Wws-T1: Unsere Gefühle Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Unsere Gefühle
Ich möchte nun näher auf die Bedeutung der einzelnen Gefühle für unser Leben und unser Erleben eingehen. Wie ich bereits mehrfach erwähnt habe, sind Gefühle auf der psychologischen Ebene die Essenz unseres Lebens. Ohne Gefühle verliert das Leben seinen Wert und damit auch seinen Sinn. Wir fühlen, um zu verstehen, was wir erleben. Gefühle zeigen uns die Richtung an, in die wir uns bewegen wollen. Die grobe, aber grundlegende Einteilung in gut oder schlecht und die damit einhergehende Frage, ob man sich einer Situation annähern oder sie lieber vermeiden möchte, wird durch unsere Gefühle vermittelt.
Wie ich unter anderem unter »Glücksgefühle sind unsere Lebensdroge« erwähnt habe, würden wir uns ohne unsere Gefühle wie ein kompassloses Schiff im Kreis drehen. Und genau das beklagen auch Menschen, die einen schlechten Kontakt zu ihren Gefühlen haben. Sie tun sich schwer, Entscheidungen zu treffen, insbesondere wenn es sich um Gefühlsangelegenheiten handelt.
Unsere Gefühle verfolgen also einen lebenswichtigen Sinn. Gleichwohl gibt es viele Gefühle, die wir am liebsten nicht fühlen würden, wie beispielsweise Angst, Trauer, Eifersucht, Ekel oder Scham. Diese Gefühle vermeiden wir, wenn möglich, aber auch sie bieten uns eine starke Orientierung im Leben.
Negativ empfundene Gefühle warnen uns, sie schärfen unsere Aufmerksamkeit und helfen ungeheuer dabei, uns Dinge zu merken.
Gefühle entstehen nicht aus dem Nichts, auch wenn wir uns manchmal von ihnen überrumpelt fühlen. Ihnen liegt immer ein Auslöser zugrunde. Typische Auslöser sind:
- Äußere Situationen, z. B. Stau auf der Autobahn
- Gedanken, z. B. »Mist, jetzt komme ich zu spät«.
- Innere Bilder, zum Beispiel eine Erinnerung, was passiert ist, als man das letzte Mal zu spät gekommen ist.
Andere Gefühle können ebenfalls ein Auslöser sein: Beispielsweise kann die Angst, wegen einer Verspätung ein wichtiges Meeting zu verpassen, dann als Reaktion und gewissermaßen Folgegefühl Ärger auf den Plan rufen.
An den obigen Beispielen kann man erkennen, wie eng unsere Gefühle mit der Bewertung eines äußeren Ereignisses zusammenhängen. Derselbe Mensch hätte auch denken können: »Super, jetzt verpasse ich das öde Meeting und habe eine gute Entschuldigung parat!«, und schon hätte er sich über den Stau gefreut. Generell können wir mit unseren Gedanken unsere Gefühle extrem beein ussen. Allerdings gilt das nicht in jeder Situation:
Wenn ein geliebter Mensch stirbt, dann ist das einfach traurig. Wenn ich eine tödliche Diagnose bekomme, dann macht das erst einmal Höllenangst. Hinter jedem Gefühl steckt ein Bedürfnis; meistens handelt es sich dabei um eines unserer psychologischen Grundbedürfnisse. Um sich selbst, aber auch andere Menschen besser zu verstehen, ist es hilfreich, das Bedürfnis zu verstehen, das sich in einem Gefühl ausdrückt. Wenn ich beispielsweise wegen der Verspätung durch den Stau auf der Autobahn Angst verspüre, dann ist mein Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle tangiert, weil mein Job mir wichtig ist und ich keinen Einfluss auf den Stau habe. Aber auch mein Bedürfnis nach Bindung kann betroffen sein, weil der Job beziehungsweise das Meeting mir ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt und meinen Selbstwert stabilisiert.
Gefühle sagen uns also, was wir brauchen, was uns stört oder wo ein persönlicher Wert von uns verletzt ist. Außerdem informieren sie uns, was wir tun müssen, um das entsprechende Bedürfnis zu erfüllen. Empfinden wir Angst, rät uns dieses Gefühl vielleicht zu Flucht und Vermeidung. Empfinden wir Wut, dann wagen wir vielleicht den Angrif (Annäherung).
