Zusammenfassung: Unsere psychische Grundstruktur

Ich möchte an dieser Stelle die wesentlichen psychischen Funktionsweisen, die ich bisher beschrieben habe, noch einmal zusammenfassen.

Die Evolution verfolgt den Zweck, dass wir unsere Gene verbreiten. Anders formuliert: Sie verfolgt den Zweck, dass wir leben. Diese rein evolutionsbiologische Sicht auf das menschliche Dasein ist allerdings zu kurz gegriffen für das, was wir unter dem »Sinn des Lebens« verstehen. Es gehört zur menschlichen Spezies dazu, dass der Mensch mehr möchte, als nur seine Gene weiterzugeben und mit anderen zu konkurrieren. Wir Menschen brauchen einen (subjektiven) Sinn. Wir brauchen Werte und eine Vorstellung davon, wozu wir unser Leben nutzen wollen. Sonst verlieren wir uns über kurz oder lang in Orientierungslosigkeit.

Der Aufbau unserer Psyche entspricht diesen Bedürfnissen. Alle Menschen verfügen über dieselbe psychische Grundstruktur, wenn es auch viele Varianten gibt, die unsere Individualität ausmachen. Um unsere Gene optimal zu verteilen, ist es unabdingbar, dass wir gern am Leben sind. Deswegen hat uns die Natur starke Gefühle mit auf den Weg gegeben, die uns zum Leben motivieren. Vor allem das Erleben von Glück hat einen hohen Lebenswert, weswegen wir bemüht sind, Glücksgefühle zu erhalten und unglückliche Gefühle zu vermeiden. Aber auch belastende Gefühle wie Angst oder Trauer erinnern uns ständig daran, wie wertvoll das Leben ist, und motivieren uns, am Leben zu bleiben.

Ob wir uns gut und zufrieden oder belastet und gestresst fühlen, hängt ganz wesentlich von unseren Erwartungen und Wünschen ab. Wir streben nach Konsistenz, was bedeutet, dass wir möglichst im Einklang mit unseren Erwartungen und Wünschen leben möchten. Der sogenannte Komparator in unserem Gehirn gleicht ständig unsere Erwartungen und Wünsche mit dem ab, was wir erhalten. Erhalten wir das, was wir uns wünschen, stellt sich ein Zufriedenheits- oder sogar Glücksgefühl und somit Konsistenz ein. Inkonsistenz entsteht, wenn unsere Erwartungen und Wünsche nicht erfüllt werden oder wenn unsere Wünsche im Kon ikt zu unseren Werten und Ängsten stehen (siehe Exkurs: Wie zeigt sich Inkonsistenz?).

Unsere Wahrnehmung ist das Eingangstor zu unserem Bewusstsein. Wahrnehmungsreize der äußeren, physischen Welt werden (unbewusst) mit unseren Erinnerungen verglichen und vermischen sich zu einem Vorstellungsbild. Die Wahrnehmung ist niemals objektiv, sondern wird immer mit subjektiver Bedeutung angereichert. Entscheidend ist die subjektive Bedeutung, die wir einer Wahrnehmung (Erfahrung) geben. Diese löst Gefühle (Emp ndungen) und somit Handlungsimpulse aus. Wahrnehmungen, die keinerlei Bedeutung für uns haben, landen nicht in unserem Arbeitsspeicher, sie erreichen also nicht unser Bewusstsein und haben somit für uns nicht stattgefunden.

Von großer Bedeutung sind unsere frühkindlichen Prägungen, die darüber bestimmen, wie wir uns selbst und andere Menschen wahrnehmen. Sie werden als mentale Programme in das Erwachsenenalter übernommen und steuern von dort unsere Wahrnehmung und somit auch unsere Gefühle, unser Denken und unser Verhalten. Das sogenannte Schattenkind in uns ist eine Introjektion negativer frühkindlicher Prägungen. Es neigt dazu, andere Menschen als überlegen oder gar feindselig wahrzunehmen. Dieser Vorgang wird als Projektion bezeichnet. Die psychischen Mechanismen der Introjektion und Projektion bewirken, dass unsere Wahrnehmung und unsere Interpretationen hochgradig subjektiv sind und streng genommen ein Ergebnis unseres Gehirns und weniger der äußeren Realität sind.