Der Sinn des Lebens

Was also prägt die menschliche Psyche? Die Antwort von Neurobiologen darauf klingt erschreckend nüchtern: Unser Gehirn hat sich über die Evolution weiterentwickelt. Es ist sozusagen ein Ergebnis der Evolution, und somit sind auch wir Menschen in unseren Vorlieben und unserem Verhalten ein Ergebnis der Evolution. Der Bauplan unserer Psyche richtet sich nach den Interessen der Evolution. Welchen Plan verfolgt jedoch die Evolution, was ist ihr Hauptinteresse, was ist der übergeordnete Zweck dieser ganzen Daseinsveranstaltung?

Eine Antwort des heutigen Forschungsstands lautet: Der evolutionäre Sinn des Lebens ist, dass wir unsere Gene verbreiten. Es geht bei dieser These nicht einmal um die Erhaltung der Art. Die Art kann demnach aussterben oder sich verändern. Es geht allein um die Weitergabe unserer Gene. Diese Theorie hat der britische Biologe Richard Dawkins (002) vor über 40 Jahren in seinem wohl bekanntesten Buch »Das egoistische Gen« ausgeführt. Er erklärt auch, dass die Gene sich um jeden Preis durchzusetzen versuchen und Rücksichtnahme nur dann erfolgt, wenn sie sich einen Vorteil davon versprechen. Hilfsbereitschaft  zum Beispiel ist aus diesem Blickwinkel betrachtet nur deshalb sinnvoll, weil der Mensch seine Gene in Kooperation mit anderen besser weitergeben und sichern kann.

Eigentlich, so die Meinung diverser Naturforscher, sind wir auf Konkurrenz angelegt. Die Darwinisten, die Nachfolger Charles Darwins (003), folgen der Theorie, dass der Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Arten, Formen und Genen entscheidet, wer überlebt und sich weiter fortpflanzen kann. Die Schlussfolgerung daraus könnte lauten: Auch der Mensch ist diesem Wettbewerb unterworfen. Wenn er ausnahmsweise kooperiert und nicht konkurriert, dann dient auch das letztendlich seinem Siegeswillen.

Diese Sicht auf das menschliche Dasein entbehrt allerdings allem, was wir eigentlich unter dem »Sinn des Lebens« verstehen. Sie klingt empathielos, unromantisch und unidealistisch. Sie widerspricht im Übrigen auch konkreten Erfahrungen, die wir immer wieder in unserem Alltag machen: Warum riskieren beispielsweise Menschen ihr Leben, um andere zu retten – obwohl es dabei nicht einmal um ihre eigenen Nachkommen geht? Und obwohl klar ist, dass dieser Einsatz nicht der Weitergabe ihrer Gene helfen kann? Im Gegenteil: Solche »Helden im Alltag« riskieren durch ihren möglichen Tod sogar, ihre Gene zugunsten ihrer Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit zu »verschwenden«. Wir alle kennen die Berichte von solchen Ereignissen aus den Medien: Ein junger Mann springt während einer Flutkatastrophe in den reißenden Strom, um einem alten, ihm vollkommen unbekannten Paar zu helfen, das hilflos davongetrieben wird.

Er ertrinkt dabei selbst fast, schafft es dann aber, sich und die anderen zu retten. Müssten wir nicht aufgrund unserer biologischen Konditionierung so eine lebensgefährliche Aktion als dumm verurteilen? Das Gegenteil ist aber der Fall: Wir lieben diese Menschen für ihr selbstloses Verhalten. Unser Gefühl sagt uns, dass der »Sinn des Lebens« nicht nur darin liegen kann, unsere Gene weiterzugeben und mit anderen zu konkurrieren. Tatsächlich erfasst diese Definition – aus Sicht von philosophischen und psychologischen Wissenschaftlern – auch nur einen Bruchteil dessen, was das Menschsein eigentlich ausmacht.

Auch der berühmte Biologe, Hirnforscher und Bestsellerautor Gerald Hüther stimmt damit nicht überein. Selbst wenn sich aus astrophysischer Sicht vielleicht nichts ausmachen ließe, was unserem Verständnis von Sinn entspricht, könnten wir, so Hüther, gar nicht leben, ohne unserem Dasein einen (subjektiven) Sinn zu verleihen. Wir brauchen eine über unser individuelles Dasein hinausreichende Orientierung. Wir brauchen eine Vorstellung davon, was für ein Mensch wir sein wollen und wozu wir unser Leben nutzen wollen. Sonst verlieren wir uns über kurz oder lang in Orientierungslosigkeit.

