Geringer Selbstwert und dysfunktionale Beziehungen

Im letzten Abschnitt habe ich erklärt, dass nicht wenige Menschen lieber (unbewusst) an ihrer gefühlten Minderwertigkeit festhalten, als sich kritisch mit ihren Eltern auseinanderzusetzen. Sie sind derart darauf konditioniert, den Fehler bei sich zu suchen, dass sie diese Prägung auch auf andere Beziehungsformen übertragen, wenn diese nicht in die gewünschte Richtung verlaufen. Ihre Konditionierung ist ein Teil ihrer mentalen Landkarte. Diese Konditionierung ist wahrlich kein Einzelfall: Die Glaubenssätze »Ich genüge nicht« und »Ich bin schuld« sind in vielen Menschen tief verankert.

Exkurs: Toxische Beziehungen

Der Begriff der »toxischen Beziehung« wird seit einiger Zeit verwendet, um einen bestimmten Typ dysfunktionaler – also nicht funktionierender – Beziehungen zu charakterisieren. »Toxisch« bedeutet giftig. Die toxische Beziehung ist bildlich betrachtet eine vergiftete Verbindung. Die Bedürfnisse eines Partners stehen in dieser Partnerschaft stark im Vordergrund, die Aufgabe des anderen ist, die Anforderungen zu erfüllen. Dem dominanten, meist narzisstischen Partner geht es nicht um ein Wir-Gefühl, sondern nur um die Bestätigung seines Selbstwertgefühls. Der untergeordnete Partner erhält für seine Aufmerksamkeit allerdings keine oder nur wenig Wertschätzung. Das »Gift« in dieser Beziehung entsteht jedoch nicht ausschließlich durch den dominanten Part, sondern durch das ungünstige Zusammenspiel beider Partner.

Der narzisstische Partner (s. dazu auch »Exkurs: Was steckt eigentlich hinter dem Begriff »Narzissmus?«) sucht sich von vorneherein keinen Partner auf Augenhöhe, der ihn in seine Schranken weist, sondern einen Menschen, der die aufopfernde Rolle annimmt. Obwohl das dem »dienenden« Part nicht guttut, kann er sich oftmals – wider besseres Wissen – nicht von seiner Rolle lösen und die Beziehung beenden.

Die Hauptursache hierfür ist, dass der abhängige Partner sich selbst die Schuld für das Verhalten seines Partners gibt, was dieser ihm auch so suggeriert.

Nicht jede dysfunktionale Beziehung ist allerdings als toxisch einzustufen. Partnerschaften, in denen zum Beispiel zwei bindungsängstliche Menschen aufeinandertreffen, funktionieren möglicherweise nur schlecht. Anders als bei der toxischen Beziehung kann es aber sehr wohl ein gegenseitiges Interesse aneinander geben. Während Narzissten gar keinen Bedarf sehen, ihr Verhalten dem Partner zuliebe zu ändern, wollen viele bindungsängstliche Menschen sehr wohl an ihrer Beziehungsfähigkeit arbeiten. Diese dysfunktionalen Beziehungen können dann zu gut funktionierenden Beziehungen werden.

Es klingt paradox, aber die Aufrechterhaltung eines geringen Selbstwertgefühls beschützt Menschen in dysfunktionalen Partnerschaften nicht selten vor ihrer Verlustangst. Indem sie nämlich die Ursache für das lieblose Verhalten ihres Partners bei sich suchen, sprechen sie diesen ein Stück weit von seiner Verantwortung frei. Dies geschieht in der Regel auf subtile Art und Weise. Der betroffene Partner denkt in den meisten Fällen nicht »Ich bin schuld«. Er denkt eher etwas wie »Wenn ich ein paar Sachen an mir ändern und etwas besser machen würde, dann wäre der andere zufriedener mit mir«. Viele quälen sich auch mit der Frage, ob ihr Partner mit einem anderen (sprich: besseren) Partner glücklicher wäre und sich mithin liebevoller verhielte. Durch diese Übernahme von Verantwortung blockieren sie (unbewusst) ihre Trennungsaggression, die sich einstellen würde, wenn sie sich eingestünden, wie beziehungsfeindlich sich ihr Partner tatsächlich aufführt. Die Aussicht auf eine Trennung kann beim selbstwertgeschädigten Partner so viel Verlustangst freisetzen, dass er lieber an seinem negativen Selbstbild festhält. Außerdem gibt die Übernahme von Verantwortung fälschlicherweise Raum für Hoffnung: Wenn man ein bisschen an sich selbst arbeitet, lautet die Annahme, kann sich letztlich doch alles zum Guten wenden lassen. Das zugrunde liegende Muster habe ich bereits unter dem Abschnitt »Wenn Kontrolle das Problem ist« erläutert.

