Die psychischen Abwehrmechanismen

Es bedarf keines wissenschaftlichen Belegs für diese Feststellung: Wir alle möchten ungute Gefühle möglichst vermeiden. Ungute Gefühle entstehen nicht nur in ausgeprägten Konflikt- oder Stresssituationen, sondern ganz generell immer dann, wenn es eine Kluft gibt zwischen dem, was wir wollen, und dem, was ist. Diesen Zustand bezeichnet man als Inkonsistenz (siehe dazu auch »Das Konsistenzprinzip«). Um ihn zu beenden, benötigen wir Kontrolle, also Handlungsmöglichkeiten, um unsere Situation zu verändern.

Wenn wir über wenig Handlungsmöglichkeiten verfügen, dann können wir unsere Einstellung zu der Situation verändern: beispielsweise, indem wir unsere Erwartungen dämpfen oder auch, indem wir neue Prioritäten setzen und somit unseren Fokus verändern. Eine psychisch gesunde Reaktion ist beispielsweise, wenn wir nach einem Misserfolg nach einer kurzen Phase der Trauer oder Verärgerung sagen können: Okay, geschehen ist geschehen. Ich konzentriere mich jetzt auf das nächste Projekt!

Psychisch gesund ist es auch, Dinge, die ich nicht verändern kann, anzunehmen. Wenn ich beispielsweise meine Hochzeit unter blauem Himmel geplant habe, es aber unentwegt regnet, dann kostet es mich unheimlich viel zusätzliche psychische Energie, gegen dieses Schicksal aufzubegehren, anstatt es »wegzuatmen« und das Beste daraus zu machen. Es trägt erheblich zu unserem Lebensglück bei, Dinge anzunehmen, die man nicht verändern kann (siehe auch »Glücksgefühle sind unsere Lebensdroge«). Eine große Hilfe bei der Bewältigung von Schicksalsschlägen ist deshalb, uns nicht ausschließlich auf den Verlust zu fokussieren, sondern uns auch immer wieder in Dankbarkeit zu üben für alles, was uns das Leben dennoch an Fülle bereitstellt.

Gesunde Maßnahmen, um meine innere Einstellung zu einem Problem zu verändern und es somit zu bewältigen, sind:

  • die Anpassung von Erwartungen,
  • die Fokussierung auf andere Prioritäten
  • oder die Annahme von Unabänderlichem.

Es gibt aber auch psychische Bewältigungsstrategien, die uns mehr Probleme bescheren, als sie beseitigen. Dazu gehören Wahrnehmungsverzerrungen, die in der Fachsprache als psychische Abwehrmechanismen bezeichnet werden. Es waren Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen, die die psychischen Abwehrmechanismen als Erste erkannten und benannten. Auf Wikipedia werden beispielsweise inzwischen eine Vielzahl unterschiedlicher Abwehrmechanismen beschrieben. In der untenstehenden Auflistung beschränke ich mich auf jene, die nach meiner psychotherapeutischen Erfahrung und meiner Lebenserfahrung am relevantesten sind.

Psychische Abwehrmechanismen haben die Funktion, Inkonsistenz zu reduzieren, also einen Konflikt, den ein Mensch mit sich selbst oder mit seiner Umwelt austrägt, zu beseitigen. Diese Beseitigung wird vollzogen, indem der Konflikt vom Bewusstsein des Betroffenen ferngehalten wird. Alternativ wird der Konflikt auf einen anderen, psychisch ungefährlicheren Schauplatz verschoben: Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ich meinen Ärger auf meine Chefin an meinem Ehemann auslasse. Der Abwehrmechanismus heißt entsprechend Verschiebung .

Psychische Abwehrmechanismen werden in der Regel nicht bewusst herbeigeführt, sondern laufen unbewusst ab. Da Inkonsistenz Spannung erzeugt, steht der Abwehrmechanismus im Dienst der Spannungsreduktion und unterstützt somit unser Grundbedürfnis, Unlustgefühle zu vermeiden.