»Der Mensch ist ein Wesen, das darüber nachdenkt, was ein Mensch ist. Kein anderes Wesen macht so etwas«, meint der Philosoph Wilhelm Schmid. »Schon der Blick in die Sterne, den Menschen in allen Kulturen  und zu allen Zeiten pflegten, lässt darauf schließen, dass es sie fasziniert über das hinauszublicken, was vor ihren Füßen liegt, um sich in einem größeren Horizont wahrzunehmen.« (004)

Die großen Religionen geben seit jeher Antworten auf diese grundlegenden Fragen, gaben vielen Menschen Orientierung in Form eines festen Regelwerks. Auch heute würde jemand, der gläubig ist, der Theorie vom »egoistischen Gen« und dem bloßen Erhalt der Art sicherlich heftig widersprechen. Aber viele Menschen wollen heute keine theologischen Antworten mehr auf ihre Fragen. Das liegt auch daran, dass etliche mit Religion menschenfeindliche Dogmen verbinden, dass das Christentum lange gegen das »Selbst« und das »Ich« gepredigt hat. Das ist keine gute Vertrauensbasis, wenn es um sehr persönliche Fragen geht.

Viele Menschen suchen inzwischen nach Antworten und Orientierung außerhalb der großen Weltreligionen. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt beispielsweise, dass die Religiosität in Deutschland zwar abnimmt, aber durch verschiedene Formen von Spiritualität ersetzt wird. Diese Umorientierung ist unabhängig von der Bildungsschicht: Der Wunsch nach einem großen Gesamtzusammenhang, einem göttlichen Plan, einem Universum, das vollkommen jenseits unserer physikalisch messbaren Realität zu verorten ist, existiert nicht nur in Akademikerkreisen. Es gibt bei vielen Menschen ein angeborenes – womöglich auch ein genetisches – Bedürfnis, nach einem Sinnzusammenhang zu suchen.

Gerald Hüther beschreibt in »Die Evolution der Liebe« (005), dass die Botschaft von Jesus und einer die Menschheit verbindenden Nächstenliebe nach wie vor unsere tiefsten Sehnsüchte anspricht. Der Wunsch nach Mitmenschlichkeit und die Orientierung an dazugehörigen Werten wie etwa Hilfsbereitschaft, Uneigennützigkeit, Loyalität oder Warmherzigkeit sind ungebrochen. Wir Menschen brauchen ganz offensichtlich Gefühle, um einen Lebenswert zu erkennen. Wenn man Gefühle nicht mehr spüren kann – wie es beispielsweise bei schwer Depressiven der Fall ist –, verliert das Leben seinen Wert und damit auch seinen Sinn.

Exkurs: Warum wir mehr Mitgefühl und Selbstreflexion brauchen.

An dieser Stelle möchte ich offenlegen, was für mich persönlich den Sinn des Lebens ausmacht. Für mich sind Mitgefühl und Selbstreflexion die Werte, die uns Menschen auszeichnen (sollten). Mitfühlend zu handeln, mich selbst zu reflektieren und außerdem andere Menschen zu mehr Mitgefühl und Selbstreflexion anzuregen, stellt für mich einen wichtigen Teil meines persönlichen Lebenssinns dar. Von dieser altruistischen Haltung abgesehen denke ich außerdem, dass man sein Leben auch einfach genießen sollte. (Das löst aber leider nicht die Probleme in der Welt, sondern trägt erst einmal nur zu unserem persönlichen Wohlbefinden bei.) Ich denke, dass viele Probleme, die wir in der Welt haben, entstehen und fortbestehen, weil es Menschen an Selbstreflexion und Mitgefühl mangelt. Die ungeheure Wut und Aggression, die uns täglich umgibt und mit der einige Menschen andere Menschen verbal abwerten, kränken, demütigen, ihnen Gewalt antun, sie foltern, ermorden und Kriege führen, lässt sich im Kern auf einen Mangel an Mitgefühl und Selbstreflexion zurückführen. Ich bin oft fassungslos über den Fremdenhass, den so viele Menschen offenkundig oder versteckt hegen. Ich finde es schlimm, wie Menschen aufgrund ihrer Religion, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihres Geschlechts, ihrer Figur oder ihres Aussehens angefeindet oder gar getötet werden. Ich erschrecke mich immer wieder über die vielen Grobheiten und Anfeindungen, die tagtäglich stattfinden. Es ist auch unfassbar, welches Leid wir Tieren und der Umwelt zufügen. Ich bin überzeugt: Wenn wir es schaffen würden, mehr Mitgefühl zu empfinden und die wahren Ursachen unserer Aggressionen zu ergründen, dann wären wir viel friedlicher. Menschen, denen es schwerfällt mitzufühlen, haben zumeist selbst wenig Mitgefühl erfahren. Wenn Eltern wenig Empathie für ihre Kinder aufbringen, dann übernehmen ihre Kinder diese Haltung in gewisser Weise: Es fällt ihnen schwer, ihre eigenen Emotionen wahrzunehmen und damit umzugehen. Ein Mangel an Mitgefühl entsteht aus blockierten Gefühlen: Um nämlich mitfühlen zu können, benötige ich einen Zugang zu meinen eigenen Gefühlen. Ein Mangel an Mitgefühl kann auch aus Traumatisierungen entstehen. Viele Kinder weltweit werden traumatisiert und laufen als Erwachsene Gefahr, selbst zu Tätern zu werden. Wut entsteht aus Angst, Ohnmacht und gefühlter Minderwertigkeit. Mit Selbstreflexion kann man diese inneren Prozesse hingegen erkennen und auflösen. Deswegen ist die persönliche Selbstreflexion meiner Meinung nach eine politische Notwendigkeit. Je reflektierter ein Mensch ist, desto mehr ist er sich seiner Muster und auch seiner Werte (siehe dazu auch »Dem Leben Sinn geben«, sowie das Schlusswort,) bewusst. Je stärker er diese Koordinaten berücksichtigt, desto weiser ist er. Und der weise Mensch handelt mit jenem Mitgefühl, das unsere Gesellschaft so dringend benötigt.

