Wenn Kontrolle das Problem ist

Wenn wir ein Problem haben, dann liegt diesem oft ein tatsächlicher oder eingebildeter Kontrollverlust zugrunde. Deswegen richten wir unsere Maßnahmen, das Problem zu bewältigen, immer darauf aus, es in den Griff, also unter Kontrolle zu bekommen. 

Interessanterweise entstehen manche Probleme aber erst durch unseren Wunsch, Kontrolle auszuüben. Das passiert, wenn ein anfänglich kleineres Problem durch den zwingenden Kontrolldrang des Betroffenen zu einem größeren und fortdauernden Problem wird. Angststörungen sind hierfür ein gutes Beispiel. Wer unter Panikattacken leidet, erlebt einen enormen Kontrollverlust. Um die Angst unter Kontrolle zu bekommen, vermeiden die Betroffenen die angstauslösende Situation. Durch die Vermeidung wird die Angst jedoch aufrechterhalten und verstärkt, weil das Gehirn nicht die Erfahrung macht, dass es die angstbesetzte Situation bewältigen kann.

Angst geht normalerweise mit unwillkürlichen körperlichen Symptomen wie Schwitzen, Zittern oder Erröten einher. Deswegen fürchten viele Menschen Vortragssituationen. Je mehr man sich nämlich bemüht, die unwillkürlichen körperlichen Reaktionen wie Händezittern oder Erröten unter Kontrolle zu bekommen, desto stärker treten sie auf. Unwillentliche Reaktionen kann man nicht durch Willenskraft in den Griff bekommen, und je mehr man dies versucht, desto stärker fokussiert man sich auf die Symptome und verstärkt sie hierdurch.

Zwangsstörungen sind auch ein sehr gutes Beispiel dafür, dass der Wunsch nach Kontrolle oft das Problem als solches darstellt. Eine Zwangsstörung kann sich in zwanghaften Gedanken oder Handlungen äußern. Bei den Zwangsgedanken werden die Betroffenen von Vorstellungen, Gedanken oder Impulsen heimgesucht, die sie zwar als unsinnig oder übertrieben erkennen, die sich ihnen aber trotzdem immer wieder aufdrängen. Diese Gedanken lösen unangenehme Gefühle wie Unbehagen, Ekel oder Angst aus. Ein typischer Zwangsgedanke ist beispielsweise der einer Mutter, die Angst hat, ihrem Baby etwas anzutun, die Bilder dazu aber nicht aus dem Kopf bekommt. Diese Zwangsgedanken lösen große Scham bei der Mutter aus. Sie sind jedoch nicht Anzeichen einer realen Gefahr.

Bei den Zwangshandlungen fühlen sich die Betroffenen gezwungen, bestimmte Verhaltensweisen zu wiederholen. Auch hier empfinden die Betroffenen ihre Handlungen oftmals als sinnlos oder unangemessen. Einige Menschen leiden zum Beispiel unter Kontroll- oder Waschzwängen, mit denen sie im ersteren Fall sicherstellen wollen, dass sie nichts übersehen oder vergessen haben, und im letzteren Fall, dass sie möglichst keimfrei durchs Leben kommen. Oft schämen sich die Zwangserkrankten für ihre »Marotten« und versuchen, sie zu verheimlichen. Das führt zu Kontrollversuchen auf einer weiteren Ebene: Die Betroffenen wollen kontrollieren, dass niemand etwas von ihrem Kontrollzwang mitbekommt. Es ist leicht vorstellbar, dass dies Auswirkungen auf ihre Beziehungen hat.

Der Versuch, Kontrolle über den anderen zu gewinnen oder sich dessen Kontrollbemühungen zu entziehen, ist generell ein Nährboden für Beziehungsprobleme. Das trifft auch auf Schwierigkeiten zu, bei denen der Kontrollaspekt nicht offensichtlich ist.