Mit Hilfe eines psychischen Abwehrmechanismus verändern wir unsere Wahrnehmung. Wir passen die Wahrnehmung so an, dass sie den zugrunde liegenden Konflikt verschwinden lässt oder ihn so umdeutet, dass er erträglich ist.

Ein Beispiel dafür wäre eine Beziehung, bei der einer der beiden Partner das außereheliche Verhältnis des anderen stillschweigend übersieht. Der betrogene Partner hängt so sehr an der Beziehung und hat so große Angst vor einem Konflikt oder einer Trennung, dass er alle möglichen Anzeichen ignoriert. Er nimmt zwar wahr, dass der andere oft spät nach Hause kommt, ständig am Handy hängt und Textnachrichten schreibt, aber er verschließt die Augen vor dem Offensichtlichen und meidet so den Konflikt.

Psychische Abwehrmechanismen sind aber nicht per se dysfunktional. Ein Abwehrmechanismus kann auch ein durchaus gesunder psychischer Vorgang sein, der uns das Leben etwas leichter macht. Hier ist zum Beispiel der allseits bekannte Abwehrmechanismus der Verdrängung zu nennen. Das klingt vielleicht überraschend, weil Sätze wie »Du bist ja ein Meister im Verdrängen« in der Regel ziemlich negativ gemeint sind. Aber ohne ein gewisses Maß an Verdrängung wären wir alle kaum funktionsfähig. Schließlich können wir uns nicht ständig mit unserer eigenen Verletzlichkeit, Sterblichkeit und dem Elend der Welt konfrontieren, ansonsten hätten wir kaum noch Lust, morgens aufzustehen. Wie so oft im Leben geht es auch hierbei um das Ausmaß, mit dem man innere oder äußere Konflikte verdrängt. Die Verdrängung wird dann dysfunktional, wenn sie mir am Ende des Tages mehr Probleme beschert als löst. Wenn ich also permanent meine eigenen Bedürfnisse verdränge, um mich anderen Menschen besser anpassen zu können, damit sie mich mögen (Leben in der Vermeidung), dann kann das im schlimmsten Fall im Burnout münden, also einem Zusammenbruch meiner psychischen Funktionsfähigkeit.

Verdrängen ist ein Vorgang, der halbbewusst abläuft. Wir können die verdrängten Inhalte ins Bewusstsein hervorholen, wenn wir später mit ihnen konfrontiert werden – oder uns selbst damit konfrontieren. Wer ist nicht schon einmal rückblickend auf eine gescheiterte Beziehung oder einen Misserfolg in anderer Sache zu der selbstkritischen Einsicht gekommen: »Das hätte ich eigentlich verhindern können, wenn ich den Tatsachen eher ins Auge gesehen hätte!« In meinen Therapiegesprächen stelle ich häufig fest, dass Menschen »sehenden Auges« in ihr Unglück laufen. Wenn ich sie nämlich frage: »Wann haben Sie die ersten Anzeichen bemerkt, dass diese Beziehung schwierig werden könnte?«, so räumen die meisten ein, dass es sehr frühe Anzeichen gegeben habe. Man habe diese aber nicht wahrhaben wollen beziehungsweise sich der Hoffnung hingegeben, es würde schon besser werden. Um ihren Wunsch nach Bindung zu erfüllen, haben die Betroffenen also Hinweise ausgeblendet, dass das Liebesobjekt ihrer Wahl ihnen diesen Wunsch wahrscheinlich nicht erfüllen würde.

Bei der Abspaltung (Dissoziation) verdrängen wir die Inhalte nicht allein aus unserem Bewusstsein, sondern die Gefühle schalten sich sozusagen ab (siehe auch »Unsere Gefühle«). Dissoziationen kann man mit einem tranceähnlichen Zustand vergleichen: Der Körper macht irgendetwas und man ist mit dem Bewusstsein ganz woanders. Sogenannte Alltagstrancen kennt jeder, zum Beispiel beim Autofahren, wenn man sich am Ende der Strecke fragt: Wie bin ich eigentlich hier hingekommen? In so einem Fall kann man sich jedoch sofort wieder in das Hier und Jetzt zurückbeamen.

