteil, den ihnen ihre räumliche Verbreitung gewährte, systematisch ausnutzten, um sich über die Lage an den verschiedenen Plätzen der Erde rasch und zuverlässig zu unterrichten und im Besitze bester Informationen, dann an der Börse ihr geschäftliches Verhalten je nach dem Stande der Dinge vorteilhaft einzurichten: das erzählt uns mit Angabe aller wünschbaren Einzelheiten der schon einmal erwähnte Bericht des französischen Gesandten im Haag aus dem Jahre 1698 (401). Auf diesem genauen Unterrichtetsein, meint unser Gewährsmann, beruht zum guten Teil die überragende Stellung, die die Juden an der Amsterdamer Börse einnehmen: denn daß sie diese im wesentlichen beherrschen, hatte er schon ausgeführt.

Angesichts der Wichtigkeit dieses einwandfreien Zeugnisses will ich im folgenden die Hauptpunkte daraus mitteilen und da der französische Text nicht leicht verständlich ist und für die Übersetzung Schwierigkeiten macht, so gebe ich erst die Originalfassung wieder und füge die Übersetzung hinzu, die mir den Sinn richtig zu treffen scheint,

„Is sentretiennent sur les deux (se. nouvelles et commerce) aves ce qu’ils appellent leurs congregues (sic) dont celle de Vénise (noique moins riche et moins nombreuse) est néanmoins comptée pour la première entrecelles qu’ils nomment grandes parce guelle lie l’Occident avee l’Orient et le Midi par la congregue de Salonique, qui régit leur nation en ces deur autres parties du monde et en répond ave celle de Venise Jui, ave celle d’Amsterdam, regit toutes les parties du nord (dans lesquelles ils comptent, celle tolérée de Londres et celles secretes de France) en sorte ud ces deux egards, commerce et nouvelles, on pent dire utils sont les premiers et les mieux informés de tout ce huise ment dans le monde, dont ils batissent leur aysteme de chaque semaine dans leurs assemblées qu’ils tiennent fort à propoos le lendemain du samedi, cest-dire le dimanche, pendant gue les chrétiens de toutes sectes sont occupés aux devoirs de leur religion. Ces systemes, qui sont le plus subtil de tont ce Julile ont requ de nouvelles de la semaine, alambiquées par leurs rabis et chefs de congregues, sont des l’aprésmidi du dimanche, délivrés a leurs courtiers et agents juifs, les hommes les plus adroits en ce genre Jutil 7 ait an monde, qui, avant aussi concerts entre enz, vont séparément, des le méme jour, répandre les nouvelles accommodées à leurs fins quile vont commencer à suivre dés le lendemain, Jundi matin, selon qu’ils voient la disposition des esprits à tons les gards particuliers: vente, achat, change et actions, dans tons lesquels geures de choses, ayant toujours entre eux de grosses masses et provisions, ils sont sclairés à faire le coup dans Pactif, dans le passik ou souvent dans tous les deux en méme temps.“

„Sie unterhalten sich über die beiden (d. h. Neuigkeiten und Handel) mit dem, was sie ihre Brüderschaften (congregues) nennen, von denen die von Venedig (obgleich weniger reich und zahlreich) als die erste angesehen wird unter denen, die sie die großen nennen, weil sie den Westen mit dem Osten und dem Süden verbinde durch die Brüderschaft von Salonicki, welche ihre Nation in jenen beiden anderen Weltteilen regiert und für sie haftet (? en répond) mit der von Venedig, welche, mit der von Amsterdam, alle nördlichen Teile beherrscht (unter die sie die von London nur geduldete und die geheimen in Frankreich zählen), sodaß sie in diesen beiden Beziehungen, Handel und Neuigkeiten, die ersten und am besten unterrichtet sind über das, was in der Welt vorgeht, woraus sie dann ihr System, aufbauen jede Woche, in ihren Versammlungen, welche sie sehr, zweckmäßig den Tag nach dem Samstag, das heißt am Sonntag, halten, während die Christen aller Sekten mit den Pflichten ihrer Religion beschäftigt sind. Diese Systeme, die aus dem Feinsten, und Spitzfindigsten bestehen, was sie von Neuigkeiten während, der Woche empfangen haben, durchsiebt und geläutert durch ihre Rabbis und Schriftgelehrten, werden schon am Sonntag nachmittag ihren jüdischen Börsenmaklern und Agenten zugestellt, welche die denkbar gewitzigsten in dieser Art sind. Nachdem sich diese nun auch untereinander besprochen haben,gehen sie einzeln noch am selben Tage diese für ihre Zwecke zurechtgelegten Nachrichten zu verbreiten; den nächsten Tag, (Montag morgen) fangen sie sodann gleich an, sie ins Werk zu setzen, je nachdem sie die Stimmung der einzelnen geneigt, finden: zu Verkauf, Kauf, Wechsel und Aktien. Da sie immer große Summen und Vorräte in allen diesen Artikeln bereit halten, sind sie stets in der Lage, richtig abmessen zu können, wann der beste Moment gekommen ist, a la hausse oder à la baisse oder auch zu gleicher Zeit in beiden Richtungen ihre Coups auszuführen.“

Von wesentlichem Vorteil wurde den Juden ihre Internationalität auch dort, wo es sich darum handelte, das Vertrauen, der Großen zu gewinnen. Ihr Weg in die Haute Finance ist häufig der gewesen: erst machten sie sich den Fürsten als Dolmetscher durch ihre Sprachkenntnis nützlich, dann wurden sie als Zwischenträger und Unterhändler an fremde Höfe geschickt, dann vertraute ihnen der Fürst die Verwaltung seines Vermögens an (indem er sie gleichzeitig damit beehrte, ihr Schuldner zu werden) und dadurch wurden sie die Beherrscher, der Finanzen (und in späteren Zeiten der Börsen).

