Die gute Balance zwischen Bindung und Autonomie

Wir haben nun viel darüber erfahren, dass unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Bindung überlebenswichtig ist. Wir tun deshalb sehr viel, um Anerkennung von anderen Menschen zu erhalten, beziehungsweise um uns vor Verletzungen in Form von Zurückweisung zu schützen. Gleichzeitig wollen wir jedoch auch selbstbestimmt unser Leben gestalten und unser eigenes Ding machen, also unser psychisches Grundbedürfnis nach Autonomie und Kontrolle bedienen. Autonomie und Kontrolle sind unzertrennlich, weil Autonomie nicht ohne Kontrolle funktioniert. Wir benötigen Kontrolle über unseren Körper, damit wir handlungsfähig sind, aber auch Kontrolle über unsere psychischen Vorgänge. Ständig regulieren wir teils bewusst, teils unbewusst unsere Wahrnehmung, unsere Gefühle, unsere Gedanken und Handlungen, um ein möglichst gutes psychisches Gleichgewicht herzustellen, also Konsistenz zu erleben, unabhängig davon, ob wir uns gerade in Gesellschaft beenden oder allein sind. Im Beisammensein mit anderen Menschen richtet sich unser Kontrollbedürfnis jedoch nicht nur auf unsere innere psychische Balance, sondern auch auf das Verhalten unserer Mitmenschen. Wir wollen dann Einfluss darauf nehmen, dass der andere uns beachtet, uns zuhört (oder zusieht) und auf uns – am liebsten positiv – reagiert. Wir wollen mitbestimmen und
gleichzeitig angenommen werden.

Bindung und Autonomie sind ein Gegensatzpaar: In dem Moment, in dem ich mich anpasse, kann ich mich nicht gleichzeitig selbst behaupten. Das geht nur im Wechsel. Im Grunde genommen besteht darin unser tägliches und lebenslanges Dilemma. Von morgens bis abends verfolgen wir Ziele und unser Gehirn berechnet Erwartungen, was als Nächstes passieren wird.

Je nach Einschätzung der Situation passen wir uns den Gegebenheiten an oder verfolgen unsere persönlichen Interessen. Idealerweise befinden sich die Interessen meiner Mitmenschen und die meinigen im Einklang, dann gibt es keinen Konflikt. Falls nicht, müssen wir eine Entscheidung treffen.

Viele unserer Entscheidungen sind fester Bestandteil unserer Tagesroutinen und Verhaltensgewohnheiten und erfolgen sozusagen automatisch. Diese Entscheidungen und Handlungen gehen Hand in Hand und werden nicht weiter hinterfragt. Das ist effzient und der Vorteil von Routinen. Ein eingespieltes Anpassungsprogramm ist für die meisten Menschen zum Beispiel ihre Arbeit. Man hält sich an die Regeln von Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Effzienz. Man versucht, mit den Kolleginnen und Kollegen möglichst gut klarzukommen, und benimmt sich so, dass man als Teil der Gemeinschaft akzeptiert wird. Gleichwohl verläuft nicht immer alles reibungslos. Es gibt Interessenkonflikte innerhalb des Teams, es gibt unterschiedliche Auffassungen, welche Maßnahmen und Projekte geeignet sind, um den Erfolg der Firma zu sichern. Es gibt persönliche Bedürfnisse, was die Regelung der Arbeitszeit, den Lohn oder die Aufstiegschancen betrift. Tritt ein Konflikt, also eine Inkonsistenz, zwischen meinen persönlichen Interessen oder Überzeugungen und denen meiner Kollegen oder Vorgesetzten auf, dann analysiere ich, ob es sich zu kämpfen lohnt oder ob es klüger wäre nachzugeben. Wie diese Kalkulation ausfällt, hängt nicht nur von den objektiven Fakten ab, sondern auch von meiner individuellen Prägung, also meiner mentalen Landkarte. Habe ich ein verzagtes Schattenkind mit einem unsicher-anklammernden Bindungsstil introjiziert, das vor allem motiviert ist, Verletzungen seiner Grundbedürfnisse nach Bindung und Selbstwerterhöhung zu vermeiden, dann werde ich mich selten bis niemals dafür entscheiden, meine eigenen Interessen zu vertreten. Die innere Balance zwischen Bindung und Autonomie ist also zugunsten der Bindung aus dem Gleichgewicht.

Habe ich hingegen ein Schattenkind verinnerlicht, das einen vermeidenden Bindungsstil aufweist und deswegen unbewusst beschlossen hat, dass es sich sowieso nur auf sich selbst verlassen kann, dann werde ich recht stur mein eigenes Ding machen. Die innere Balance zwischen Bindung und Autonomie ist also zugunsten der Autonomie aus dem Gleichgewicht.

Habe ich hingegen einen sicheren Bindungsstil erworben, dann kann ich mich recht flexibel und frei entscheiden, ob es für die gegebene Situation sinnvoller ist, mich anzupassen oder mich selbst zu behaupten. Mit anderen Worten ausgedrückt: Ich befinde mich in einer guten Balance zwischen Autonomie und Bindung. Sowohl für die Bindung als auch für die Selbstbehauptung benötigen wir bestimmte Fähigkeiten. Es überrascht nicht, dass die Fähigkeiten, die ich für die Bindung benötige, jenen entgegenstehen, die ich für die Autonomie benötige. Was ich persönlich besonders interessant finde, ist das Folgende: Wenn es den Eltern hinreichend gut gelingt, die Bedürfnisse ihres Kindes sowohl nach Bindung als auch nach Autonomie zu erfüllen, dann erwirbt das Kind neben einem sicheren Bindungsstil auch die Fähigkeiten, die es für die Bindung und Autonomie benötigt.

Welche Fähigkeiten das sind und wie entscheidend sie zu unserer Lebenszufriedenheit beitragen, darauf möchte ich im nächsten Abschnitt eingehen.