Anders verhält es sich mit Dissoziationen, die aus traumatischen Erfahrungen entstehen. Hier werden Gefühle abgespalten, die nicht auszuhalten sind. Es ist sozusagen wie ein Gefühls-Shutdown, der uns hilft das Unerträgliche zu überstehen. Viele Menschen, die ein Trauma überlebt haben, wie beispielsweise ein Gewaltverbrechen, berichten, dass sie ab einem gewissen Zeitpunkt quasi aus ihrem Körper herausgetreten seien.

Traumatische Erfahrungen können aber auch dazu führen, dass man nicht nur für den Moment, sondern grundsätzlich von seinen Gefühlen abgespalten ist und sein Leben im »Funktionsmodus« gestaltet. Das heißt, man funktioniert – teilweise sogar sehr gut – in seinem Alltagsleben, aber man hat dennoch kaum einen Zugang zu den eigenen Gefühlen. Dies ist öfter bei Menschen der Fall, die in ihrer Kindheit traumatischen Erfahrungen ausgesetzt waren. Der Unterschied zu Überangepassten, die häufig auch auf einem Funktionsmodus operieren, ist, dass diese den Kontakt zu ihren Gefühlen herstellen können, wenn sie ihren Gefühlen ihre Aufmerksamkeit widmen: Das geschieht meistens unter der Bedingung, dass kein potenzieller Erwartungsträger in der Nähe ist, sprich, wenn sie allein sind.

Traumatisierte können hingegen den Kontakt grundsätzlich schwer herstellen, selbst wenn sie es wollen. Wer übrigens tiefer in das Thema Trauma und Dissoziation einsteigen möchte, kann sich im Internet hierzu einen guten ersten Überblick verschaffen.

Generell stehen alle Abwehrmechanismen im Dienst eines oder mehrerer psychischer Grundbedürfnisse. Um unsere Grundbedürfnisse nach Bindung, Autonomie und Selbstwerterhöhung sicherzustellen, müssen einige Realitäten aus dem Bewusstsein ferngehalten werden. So ist das Verharren in einer dysfunktionalen beziehungsweise toxischen Beziehung die Folge einer starken Bindungssehnsucht und somit einer überhöhten Anpassungsbereitschaft der Betroffenen, wie ich es weiter oben bereits skizziert habe. Umgekehrt müssen wir, wenn wir für unsere Autonomie kämpfen wollen, unsere Bindungswünsche abwehren, die der Unabhängigkeit im Weg stehen könnten. Unser Grundbedürfnis nach Vermeidung von Unlustgefühlen respektive Erlangung von Lustgefühlen spielt bei der Abwehr immer eine Rolle: Die Abwehr zielt darauf aus, schmerzliche Gefühle vom Bewusstsein fernzuhalten. Wenn ich beispielsweise ein stark ausgeprägtes Bindungsbedürfnis habe, rede ich mir möglicherweise Angewohnheiten oder Verhaltensweisen meines Partners schön, die ich eigentlich als schwierig empfinde.

Fühle ich mich im Gegenteil durch eine Bindung in meinem Freiheitsbedürfnis bedroht und habe Angst, mich in einer nahen Beziehung zu verlieren, dann muss ich meine Liebesgefühle kleinhalten. Das funktioniert sehr gut über einen Abwehrmechanismus, der mich meinen Partner überaus kritisch beäugen und auf dessen Schwächen fokussieren lässt. Diese vermeintlichen Fehler meines Partners schrecken mich dann dermaßen ab, dass ich mich weniger stark gebunden fühle. Es gibt also Abwehrmechanismen, die bevorzugt unser Bindungsbedürfnis schützen, und solche, die in erster Linie unserem Bedürfnis nach Autonomie dienen. Beides ist eng verwoben mit unserem Selbstwertgefühl.