Das Konsistenzprinzip

Wenn ich mich morgens auf eine Tasse Kaffee freue und dann feststelle, dass die Kaffeemaschine kaputt ist, dann stellt sich bei mir Verdruss ein. Wenn ich mir zum Geburtstag eine Halskette gewünscht habe und bekomme stattdessen ein Bügeleisen, dann bin ich enttäuscht. Wenn ich unerwartet ein sehr nettes Kompliment erhalte, dann freue ich mich. Klingt banal?

Dennoch kann man aus diesen Beobachtungen etwas Wesentliches ableiten: Unser Gefühlsleben wird stark von unseren Erwartungen und Wünschen auf der einen Seite und der Wahrnehmung der Realität auf der anderen Seite bestimmt. Kurz gesagt fühlen wir uns mies, wenn etwas schlechter kommt, als wir es erwartet oder uns gewünscht hätten.

Dabei sind die nicht erhaltene Halskette oder die kaputte Kaffeemaschine noch Ereignisse, die wir psychisch ganz gut verwalten können. Eine Zurückweisung in Liebesdingen hat hingegen schon ein ganz anderes Schmerzpotenzial.

Wenn unsere inneren Erwartungen und Wünsche von der Realität abweichen, dann entsteht Inkonsistenz. Auf der Gefühlsebene erleben wir Inkonsistenz als eine Form der inneren Anspannung. Man kann das mit einem Gummiband vergleichen: Der Wunsch zieht in die eine Richtung, die Realität in die andere. Je stärker hierbei der Wunsch und je größer die Abweichung von der Realität, desto mehr Spannung entsteht.

Exkurs: Wie zeigt sich Inkonsistenz?

Laut der Konsistenztheorie von Klaus Grawe strebt jeder Mensch nach Konsistenz: nach einer Übereinstimmung und Vereinbarkeit zwischen den inneren Bedürfnissen (psychischen Prozessen) und dem Erleben in der Realität. Je höher die Konsistenz ist, desto gesünder und zufriedener ist der Mensch. Der gegenteilige Zustand wird als Inkonsistenz bezeichnet und ist für Menschen unangenehm.

Es gibt zwei Unterformen von Inkonsistenz:

  • Von einer kognitiven Dissonanz spricht man, wenn mindestens zwei schwer oder sogar unvereinbare Ziele beziehungsweise Wünsche vorliegen. Das ist beispielsweise der Fall, wenn sich eine überzeugte Veganerin in einen Mann verliebt, der sehr gerne Fleisch isst. Es entsteht dann eine Dissonanz zwischen ihrer Einstellung zum Fleischkonsum und ihrer Beziehung zu dem Mann.
  • Bei der Inkongruenz kann ein Mensch seine Ziele nicht erreichen oder hat das Gefühl, seine Ziele nicht erreichen zu können. Die Wahrnehmung der Realität stimmt dann nicht mit den Zielen überein. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn wir unglücklich verliebt sind und unserem Bedürfnis nach Nähe nicht entsprochen wird.

Der Zustand der Inkonsistenz im psychischen Geschehen kann zu Veränderungen anregen und deshalb auch eine Quelle der Motivation sein. Andererseits kann der Umgang mit Inkonsistenz auch stark hemmend sein.

Unser Gehirn bewertet von morgens bis abends, ob wir das bekommen, was wir wollen. Permanent produziert es dabei Erwartungen, wie es weitergehen wird und wie die nächsten Schritte aussehen könnten. Die neuropsychologische Instanz, die dabei arbeitet und wirkt, wird als der sogenannte Komparator bezeichnet. Dies ist ein Begriff aus der Digitaltechnik, den auch Klaus Grawe verwendet. (006) Hören wir beispielsweise eine bekannte Melodie und plötzlich wird ein Ton falsch gespielt, dann erzeugt das Inkonsistenz, eine kleine innere Anspannung, ein »Aua«. Beim Autofahren, Einkaufen, bei der Arbeit oder bei einem Spaziergang: Permanent überprüft der Komparator die aktuelle Situation und entwirft den nächsten Handlungsschritt.

Wenn alles nach Plan läuft und der Komparator keine Abweichungen vom Plan anzeigt, sind wir entspannt. Zeigt der Komparator stärkere Abweichungen an, empfinden wir Stress. Das Ausmaß unseres Stressempfindens ist extrem eng verknüpft mit unserer subjektiven Einschätzung, ob wir die Situation bewältigen können. Je besser wir uns der Situation gewachsen fühlen, desto weniger Stress empfinden wir.

Läuft hingegen immer alles nach Plan, dann sind wir unterfordert, und es stellt sich Langeweile ein. Sprich: Wir benötigen auch gewisse Herausforderungen im Leben, um uns stimuliert zu fühlen. Damit wir von den Herausforderungen jedoch nicht überwältigt werden, müssen wir die Erwartung hegen, dass wir sie, wenn vielleicht auch mit Anstrengung, bewältigen können (darauf gehe ich im Abschnitt »Ich bin dem Leben gewachsen. Die internale Kontrollüberzeugung« noch ein).

