BRD Notstandsgesetz
NSG: Einführung Mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze im Mai 1968 ging eine überaus hitzige innenpolitische Debatte zu Ende. Worum ging es?
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Einführung
Mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze im Mai 1968 ging eine überaus hitzige innenpolitische Debatte zu Ende. Worum ging es?
In den 1947 diskutierten Entwürfen für eine Verfassung der zu gründenden Bundesrepublik Deutschland waren ebenso wie in den meisten Länderverfassungen Vorsorgeregelungen für den Notstandsfall enthalten. Wohl auf Druck der westlichen Alliierten und auch aufgrund der Erfahrungen mit Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung verzichteten jedoch die „Väter und Mütter des Grundgesetzes“ auf einen ausdrücklichen Notstandsartikel.
Neben der „Lücke“ im Grundgesetz bot bald der Generalvertrag aus dem Jahre 1955 Anlass zu Bemühungen um eine Grundgesetzergänzung. In diesem Vertrag wurde die Anerkennung der vollen Souveränität der Bundesrepublik Deutschland vom Erlöschen der alliierten Vorbehaltsrechte hinsichtlich des Schutzes der in der Bundesrepublik stationierten Streitkräfte abhängig gemacht.
Waren sich SPD und CDU/CSU Mitte der 1950er Jahre auch über die Notwendigkeit einig, eine Ergänzung des Grundgesetzes für den Notstandsfall vorzunehmen, so gingen sie doch ganz unterschiedlich an diese Frage heran.
Nach Ansicht der SPD sollte die Initiative hierfür vom Parlament ausgehen. Dabei forderte die Partei die Beachtung folgender Prinzipien: Sicherung der Parlamentsverantwortung, Priorität der Zivilgewalt und Schutz des Streikrechts. Damit sollte nicht nur die exekutive Funktionsfähigkeit des Staates, sondern auch und vor allem die freiheitlich und rechtsstaatliche Ordnung auch im Notstandsfall gesichert werden.
Doch die CDU/CSU-geführte Bundesregierung betrieb zunächst regierungsinterne Planungen für eine Verfassungsergänzung. Bekannt wurden diese Überlegungen durch die Rede des Bundesinnenministers Gerhard Schroeder (CDU) auf einer Tagung der Gewerkschaft der Polizei am 30. Oktober 1958. Hier erläuterte er die Grundzüge einer Notstandsregelung, die bereits im Dezember 1958 in Form eines zehn Artikel umfassenden Gesetzentwurfes zur Änderung des Grundgesetzes vorgelegt wurde.
Dieser war – von den Rechtsetzungsbefugnissen der Exekutive bis zur Einschränkung von Grundrechten – weitestgehend an den Generalvollmachten der Weimarer Verfassung für den Notstandsfall orientiert. Die Vorstellungen Schröders trafen bei Sozialdemokratie und Gewerkschaften, insbesondere bei der Industriegewekschaft Metall (IG Metall), auf entschiedene Ablehnung.
Dahinter stand die Befürchtung, dass mit den in wohl kalkulierter Form als „NS-Gesetze“ bezeichneten Notstandsgesetzen der Weg in einen autoritären Machtstaat, ja in eine erneute Diktatur nach nationalsozialistischem Vorbild geebnet werde. Getrieben von der Sorge, auch die bundesrepublikanische Demokratie könnte, wie noch gar nicht so lange Zeit zuvor die Weimarer Republik, willentlich zerstört werden, mobilisierten insbesondere die Gewerkschaften um Otto Brenner den Protest.
Der am 18. Januar 1960 veröffentlichte überarbeitete „Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes“ (sog. Schröder-Entwurf) sah die Einfügung eines Artikels 115a über den Ausnahmezustand in das Grundgesetz vor.
Hiernach konnte die Feststellung des Notstands durch einfache Mehrheit des Bundestages, bei Gefahr im Verzuge sogar durch den Bundeskanzler allein erfolgen. Überdies durften wesentliche Grundrechte außer Kraft gesetzt werden, so
- das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5),
- auf Versammlungsfreiheit (Art. 8),
- Vereinigungsfreiheit (Art. 9),
- Freizügigkeit (Art. 11) und
- Berufsfreiheit (Art. 12).