Wie aber können wir uns besser reflektieren und mehr Mitgefühl aufbringen? Hierfür müssten wir die Struktur der menschlichen Psyche besser verstehen, damit wir leichter erkennen können, was in uns vorgeht.

Unsere Psyche hat sich mit der menschlichen Evolution entwickelt, deswegen schwenke ich noch einmal zu ihr zurück. Nach dem aktuellen Stand der Naturwissenschaften legt die Evolution es darauf an, dass wir unsere Gene verbreiten. Ich möchte diese Sicht einmal tröstlicher formulieren: Die Evolution will, dass wir leben. Sie stimmt also für das Leben an sich, einfach so. Wenn das Leben an sich das übergeordnete Ziel ist, also der Sinn des Lebens aus evolutionärer Sicht, dann ist es nur logisch, dass unsere Psyche diesem Zweck dient. Und so wie unser Körper und alles Leben auf dieser Erde sich in Millionen von Jahren immer weiter angepasst haben, um dem übergeordneten Zweck des Überlebens zu dienen, so hat sich auch unsere Psyche nach diesem Plan der Natur ausgerichtet. Unsere psychische Grundstruktur hat eine klare, evolutionäre Architektur, die für alle Menschen über alle Kulturen gleichermaßen gültig ist. Genau wie der menschliche Körper über alle Kulturen denselben Bauplan aufweist.

Individuelle Unterschiede sind lediglich kleine Variationen dieses Plans. Dies gilt auf körperlicher Ebene wie auch auf psychischer. Das Wissen darüber, wie unser Körper aufgebaut ist und funktioniert, ist weit verbreitet.

Das Wissen über unsere psychologische Konstitution hingegen nicht. Das liegt in dem Umstand begründet, dass unsere Psyche, wenn sie auch im Gehirn verankert ist, immaterieller Natur ist, sich also wesentlich schlechter beschreiben und erfassen lässt als der Körper. Die Psyche ist nicht vermessbar, und man kann ihr auch nur bedingt beim Arbeiten zugucken.

Man kann zwar Hirnareale sichtbar machen, in denen Neurone feuern, aber die subjektive, gedankliche und gefühlte Bedeutung dieser Gehirnprozesse kann man nicht messen. Sie kann nur durch den Inhaber des jeweiligen Gehirns verbalisiert werden. So kann man beispielsweise per Hirnscan sehen, dass bestimmte Gehirnareale feuern, wenn die Versuchsperson Tschaikowsky hört; was die Musik für sie aber persönlich bedeutet, könnte sie uns nur mit Worten erklären. Und so ist es auch höchst individuell, welchen Sinn ein Mensch braucht, um leben zu können.

In meiner Arbeit als Psychologin und Psychotherapeutin beschäftige ich mich ständig mit drei Konstanten: den genetischen Voraussetzungen, den Strukturen unserer Psyche und dem individuellen Suchen nach Sinn und Lebensglück.

Der Mensch will sich begreifen. Und er erkundet sich gerne. Er ist »ein Wesen der Möglichkeiten«. Diese Feststellung trifft der philosophische Seelsorger Wilhelm Schmid in seinem Buch »Dem Leben Sinn geben« – und sie entspricht mir sehr. Jeder von uns kann sich immer wieder erproben und neu erfinden, Versuche anstellen, Experimente wagen.

Wir Menschen überschreiten oft verschiedene Normen, Formen und Grenzen. Wir wollen die Möglichkeiten des Lebens entdecken, auch die Unmöglichkeiten. Wir wollen dabei herausfinden, wer wir sind. Und wie wir werden können, was wir sein wollen und können.

Letztendlich ist es so: Wer die Grundlagen der eigenen Psyche begreift, seine Prägungen und Verhaltensmuster erkennt, dem wird es leichter fallen, seinen persönlichen Sinn zu finden.

  • (002) Richard Dawkins: Das egoistische Gen, Springer Spektrum 1978
  • (003) Charles Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, 1859
  • (004) Wilhelm Schmid: Dem Leben Sinn geben, Suhrkamp 2013
  • (005) Gerald Hüther: Die Evolution der Liebe. Was Darwin bereits ahnte und die Darwinisten nicht wahrhaben wollen, Vandenhoeck & Ruprecht 1999