Häufig – wenn auch nicht immer – wird in dysfunktionalen Beziehungen unbewusst eine Situation nachgelebt, die den Betroffenen aus ihrer Kindheit vertraut ist. Eine erwachsene Frau sucht sich dann beispielsweise immer wieder Männer aus, die sie – wie bereits ihr bindungsvermeidender Vater – lieblos behandeln und sich nicht wirklich auf die Beziehung mit ihr einlassen. Der Sohn einer übergriffigen, dominanten Mutter fühlt sich immer wieder von Frauen mit einer ähnlichen Persönlichkeitsstruktur angezogen. In der Psychologie wird dieses Phänomen als Wiederholungszwang bezeichnet.

Die Kontrollbemühungen der »Wiederholungszwängler« richten sich darauf aus, dass die andere Person sich zu ihnen und ihrem Wert bekennt. Sie kämpfen unbewusst um das Happy End, das ihnen in ihrer Kindheit vorenthalten blieb. Als Erwachsene möchten sie nun endlich Einfluss (Kontrolle) auf das Verhalten ihres Partners (früher: eines Elternteils) nehmen können. Es sind allerdings nicht ausschließlich die gegengeschlechtlichen Elternteile, die als Vorlage für einen Wiederholungszwang dienen können. So kann sich beispielsweise eine Frau in ihren erwachsenen Liebesbeziehungen an ihrer narzisstischen Mutter abarbeiten, indem sie dieses Muster unbewusst auch in ihren Partnern sucht.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal an das »gespiegelte Selbstwertempfinden« erinnern, das ich bereits unter dem Abschnitt »Unser Selbstbild bestimmt, was wir wahrnehmen« beschrieben habe. Die Konditionierung, unseren Selbstwert durch den Spiegel wahrzunehmen, den andere Menschen uns vorhalten, sitzt tief und kann einen mächtigen Einfluss auf unsere Beziehungsgestaltung haben. Dies trifft sowohl auf liebevolle und harmonische Beziehungen zu als auch auf lieblose, dysfunktionale Beziehungen. In liebevollen Beziehungen, egal ob unter Freundinnen, Ehepaaren oder Arbeitskollegen, halten sich die Beteiligten überwiegend »positive Spiegel« vor, will heißen, sie bestätigen sich durch die Art, wie sie miteinander umgehen, ihren wechselseitigen Respekt, ihre Zuneigung und damit indirekt ihren Wert. Dysfunktionale Beziehungen sind hingegen dadurch gekennzeichnet, dass mindestens einer der Partner eine mehr oder minder konstant geringe Selbstwertzufuhr erhält. Er oder sie fühlt sich in vielen Interaktionen nicht wertgeschätzt, von sporadischen positiven Unterbrechungen einmal abgesehen.

Dieser Mangel an Wertschätzung kann eine ungeheure Motivation freisetzen, den anderen Partner zu einer positiven Verhaltensänderung zu bewegen. Man will unbedingt und genau von diesem Menschen bestätigt bekommen, dass man doch etwas wert ist. In dieser Konstellation ist also nicht nur unser Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung ausschlaggebend und treibend, sondern – wie so oft – unser Bedürfnis nach Kontrolle.

In dysfunktionalen Beziehungen wirkt oftmals auch das Konsistenzprinzip (s. dazu auch »Das Konsistenzprinzip«): Die Betroffenen rechnen mit Ablehnung. Wenn sie dann tatsächlich Ablehnung erfahren, bekommen sie also, was sie erwarten. Diese Beziehungskonstellation fühlt sich vertraut an, sie kennen sie aus ihrer Kindheit und wissen, »wie’s läuft«. Das gibt ihnen paradoxerweise ein gewisses Gefühl von Heimat.