Häufig wenden sich Menschen an mich, die sehr unglücklich sind, weil sie sich mehr Nähe und Verbundenheit zu einem Partner wünschen, die dieser ihnen jedoch nicht oder nur sporadisch gibt. Die Betroffenen fühlen sich traurig bis hin zur Verzweiflung, sie sind hilflos und sehr verlustängstlich. Sie erleben eine starke Inkonsistenz zwischen ihrem Nähebedürfnis und der äußeren Realität. Folglich sind sie bemüht, die äußere Realität zu verändern: Sie versuchen also, ihre widerspenstige Zielperson enger an sich zu binden. Diesem Lösungsansatz liegt jedoch die Annahme zugrunde – den allermeisten Menschen ist das nicht bewusst –, dass das Problem auf ihrer Seite liegt. Nur wenn ich die Verantwortung dafür übernehme, dass ein anderer Mensch sich mir gegenüber schwierig und wenig berechenbar verhält, kann ich die Überzeugung oder auch die Illusion pflegen, dass es in meiner Macht liegt, an seinem Verhalten etwas zu verändern. Ich möchte diesen Gedanken an einem extremen Beispiel verdeutlichen: Wenn mein Gegenüber keine Arme hat, erwarte ich nicht, dass es mich umarmt. Schon gar nicht komme ich auf die Idee, dass es meine Schuld wäre, wenn er mich nicht umarmt. Folglich werde ich auch keine Versuche unternehmen, Kontrolle über die Situation zu gewinnen.

Wenn mein Gegenüber jedoch augenscheinlich kein Handicap aufweist und mich trotzdem (dauerhaft) nicht umarmen will – um in diesem Bild zu bleiben –, dann kommen die allermeisten Menschen zu dem Ergebnis, dass sie selbst die Schuld an der Verweigerungshaltung tragen, weil sie in irgendeiner Form nicht genügen.

Diese Übernahme von Verantwortung ist vielen Liebesleidenden jedoch nicht bewusst. Einige vermuten möglicherweise, dass ihre Zielperson unter Bindungsangst leidet oder narzisstische Züge aufweist und deren mangelndes Commitment also letztlich nicht auf sie selbst zurückzuführen ist. Wenn ich in einem Therapiegespräch diese Erklärung jedoch hinterfrage, dann stellt sich schnell heraus, dass meine Klientinnen und Klienten dennoch an sich selbst zweifeln: Wären sie schöner, klüger, besser, dann würde sich ihre Sehnsuchtsperson zu ihnen bekennen. Diese Selbstwertzweifel sind der Nährboden ihrer Schmerzen und ihrer Kontrollillusion.

Wenn die Betroffenen, so wie Maja im Abschnitt »Unser Selbstbild bestimmt, was wir wahrnehmen«, schon ein angegriffenes Selbstwertgefühl aus ihrer Kindheit in sich tragen, dann streut die Zurückweisung zusätzlich Salz in die offene Wunde. Aber auch Menschen mit einem stabilen Selbstwertgefühl sind gefährdet, sich selbst die Schuld für die Misere zu geben. Hier schlägt die Konditionierung des »gespiegelten Selbstwertemp ndens« zu, die ich bereits im Abschnitt »Wir sind unsere Erinnerung« erwähnt habe. Wir sind von Kindheit an darauf trainiert, unseren Selbstwert im Spiegel unserer Eltern und später im Spiegel unserer Mitmenschen zu empfinden. Wenn es uns also passiert, dass unsere Liebe unerwidert bleibt beziehungsweise nur sporadisch erwidert wird, dann nehmen wir dies (richtigerweise) als Ablehnung wahr und ziehen daraus (fälschlicherweise) den Schluss, dass der Fehler bei uns läge.

Diese Selbstwertkränkung setzt bei vielen Menschen ungeheure Energien frei, ihre Zielperson doch noch von ihrem Wert zu überzeugen. Sie kämpfen auch um deren Liebe und Anerkennung, um ihren Selbstwert zu retten. Sie wollen also die Kontrolle über ihr psychologisches Grundbedürfnis nach Selbstwerterhöhung erlangen. Aber auch ihr psychologisches Bedürfnis nach Bindung ist in dieser Situation extrem bedroht. Sie haben keine Kontrolle über ihr Zielobjekt, was abgrundtiefe Verlustangst auslösen kann. Das Gehirn setzt alle Hebel in Bewegung, um den drohenden Bindungsverlust abzuwenden. Bei diesem Prozess spielt das Hormon Dopamin eine entscheidende und heimtückische Rolle.