Die SPD wies den Entwurf Schröders zurück und auch die Gewerkschaften lehnten ihn ab. Die Kritik verschärfte sich im Laufe der folgenden Monate. Ein Grund dafür war, dass Schröder am 28. September 1960 im Bundestag bekannte, für ihn sei die „Ausnahmesituation […] die Stunde der Exekutive, weil in diesem Augenblick gehandelt werden“ müsse. Mit dieser Formulierung erwies sich Schröder als unsensibel für die Ansprüche einer sich gerade formierenden links-liberalen Öffentlichkeit, die gerade durch die „Spiegel-Affaere“ des Jahres 1962 Auftrieb erhielt.
Die sich der Folgezeit verstärkende öffentliche Kontroverse war vor allem von folgenden Punkten geprägt: Es war umstritten, ob das Grundgesetz eine „Schönwetter-Verfassung“ sei oder sehr wohl für den Krisen- oder gar Kriegsfall ausreiche. Unter dem Eindruck des „Kalten Krieges“ schien es fraglich zu sein, ob ohne Vorsorge für den Notstand eine glaubhafte Abschreckung gegenüber dem Ostblock erreicht werden könne. Auch erschien den Befürwortern einer gesetzlichen Regelung für den Notstandsfall das parlamentarische System als zu schwerfällig, als dass es in Krisenzeiten funktionstüchtig sein könnte.
Darüber hinaus spielte der Wunsch, die alliierten Vorbehaltsrechte durch eine eigene Verfassungsregelung abzulösen, eine wesentliche Rolle. Die Gegner der Notstandsgesetze beharrten jedoch darauf, dass solche „Ermaechtigungsgesetze“ eine ernste Gefährdung der Demokratie bedeuteten; das zeige sich konkret in den undemokratischen Verfahren, die für die Ausrufung des Notstandes vorgesehen seien, und zudem in der beabsichtigen Einschränkung zahlreicher Grundrechte, darunter
- des Streik- und des Koalitionsrechts.
Es entspann sich ein jahrelanger Verhandlungsmarathon zwischen Regierung und Opposition. Nach Gerhard Schröder unternahm sein Nachfolger im Amt des Innenministers, Hermann Hoecherl (CSU), einen neuen Anlauf und lud u.a. Vertreter der Bundestagsfraktionen zu Gesprächen über einen neuen Gesetzentwurf ein.
Dieser wurde dann im Oktober 1962 – mitten in der „Spiegel-Affäre“ – vorgelegt und fand sofort eine überaus kritische Aufnahme. Die Notstandsgesetze wurden zu einem zentralen Thema einer sich herausbildenden außerparlamentarischen Opposition (APO). Hier engagierten sich mehrere Gewerkschaften, voran die IG Metall, auch der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) und die „Kampagne fuer Abruestung“ sowie einzelne Personen, insbesondere Professoren.
Ein Wegzeichen dieser Protestbewegung war der am 30. Mai 1965 an der Universität Bonn abgehaltene Kongress „Die Demokratie vor dem Notstand“. Das Zusammenwirken von Gewerkschaften und universitär-intellektuellem Protest zeichnete von nun an die Debatte aus.
Geeint wurde die Protestbewegung durch den Willen, eine Aushoehlung der Demokratie zu verhindern. Doch während für den universitär-intellektuellen und gerade auch für den studentischen Protest vielfach radikaldemokratische Vorstellungen handlungsleitend waren, hoben die Gewerkschaften vor allem auf die Garantie des Streikrechts ab, das sie auch unter den Bedingungen eines Notstandes gesichert sehen wollten. Beide waren sich jedoch darüber im Klaren, dass sie nur miteinander eine starke Protestbewegung organisieren konnten:
- Die Gewerkschaften nutzten die intellektuellen Kapazitäten von Juristen wie Wolfgang Abendroth, Heinrich Hannover und Juergen Seifert, um eine fundierte Argumentation gegen die Notstandsgesetze aufzubauen;
- und die Intellektuellen wussten die Gewerkschaften als finanzielle und organisatorische Kraft sowie als Einflussfaktor in die SPD-Bundestagsfraktion hinein zu schätzen.
- So kam es nicht von ungefähr, dass Helmut Schauer, der Vorsitzende des SDS und Sekretär des Kuratoriums „Notstand der Demokratie“, schließlich 1966 Angestellter der IG Metall wurde, die ihm Büroräume und Hilfskräfte für die Kampagne gegen die Notstandsgesetze zur Verfügung stellte.
Nach den Bundestagswahlen vom September 1965, deren Ergebnis es Ludwig Erhard (CDU) erneut gestattete, eine Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP zu bilden, übernahm Paul Luecke (CDU) das Innenressort. Er bemühte sich von Anfang an um Kontakte zur SPD, die dann nach Bildung der Großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD im Dezember 1966 intensiviert wurden.