Viele unserer Gefühle sind angemessen und weisen uns auf einen bestimmten Handlungsbedarf hin, damit das dahinterstehende Bedürfnis erfüllt wird. Leider geraten wir aber auch in Gefühlszustände, die uns sozusagen falsch beraten, weil sie sich auf die vergangene Realität unseres Schattenkindes beziehen und nicht auf die gegenwärtige. Wenn ich in meinem Schattenkind gefangen bin, dann projiziere ich alte Gefühle auf die Gegenwart. Die große Kunst ist deshalb zu unterscheiden, welche Gefühle zu meinem Schattenkind gehören und welche für die gegenwärtige Situation angemessen sind.
Gefühle haben aber auch eine Sendefunktion. Sie liefern anderen Menschen wichtige Informationen über unsere Bedürfnisse. Wenn ich zum Beispiel traurig aussehe, signalisiert das meinem Gegenüber, dass ich Aufmerksamkeit und Trost benötige. Menschen, die wenig Zugang zu ihren Gefühlen haben oder diese nicht im Außen zeigen, sind deswegen auch von anderen Menschen schwer zu lesen.
Manche Menschen benutzen aber auch einen unechten Gefühlsausdruck, um andere zu manipulieren. In diesem Zusammenhang spricht man von instrumentellen Emotionen. Ein Heulkrampf kann zum Beispiel inszeniert werden, um den Partner davon abzuhalten, an der Betriebsfeier teilzunehmen. Oder ich gebe mich uninteressiert, um in einem begehrten Liebesobjekt den Jagdinstinkt zu wecken.
Wir spüren unsere Gefühle körperlich. So löst Freude bei vielen Menschen ein Kribbeln im Brustraum aus, während sich Verliebtheit eher als Kribbeln im Bauch bemerkbar macht. Bei Trauer hingegen schnürt es den meisten Menschen den Hals zu. Weitere typische Gefühlsempfindungen sind: Druckgefühl, Wärme, Kälte, Zittern, Herzrasen, Schwitzen, Schwindel, Übelkeit oder ein Kloß im Hals.
Menschen, die einen sehr schlechten Zugang zu ihren Emotionen haben, haben meistens auch keinen guten Draht zu ihren körperlichen Empfindungen. Dahinter verbergen sich häufig frühkindliche Traumata. Das Erleben der traumatischen Situation konnten sie nur ertragen, in dem sie ihre körperlichen Empfindungen quasi abgestellt haben. Opfer sexuellen Missbrauchs berichten beispielsweise, dass sie, während der Täter sie vergewaltigte, quasi aus ihrem Körper hinausgetreten sind. Dies ist ein Abwehrmechanismus, den man Abspaltung (Dissoziation) nennt. Was den eigentlichen Schock-Moment vielleicht besser zu ertragen hilft, kann aber zu dauerhaften Persönlichkeitsstörungen führen. Unsere abgespaltenen Gefühle werden in eine Art »inneren Keller« und aus unserem Bewusstsein ausgelagert.
Diese Auslagerung kann dazu führen, dass man als Erwachsener im Alltagsleben zwar funktioniert, aber innerlich ein psychischer Ausnahmezustand besteht. Der Prozess der Abspaltung und das Funktionieren im Alltag bedeuten also nicht, dass die Erinnerungen uns nicht weiterhin verfolgen.
Aber auch Überangepasste, deren Kindheitserfahrungen nicht von traumatischer Qualität waren, haben normalerweise Probleme, ihre Gefühle wahrzunehmen. Der Grund ist, dass sie mit ihrer Aufmerksamkeit stärker mit den Gefühlen der anderen beschäftigt sind als mit ihren eigenen. Sie können jedoch, sobald sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre Gefühle lenken, diese wieder besser spüren. Deswegen ziehen sie sich auch gern in ihre vier Wände zurück. Solange nämlich kein potenzieller Erwartungsträger in der Nähe ist, können sie sich ohne Schuldgefühle um ihre eigenen Bedürfnisse kümmern.