Wir dürfen annehmen, daß ihre Sprachkenntnisse und ihre Vertrautheit mit fremden Kulturen schon im Altertum es waren, die ihnen den Zugang zum Vertrauen der Könige erschlossen: von Josef in Agypten angefangen über den Alabarchen Alexander, den Vertrauensmann des Königs Agrippa und der Mutter des Kaisers Claudius, von dem uns Josephus berichtet, bis zu dem jüdischen Schatzmeister der Königin Kandake von Athiopien, von dem wir in der Apostelgeschichte (8, 27) lesen.

Von den berühmten Hofjuden des Mittelalters wird uns meist ausdrücklich bestätigt, daß sie sich als Dolmetscher oder Unterhändler ihre Sporen verdient haben: wir wissen es von dem Juden Isaac, den Karl d. Gr. an den Hof Harun al Raschids sandte: von dem Juden Kalonymos, dem Freunde und Günstling, Kaiser Ottos II, ebenso wie von den Juden, die um dieselbe Zeit auf der Pyranäenhalbinsel zu Ruhm und Ansehen gelangten; der berühmte Chasdai Ibn Schaprut (915—970) war zunächst diplomatischer Vertreter des Kalifen Abdul-Rahman III. bei dessen, Verhandlungen mit den christlichen Höfen Nordspaniens. (402) Umgekehrt machten sich die Juden unentbehrlich an den Höfen der christlichen Könige in Spanien. Als Alfons VI. von Castilien (11. Jahrh.) die keinen muhamedanischen Könige gegeneinander ausspielen wollte, wußte er niemand besseres an die Höfe von Toledo, Sevilla, Granada zu senden als die sprachgewandten und fremdgewohnten Juden. Überall finden wir dann in der Folgezeit jüdische Gesandte an den christlichen spanischen Höfen hin bis zu den länder- und völkerkundigen Juden, die Joao II, nach Asien schickte, um Mitteilungen an seine Auskundschafter zu bringen und zu empfangen, die nach dem fabelhaften Lande des Priesters Johann forschten (403) oder bis zu den zahlreichen Dolmetschern und Vertrauensmännern, die wir bei der Entdeckung der Neuen Welt tätig finden (404). Angesichts der großen Bedeutung, die die glänzende spanische Episode für die gesamte Weiterentwicklung des Judentums und namentlich für die Gestaltung ihres wirtschaftlichen Schicksals, besitzt, ist es natürlich von besonderem Interesse zu verfolgen, auf welchem Wege sie gerade hier zu dem hohen Ansehn gelangten. Aber auch in nachspanischer Zeit finden wir noch häufig jüdische Diplomaten vornehmlich im Verkehr der Generalstaaten mit den Mächten: wie die Belmontes, die Mesquitas (4005) und andere, Bekannt ist le Seigneur Hebraeo, wie Richelieu den reichen Idefonso Lopez nannte, den er zu einer geheimen politischen Mission nach Holland benutzte, um ihn nach seiner Rückkehr zum „Conseiller d’Etat ordinaire“ zu machen (406).

Die „räumliche Verbreitung der Juden“ ist nun aber nicht nur dadurch bedeutsam, daß sie die internationale Zerstreuung der Juden herbeiführte: sie dient zur Erklärung mancher Erscheinungen auch nur insoweit, als sie sich auf die Verteilung.

über das Innere der Länder erstreckt. Wenn wir beispielsweise den Juden besonders oft als Lieferanten von Kriegsmaterial und Lebensmitteln für die Armeen begegnet sind — sie sind auch das seit alten Zeiten gewesen: bei der Belagerung Neapels durch Belisar erklärten die dortigen Juden die Stadt mit Lebensmitteln versorgen zu wollen (407) —, so hat das seinen Grund gewiß zum guten Teil in der Tatsache, daß sie leichter als die Christen, rasch eine große Masse von Gütern, namentlich Lebensmitteln, aus dem Lande zusammenbringen konnten: dank den Verbindungen, die sie von Stadt zu Stadt unterhielten.

„Der jüdische Entrepreneur darf sich vor allen diesen Schwierigkeiten nicht scheuen. Er darf nur die Judenschaft am rechten Orte elektrisieren und im Augenblick hat er so viele Helfer und Helfershelfer als er immer braucht“ (408).

Denn in der Tat handelte der Jude früherer Zeit „niemals als isoliertes Individum, sondern als Glied der ausgebreitetsten Handelskompagnie in der Welt (409)

„Ce sont des particules de vik argent ui courent, qui segarentet hui a la moindre pente se réunissent en un bloc principal“

wie es in einer Eingabe der Pariser Kaufleute aus der zweiter Hälfte des 18. Jahrhunderts heißt. (410)