Exkurs: Welche Rolle spielen Hormone?

Hormone sind die neuronalen Botenstoffe für unsere Gefühle. Ohne Hormone können wir nichts fühlen. Wenn wir uns beispielsweise gestresst fühlen, werden die Hormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol freigesetzt. Dopamin hingegen ist bekannt als das Glückshormon, es wird ausgeschüttet, wenn uns unerwartet Gutes widerfährt. Weniger bekannt dürfte sein, dass Dopamin auch das Hormon des »Haben-Wollens« ist. Alles, was innerhalb der Reichweite unserer Arme ist, wird in der Verhaltenspsychologie gemeinhin als der »peripersonale Raum« bezeichnet; dieser umfasst unsere unmittelbare Realität. Dinge, die außerhalb der Reichweite unserer Arme liegen, befinden sich im »extrapersonalen Raum«, sei es in der Distanz von einem Meter oder von tausend Kilometern. Im extrapersonalen Raum befindet sich die Welt der Möglichkeiten. Dopamin hat die Aufgabe, uns nach dem Unbekannten und Neuen streben zu lassen. Das Unbekannte muss idealisiert werden, damit es für uns verlockend ist. Dopamin befeuert unsere Erwartung, die Verheißung auf das Glück, die Leidenschaft. Ein Wunschpartner, der sich nicht richtig auf uns einlässt, setzt somit Unmengen an Dopamin im Gehirn frei – er befindet sich im »extrapersonalen Raum«. Das Gleiche gilt natürlich für die Anfangsphase einer frischen Liebe. Die Anfangszeit einer Beziehung ist auf beiden Seiten durch Unsicherheit gekennzeichnet. Der Wunsch ist groß, das Liebesobjekt vom extrapersonalen Raum im peripersonalen Raum zu sichern. Wenn die Partner einander irgendwann sicher sind und die Beziehung »committed« ist, dann lässt das Dopamin stark nach, das Verlangen sinkt, der Rausch versiegt. Im günstigen Fall werden dann Oxytocin und Vasopressin ausgeschüttet, das sind die Hormone des »Hier und Jetzt« im peripersonalen Raum. Diese Hormone bestimmen das kuschlige, ruhige, aber weniger aufregende Gefühl der Liebe. Dieses Gefühl stellt sich jedoch bei Menschen, die sich in ihrer Beziehung oder Möchtegern-Beziehung nie sicher fühlen, nicht ein. Ihre Gehirne sind sozusagen dopaminverseucht. Sie können sich verzehren und an ihrer Begierde schier verzweifeln. Dieser Zustand kann unheimlich lange anhalten und wird deswegen häufig mit dem Gefühl der »großen Liebe« verwechselt.

Wenn ein Mensch also nicht müde wird, einem Partner hinterherzujagen, der sich nicht auf ihn einlässt, dann ist das eigentliche Problem nicht, dass er diesen Partner nicht bekommt, sondern, dass er ihn unbedingt bekommen will. Die eigentliche Ursache des Leidens verbirgt sich hinter dem Versuch, die Kontrolle über das lädierte Selbstwertgefühl wiederzuerlangen, die Bindung zu sichern und die Verlustangst abzustellen. Die Droge für den Kontrolltrieb ist das Dopamin, das heimtückischerweise auch noch dafür sorgt, dass das nicht erreichbare Liebesobjekt sehr idealisiert wahrgenommen wird.

Wenn die Betroffenen sich jedoch einmal in Ruhe zurücklehnen und bei einer Tasse Tee darüber nachdenken, ob dieser Mensch es wirklich wert ist, ihn mit allen Mitteln unter Kontrolle zu bekommen, dann wird vielen klar, dass es ihnen nicht wirklich um den anderen geht, sondern um die Beseitigung ihres Kontrollverlusts.