Exkurs: Hormone und Gefühle
Hormone sind die Botenstoffe für unsere Gefühle. Wenn uns ein bestimmtes Hormon fehlt, dann können wir auch nicht fühlen. Hormone prägen unser Verhalten also ebenfalls maßgeblich. Ihr Einfluss wird inzwischen verstärkt erforscht.
Es ist mittlerweile belegt, dass diese Botenstoffe nicht nur physische, sondern auch psychische Reaktionen verursachen. Unser Hormonprofil ist genetisch beeinflusst. Wie viel wir von welchen Hormonen in bestimmten Situationen ausschütten, ist also individuell. Ein einfaches Beispiel: Wir alle kennen Frauen, die vor ihrer Menstruation stark unter hormonellen Stimmungsschwankungen leiden und nah am Wasser gebaut sind. Genauso gibt es Frauen, die keine Ahnung haben, was das Prämenstruelle Syndrom, kurz PMS. überhaupt sein soll, weil sie einfach keine mentale Veränderung spüren. Schuld ist der unterschiedlich ausgeprägte Östrogen- beziehungsweise Progesteronspiegel.
Die Konzentration der Geschlechtshormone hat auch Einfluss darauf, wie wir uns mit zunehmendem Alter und in der zweiten Lebenshälfte fühlen. Bei Frauen verringert sich in den sogenannten Wechseljahren die Produktion von Östrogen. Das kann nicht nur körperliche Konsequenzen wie Hitzewallungen und Schweißausbrüche haben. Die nachlassende Hormonproduktion im mittleren Alter kann auch zu einem Nachlassen des Gefühlslebens führen – bei Frauen wie bei Männern. Bei vielen Frauen kommt es – auch in glücklichen Partnerschaften – zu einem Rückgang der Libido, bei einigen führt der Hormonabfall zu Depressionen. Um diese Beschwerden zu lindern, wurde früher oft eine Hormonersatztherapie verordnet, deren Einsatz inzwischen allerdings umstritten ist. Statt den Einsatz von Hormonen pauschal abzulehnen, plädieren inzwischen viele Frauenärztinnen und -ärzte für einen differenzierten Einsatz der Hormontherapie, der die individuellen Chancen und Risiken der einzelnen Frau (etwa durch eine östrogenbedingte Brustkrebserkrankung im Vorfeld der Wechseljahre) genau in den Blick nimmt.
Inzwischen wird auch versucht, die Hormonkonzentration durch eine Umstellung des Lebenswandels zu beeinflussen: Faktoren wie Ernährung, Stress oder Bewegung haben einen Einfluss auf die Hormonausschüttung. Ein Rückgang der Libido bei Frauen aufgrund sinkender Östrogenspiegel in den Wechseljahren lässt sich allerdings durch nicht-hormonelle Maßnahmen nicht vollständig ausgleichen.
Hormone beeinflussen auch, wie wir auf bestimmte Situationen und Anforderungen reagieren. Sie reden beispielsweise ein Wörtchen mit, wenn es darum geht, ob man in Stresssituationen eher mutig und forsch oder eher ängstlich und zögerlich reagiert. Ausschlaggebend ist in dem Fall die Menge an Cortisol, die man ausschüttet. Tatsächlich ist es sogar so, dass man beispielsweise das Maß an Ängstlichkeit eines Menschen beeinflussen kann, indem man ihm das Hormon Oxytocin zuführt. Bei einem entsprechenden Experiment des Psychologen Markus Heinrichs 22 , einem der führenden Oxytocin-Forscher an der Universität Freiburg, zeigte sich: Das verabreichte Oxytocin reduzierte bei den Probanden die Aktivität der Amygdala im Gehirn. Dadurch wurde das Angstzentrum in seiner Aktivität gebremst und die Empfindungen Vertrauen und Großzügigkeit konnten sich durchsetzen.
Hormone beeinflussen also zu einem nicht unerheblichen Teil unsere Gefühle. Die chemische Zusammensetzung dieser Botenstoffe setzt Vorgänge in unserem Organismus in Gang, die unsere Stimmungen prägen und verändern. Gut 150 Botenstoffe hat man bisher identifiziert. Wissenschaftler schätzen aber, dass es mehr als 1000 gibt.
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