Doch auch der im März 1967 vorgelegte Lücke-Entwurf fand nicht die erforderliche Zustimmung in den Reihen der SPD-Bundestagsfraktion. Dass sein Plan, das Mehrheitswahlrecht einzuführen, am Widerstand der SPD scheiterte, führte zum Rücktritt Lückes. Sein Nachfolger wurde Ernst Benda (CDU).
Während der letzten Beratungen in den Ausschüssen sowie vor allem zwischen den Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt (SPD) und Rainer Barzel (CDU) spitzte sich der außerparlamentarische Protest zu. Die universitär-studentische Opposition mobilisierte ihre Anhänger.
Am später berühmten „Sternmarsch nach Bonn“ am 11. Mai 1968 nahmen etwa ca. 40.000 Menschen teil. Dessen ungeachtet war zu diesem Zeitpunkt die gemeinsame Front der Notstandsgegner bereits auseinandergebrochen.
Das zeigte sich nicht zuletzt daran, dass die Gewerkschaften am Tag des Sternmarsches zu einer eigenen Kundgebung nach Dortmund eingeladen hatten. Während sich die Gewerkschaften letztlich der seit Anfang 1968 absehbaren parlamentarischen Mehrheitsentscheidung unterwarfen, hofften vor allem die studentischen Kritiker der Notstandsgesetze auf eine Fortsetzung der Protestaktionen.
Zwar gab es Ende Mai 1968 in einzelnen Betrieben Proteststreiks, Arbeitsniederlegungen und Demonstrationszüge. Die verfassungsergänzende Notstandsgesetzgebung wurde dennoch am 30. Mai 1968 mit den Stimmen der Mehrheit der SPD-Fraktion verabschiedet;
- 53 SPD-Abgeordnete,
- 1 CDU-Abgeordneter und
- fast die ganze FDP-Fraktion, die noch 1967 – nun in der Opposition – einen eigenen Entwurf eingebracht hatte, stimmten dagegen.
Die schließlich im Mai 1968 angenommene Fassung der Grundgesetzänderung wich deutlich von den Entwürfen ab, die Schröder und Höcherl zuvor vorgelegt hatten. Am wichtigsten war wohl, dass sich die Stoßrichtung der Notstandsgesetzgebung grundsätzlich verändert hatte: Zielten die ersten Entwürfe auf die Sicherung der exekutiven Handlungsfähigkeit des Staates auch in Krisenzeiten durch Einschränkung der demokratisch-parlamentarischen Rechte, so geht es im verabschiedeten Text darum, auch im Falle eines Notstandes die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems und die Einhaltung der Grundrechte zu sichern.
So unterschied die finale Fassung zwischen Spannungszeit, innerem Notstand und Verteidigungsfall. Spannungszeit, innerer Notstand und Verteidigungsfall verlangten jeweils abgestufte Vorgehensweisen von Regierung und Parlament.
Ferner kann der Eintritt des Spannungsfalls nur durch Zweidrittelmehrheit des Bundestages beschlossen werden. Darüber hinaus hat der Gemeinsame Ausschuss als Notparlament erst im Verteidigungsfall Gesetzgebungsbefugnis. Außerdem waren schon in einem früheren Beratungsstadium das Notverordnungsrecht der Regierung sowie zahlreiche Eingriffe in den Grundrechtskatalog entfallen. Auf Drängen der Gewerkschaften wurden schließlich, sozusagen in letzter Minute, das Recht auf Streik und Widerstand im Grundgesetz garantiert.
Anders als von den Gegnern der Notstandsgesetzgebung immer wieder bemängelt, hat die im Mai 1968 verabschiedete Grundgesetzergänzung die parlamentarische und föderative Grundordnung sowie den Grundrechtsbestand weder zerstört noch zur Farce werden lassen. Dies ist zum einen der kritischen Öffentlichkeit und vor allem der außerparlamentarischen Protestbewegung zu verdanken, deren Einfluss indirekt – über die Gewerkschaften – bis weit in die SPD-Fraktion reichte.
Und zum anderen ist aber auch die Diskussions- und Lernbereitschaft der Bundestagsmehrheit zu betonen, die nach und nach auf einen großen Teil der Bedenken und Befürchtungen der Notstandsgesetzgebungs-Gegner eingegangen ist.
Michael Schneider
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