Der berühmte Pawlow’sche Hund hat durchlitten, was es mit uns Lebewesen macht, wenn wir dauerhafter Inkonsistenz ausgesetzt sind. Der russische Mediziner Iwan Petrowitsch Pawlow hat Anfang des 20. Jahrhunderts zu konditionierten (also erlernten) Reflexen geforscht. Pawlow brachte seinem Hund bei, dass er sich auf Futter freuen durfte, wenn er ihm eine Lichtprojektion zeigte, die einen Kreis darstellte. Wenn er hingegen eine Ellipse sah, gab es nichts zu essen. Der Hund hatte das im Nu begriffen, und die Vorfreude war jedes Mal groß, wenn er einen Kreis sah. Der Hund hatte also gelernt, den Kreis mit dem Erhalt von Futter zu verbinden. Der Anblick des Kreises allein genügte dann schon, dass er vor Vorfreude sabberte. Solche Reiz-Reaktions-Verknüpfungen bezeichnet man als Konditionierung. Auch wir Menschen lernen durch Konditionierung. Den Prozessen in unserem Gehirn ist es hierbei egal, ob sie sich gute oder schlechte Konditionierungen zulegen. So können wir durch eine Reiz-Reaktion-Verbindung »lernen«, dass zu einer Tasse Kaffee (das wäre ein ähnlicher Stimulus wie beim Hund der Lichtkreis) eine Zigarette gehört. Oder dass es beim Besuch der Großeltern immer Kuchen gibt. Vielleicht auch, dass es nach einem langen Kuss zu Sex kommt.

Kommen wir noch mal zurück zum Pawlow’schen Hund, dessen Herrchen nämlich ein bisschen fies wurde: Der Forscher zeigte seinem Hund Kreise und Ellipsen, die einander immer ähnlicher wurden. Der Hund war verunsichert. Durfte er sich nun freuen oder nicht? Gab es Futter oder nicht? Der Hund wurde immer verzweifelter. Er erlitt maximale Inkonsistenz. Schließlich legte er sich in die Ecke und machte gar nichts mehr. Er hatte also die Hoffnung aufgegeben, dass er die Situation noch bewältigen konnte. Diesen Zustand nennt man Resignation. Auch bei uns Menschen stellt sich Resignation ein, wenn wir uns über einen längeren Zeitraum nicht richtig verhalten können – wenn alle unsere Anstrengungen ins Leere laufen. Depression und Burnout kann man in gewisser Weise als eine Form der Resignation bezeichnen.

Inkonsistenz und der damit einhergehende Stress sind die Grundlage für psychische Probleme und Störungsbilder. Inkonsistenz entsteht immer dann, wenn meine Wünsche im Konflikt zur Realität stehen oder im Konflikt zu anderen Werten und Wünschen, die ich mir selbst auferlege. Ein Beispiel dafür wäre, wenn ich einerseits ein guter Ehemann sein möchte und gleichzeitig fremdgehen will. Typische Konflikte, die Inkonsistenz und Stress in uns erzeugen können, sind:

Ich will etwas und bekomme es nicht. (Beispiel: Ich hätte gern einen Partner und finde keinen.)
• Ich bekomme etwas, das ich nicht will. (Beispiel: Mein Nachbar beschimpft mich.)
• Ich kann eine Situation nicht einschätzen. (Beispiel: Ich kann mir keinen Reim auf das Verhalten meiner Vorgesetzten machen bzw. der Pawlow’sche Hund.)
Ich habe Wünsche, die sich nicht gut vereinbaren lassen. (Beispiel: Ich möchte gesund leben und regelmäßig Alkohol trinken.)
• Ich wünsche mir etwas und habe gleichzeitig Angst davor. (Beispiel: Ich möchte gern eine Beziehung eingehen, habe aber große Angst, enttäuscht zu werden.)
• Ich möchte ein Ziel erreichen und habe Angst, es nicht zu schaffen. (Beispiel: Ich möchte meine Ausbildung abschließen und habe Angst, die Prüfung nicht zu bestehen.)

Es liegt auf der Hand, dass es individuell höchst verschieden ist, wer sich durch was gestresst fühlt. Dabei gibt es einen großen Unterschied zu physikalischen Stressoren wie Lärm, Kälte, übermäßige Hitze, Unfälle usw. Physikalische Stressoren gelten für jeden Menschen, auch wenn der eine etwas mehr und der andere etwas weniger empfindlich sein mag. Der Grund, warum physikalische Stressoren bei allen Menschen ein gewisses Maß an Stress auslösen, besteht darin, dass sie objektiv existieren. Was wir jedoch als psychischen Stress empfinden, ist sehr stark abhängig von der subjektiven Bedeutung, die wir einem Ereignis beimessen. Während physikalischer Stress durch messbare Veränderungen in der äußeren Welt (z.B. durch übermäßige Hitze) ausgelöst wird, so entsteht psychischer Stress innerhalb unseres Gehirns, also in unserer Gedankenwelt. Für nicht wenige ist es eine Horrorvorstellung, eine öffentliche Rede zu halten, für andere ein großer Spaß. Für den einen ist eine persönliche Kritik ein wichtiges Feedback, für den anderen eine Kränkung. Für den einen bedeutet der neue Job eine freudige Herausforderung, der andere quält sich mit Versagensängsten.

Die Frage ist nun, auf welche Art und Weise sich diese subjektiven Bedeutungen in unseren Gehirnen herausbilden. Welche psychischen und physiologischen Prozesse sind beteiligt, die unsere Gefühle, Gedanken, Motive und Handlungen individuell prägen und formen?